| # taz.de -- Tag der Deutschen Einheit: Akutmaßnahmen reichen nicht | |
| > Bis heute liegt eine große Distanz zwischen Ost- und Westdeutschland. | |
| > Nötig wäre ein anderer, wertschätzender Blick auf den Osten. | |
| Bild: Alle Jahre wieder: Politprominenz am 3. Oktober, diesmal im Erfurter Dom | |
| Diese Ossis mal wieder – zu doof zur Demokratie. [1][Der aktuelle Bericht | |
| des Ostbeauftragten Carsten Schneider] scheint alle Voruteile über „den | |
| Osten“ zu bestätigen: Die Distanz zum demokratischen System wächst gerade | |
| hier; nur noch 39 Prozent der Ostdeutschen sind mit der Demokratie, wie sie | |
| in Deutschland funktioniert, zufrieden. Im Westen sind es immerhin noch | |
| knapp 60 Prozent. Der Anteil derer, die die Wissenschaftler:innen als | |
| „verdrossene Populisten“ charakterisieren, ist im Osten mit über einem | |
| Drittel doppelt so hoch wie im Westen. | |
| Und das spiegelt sich ja auch in den Umfragewerten der AfD wider, die in | |
| zwei Bundesländern derzeit den meisten Zuspruch hat und in einem gleichauf | |
| mit der Regierungspartei liegt. Aber das ist nur die eine Seite. Öffentlich | |
| weniger thematisiert wird die Distanz des Westens zum Osten. Das zeigt sich | |
| im Kleinen – so war jeder fünfte Westdeutsche noch nie im Osten, umgekehrt | |
| waren nur 7 Prozent der Ostdeutschen noch nie im Westen. | |
| Das zeigt sich aber auch im Großen: [2][Kein einziges Dax-Unternehmen hat | |
| seinen Sitz im Osten], hier werden nach wie vor niedrigere Löhne gezahlt, | |
| die Menschen haben weniger Rücklagen und kaum Vermögen, und der politische | |
| Wille zum Ausgleich hält sich in Grenzen. Eine Erbschaftssteuerreform oder | |
| eine Vermögenssteuer sind nicht in Sicht. | |
| Diese Distanz gegenüber dem Osten hat historische Gründe, sie hat viel mit | |
| dem Prozess der Wiedervereinigung zu tun, die ein Beitritt ohne Augenhöhe | |
| war. Sie hat aber auch mit einem bis heute anhaltende Desinteresse quer | |
| durch die Bevölkerung und die großen politischen Parteien für den Osten zu | |
| tun. Was interessiere ihn Thüringen mit seinen 2 Millionen Einwohnern, | |
| sagte einmal der Ministerpräsident eines bevölkerungsreichen | |
| Westbundeslandes. Kein Wunder, dass sich Menschen im Osten mehrheitlich als | |
| Menschen zweiter Klasse behandelt fühlen. | |
| ## Gegen Russland-Sanktionen | |
| Die schwelende Unzufriedenheit im Osten wird vor allem dann wahrgenommen, | |
| [3][wenn sie auflodert und gefährlich zu werden droht]. Wenn die AfD | |
| Wahlerfolge verzeichnet oder, wie aktuell, auf der Welle der sinkenden | |
| Zustimmung zur Politik der Bundesregierung gegenüber Russland reitet. Nur | |
| noch eine Minderheit der Ostdeutschen unterstützt die Sanktionen. | |
| Es ist wichtig, gerade für die Stimmung im Osten, dass die Bundesregierung | |
| nun einen Schutzschirm aufspannt, um die Energiepreise abzufedern. Reiner | |
| Haseloff, der CDU-Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, mahnte vergangene | |
| Woche sogar, dass er ohne einen schnellen Energiepreisdeckel die Existenz | |
| der freiheitlich-demokratischen Grundordnung bedroht sehe. Das sind | |
| deutliche Warnungen. | |
| Aber Akutmaßnahmen reichen nicht aus. Notwendig ist auch ein anderer, | |
| wertschätzender Blick auf Ostdeutschland und damit eine andere Politik für | |
| den Osten. Der Bericht des Ostbeauftragten setzt da übrigens neue Maßstäbe. | |
| Im ersten Teil, auf gut 80 der 150 Seiten, lässt er Menschen aus dem Osten | |
| zu Wort kommen, die nicht larmoyant, sondern selbstbewusst, stolz, kritisch | |
| und voller Hoffnung auf diesen Teil Deutschlands blicken. | |
| Es lohnt sich, beim Lesen damit anzufangen. | |
| 3 Oct 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Anna Lehmann | |
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