# taz.de -- Historiker zu Ostdeutschen und Migranten: „Blind für rassistisch… | |
> Patrice Poutrus kritisiert die Tendenz zu einer großen ostdeutschen | |
> Opfererzählung. Der Vergleich mit migrantischen Erfahrungen führe leicht | |
> dahin. | |
Bild: Im DDR-Alltag waren vor allem Vertragsarbeiter*innen, zum Beispiel aus Vi… | |
taz: Gegenwärtig ist es sehr populär in politischen und kulturellen | |
Debatten, Erfahrungen von „den Ostdeutschen“ zu thematisieren. Eine | |
Gemeinsamkeit dieser neuen Perspektiven auf Ostdeutsche scheint die | |
Verknüpfung der „Wende“ mit Unterdrückungs- und Diskriminierungserfahrung… | |
zu sein. Konstituiert sich dadurch auch eine problematische ostdeutsche | |
Identität? | |
Patrice Poutrus: Zunächst vielleicht ein Beispiel: In den Berliner | |
Reinbeckhallen werden unter dem Titel [1][„Die Ostdeutschen“ Fotografien | |
von Roger Melis] gezeigt. Mich irritiert dieser Titel fürchterlich, denn | |
bis auf ein paar Bilder der Einheitsfeier am Ende der Ausstellung werden da | |
meines Erachtens keine Fotos von „Ostdeutschen“ gezeigt. Die DDR-Bürger – | |
und das wäre mein Argument – [2][waren vor der „Wende“ keine | |
„Ostdeutschen“] beziehungsweise verstanden sich nicht als solche. Diese | |
Identifizierung entstand erst im Kontrast – sowohl zu „den Westdeutschen“, | |
aber genauso zu den eigenen Westdeutschlanderfahrungen nach dem Mauerfall | |
von 1989. Erst in Auseinandersetzung mit einer sich verändernden und auch | |
erweiternden Umwelt entstand überhaupt so etwas wie eine ostdeutsche | |
Identität. Wenn man also auch von „den Ostdeutschen“ spricht und damit die | |
ehemaligen DDR-Bürger meint, dann ist das zumindest historisch | |
undifferenziert. Eine konkrete Erfahrung wird künstlich in die | |
Vergangenheit verlängert. | |
Doch hier fangen für mich die Probleme mit „der ostdeutschen Identität“ | |
erst an. Wie absurd diese Konstruktion werden kann, wird klar, wenn man | |
sich beispielsweise die Forderung nach einer Ostdeutschen-Quote anschaut. | |
Die mehr oder minder identitätsstiftenden Erfahrungen, die jemand in der | |
„Wende“ und vor allem danach gemacht hat, werden dabei zu einem wilden | |
Essenzialismus verkehrt. Wenn man eine solche Quote operationalisieren | |
wollte, dann entstehen dabei fast zwangsläufig Fragen nach Abstammung und | |
Herkunft, die sich trotz jeder noch so vermeintlich guten Intention | |
verselbstständigen. | |
Wie ist es aber jenseits des Essenzialismus um diese Erfahrungen bestellt? | |
Was halten Sie zum Beispiel von Naika Foroutans Idee, die Erfahrungen von | |
Ostdeutschen und Migrant*innen zu vergleichen? | |
Am Migrationsargument von Foroutan ist schon was dran, aber nicht im Sinne | |
einer diskriminierten Minderheit, sondern insofern, als die Leute aus | |
Ostdeutschland mehrheitlich aus ihren Verhältnissen ausgewandert sind. Das | |
kann durchaus ähnliche Gefühle wecken wie bei Leuten, die in Folge ihrer | |
Migration Diskriminierung ausgesetzt sind. Und natürlich lassen sich solche | |
Erfahrungen auch zu einer gezielten ostdeutschen Identität kultivieren. Bei | |
einer oberflächlichen Parallelisierung dieser Erfahrungen mit jenen von | |
Migrant*innen besteht aber die Gefahr, das Spezifische der jeweiligen | |
Erfahrungen zugunsten einer großen Opfererzählung zu verdecken. Als | |
Migrant*innen Opfer von Rassismus oder Ausländerfeindlichkeit zu werden, | |
ist schließlich eine andere Erfahrung als die eines politischen und | |
sozialen Umbruchs, der gern auch friedliche Revolution genannt wird. | |
Besonders absurd wird diese Parallelisierung für mich dann, wenn aus einer | |
vermeintlichen allgemeinen Diskriminierungserfahrung „der Ostdeutschen“ | |
rassistische Übergriffe von „Ostdeutschen“ auf Migrant*innen erklärt | |
werden sollen. | |
Gegenwärtig ist diese Erklärung rassistischer Gewalt, durch vermeintliche | |
eigene Diskriminierungserfahrungen, stark im Kommen. [3][Jana Hensel denkt | |
in ihrer Zeit-Kolumne] darüber nach, dass sich die Pogrome in | |
Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda aus der Erniedrigung der Ostdeutschen | |
erklären lassen könnten. | |
Das Problem ist für mich an diesem Punkt, dass so die rassistischen Motive | |
der Täter*innen völlig aus dem Blick geraten. Dabei wird so getan, als sei | |
der demonstrierte Rassismus eine Art Reflex auf Konflikte, die durch die | |
„Wende“ und die deutsche Einheit entstanden seien. So enthebt man die | |
Täter*innen aus jeglicher individueller Verantwortung für ihre Handlungen. | |
In diesem Zusammenhang verwundert es im Übrigen nicht, dass | |
Untersuchungsergebnisse über rassistische Gewalttaten und entsprechende | |
Vorurteilsstrukturen in der DDR von vielen Ostdeutschen brüsk abgelehnt | |
bzw. als unwahr zurückgewiesen werden, da diese den angenommenen | |
Opferstatus letztlich infrage stellen. Diese Untersuchungen zeigen, dass | |
die einfachen DDR-Bürger*innen lange vor 1989 rassistische Täter*innen sein | |
konnten. Wie [4][1975 in Erfurt konnte es zu pogromartigen Ausschreitungen] | |
unter der Aufsicht des SED-Staates kommen. | |
Wie schätzen Sie die Forderung nach einer postkolonialen Perspektive auf | |
die „Wende“ ein? | |
Die Verkürzung dieser Perspektive auf einen vermeintlichen westdeutschen | |
Kolonialismus in Ostdeutschland schlägt meiner Meinung nach in dieselbe | |
Kerbe. Dabei wird der Begriff Kolonialismus völlig dekontextualisiert. Es | |
wird behauptet, „die Ostdeutschen“ wären quasi von den westdeutschen | |
Kolonisatoren unterworfen worden. Solche Behauptungen ließen sich in den | |
meisten Fällen widerlegen, doch um einen systematischen Vergleich geht es | |
dabei gar nicht. Es wird ausgelassen, dass die deutsche Einheit ganz | |
wesentlich von ostdeutscher Seite herbeigeführt und forciert wurde. Vor | |
allem werden die tatsächlichen Härten der dann folgenden Transformation | |
gleichgesetzt mit Unterdrückungspraktiken, wie beispielsweise Sklaverei und | |
Völkermorde, was schlicht grotesk ist. Aber es wird der aus diesen | |
Menschheitsverbrechen abgeleitete pathetische Vorwurf eins zu eins | |
übernommen, um eigene Geltungsansprüche zu legitimieren. Das eigene | |
Profitieren von postkolonialen Strukturen wird schlicht verschwiegen und | |
ins Gegenteil verkehrt. | |
Ist also ein positiver Bezug auf eine ostdeutsche Identität überhaupt | |
möglich? | |
Ja, für mich ist das schon möglich. Das Problem ist aber die | |
Vereinheitlichung und Verabsolutierung dieser Identität. Wenn so getan | |
wird, als wäre man ausschließlich „Ostdeutsche*r“ und könne dadurch | |
bestimmte Handlungen erklären. Dann betrachtet man Menschen nicht mehr als | |
Individuen und auch nicht mehr als handlungsfähig beziehungsweise | |
Verantwortung tragend. Ich bin doch nicht nur Ostdeutscher, ich bin auch | |
ein mittelalter Akademiker, ich habe durch meine Väter einen | |
Migrationshintern (sic), ich bin Sohn, Liebhaber, Vater und Großvater, ich | |
bin Alba- und Union-Fan und so weiter. Das sind alles Beschreibungen meiner | |
Person, die aber für sich allein noch gar nichts erklären und auf die ich | |
keineswegs zu reduzieren bin. Natürlich gibt es etwas, das Ostdeutsche mal | |
mehr und mal weniger teilen. Gerade in der Distinktionserfahrung nach der | |
„Wende“ liegt auch etwas, das zu einer verbindenden ostdeutschen Identität | |
kultiviert werden konnte. Zum Problem aber wird, wenn diese geteilten | |
Erfahrungen zu etwas Unhintergehbarem, zu etwas meine ganze Person | |
Bestimmenden erhoben werden sollen. Das klingt für mich nach völkischer | |
Schicksalsgemeinschaft – „Ostdeutschsein“ als unentrinnbare Bestimmung. | |
Auch wenn Leute wie Jana Hensel mit der Betonung einer ostdeutschen | |
Identität gute Absichten verbinden mögen, kommen sie in dieses | |
essenzialistische Fahrwasser, wenn sie mit dieser Identität eine | |
Kampfposition und Ansprüche verknüpfen. Die gemeinsame Identität soll dann | |
eine Bewegung formieren, die diesen Ansprüchen den entsprechenden Nachdruck | |
verleiht. Und diese Ansprüche sind eben nicht allein aus | |
Deklassierungserfahrungen nach der „Wende“ zu erklären. Ganz entscheidend | |
schwingt darin ein Entlastungsbedürfnis mit. | |
Was für eine Entlastung findet hier statt? | |
Ich würde verschiedene Momente der Entlastung sehen. Einmal ermöglicht die | |
Identifizierung mit der angebotenen ostdeutschen Identität, der eigenen | |
Verantwortung in einer vergangenen wie der gegenwärtigen Situation zu | |
entfliehen, die an allen Ecken und Enden als überfordernd wahrgenommen | |
wurde und wohl auch noch wird. Zudem reduziert die mit dieser Identität | |
verknüpfte Erzählung die Komplexität der Situation auf einfache Schemata, | |
in denen man sich gern als Opfer verortet. So trifft einen dann auch keine | |
„Schuld“ für den weiteren Verlauf des Transformationsprozesses nach der | |
„Wende“ und insbesondere für den virulenten Rassismus im heutigen | |
Ostdeutschland. Fast schon könnte man sagen, dass Ostdeutsche so guten | |
Gewissens Rassist sein dürfen, weil die „Wende“ und der „Westen“ habe … | |
ja dazu gemacht. So wird dann auch der NSU nicht wirklich erklärt, aber | |
sehr wohl gerechtfertigt. Auch erinnert mich diese Form eines ostdeutschen | |
Sonderbewusstseins fatal an Erzählungen aus den Südstaaten der USA. Dort | |
diente und dient die angebliche Aggression des Nordens und die tatsächlich | |
gewaltsam herbeigeführte Zerstörung der alten Sklavenhaltergesellschaft bis | |
in die unmittelbare Gegenwart bei weiten Teilen der Gesellschaft zur | |
Rechtfertigung von Gewalt und Rassismus. An diese Form der Identität konnte | |
Donald Trump sehr erfolgreich appellieren, und dies erklärt nach meiner | |
Auffassung auch den Erfolg der AfD in Ostdeutschland. | |
Das [5][Interview wurde für das „Forum demokratische Kultur und | |
zeitgenössische Kunst“] geführt, wo auch eine Langfassung präsentiert wird. | |
21 Jul 2019 | |
## LINKS | |
[1] http://www.reinbeckhallen.de/kunst-und-kulturprogramm/ausstellungen/detail/… | |
[2] /Essay-zum-Gebiet-der-ehemaligen-DDR/!5607631 | |
[3] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-05/ostdeutschland-erfahrungen-… | |
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Ausschreitungen_in_Erfurt_1975 | |
[5] https://www.forum-dcca.eu/das-klingt-nach-v%C3%B6lkischer-schicksalsgemeins… | |
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Leon Kahane | |
Fabian Bechtle | |
Jonas Balzer | |
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