| # taz.de -- Verkehrsplaner über Mobilitätsgesetz: „In Berlin hilft nur Phys… | |
| > Stefan Lehmkühler von Changing Cities geht die Umsetzung des | |
| > Mobilitätsgesetzes nach einem Jahr „viel, viel zu langsam“ – von | |
| > „Straßenmalerei“ hält er wenig. | |
| Bild: Stefan Lehmkühler, ganz links, bei einer Aktion von Changing Cities 2017… | |
| taz: Herr Lehmkühler, das Mobilitätsgesetz wird ein Jahr alt, es schreibt | |
| unter anderem die „Vision Zero“ fest – das Ziel, dass niemand mehr im | |
| Straßenverkehr stirbt. Lässt sich so viel Sicherheit verordnen? | |
| Stefan Lehmkühler: Eins ist klar, Unfälle passieren auch, weil Leute zu | |
| bequem sind oder rücksichtslos. Gerade in Berlin denkst du ja manchmal, du | |
| bist in einer Welt, in der es nur darum geht, schneller zu sein und an | |
| anderen vorbeizukommen. Da werden rote Ampeln überfahren, da wird auf den | |
| Ecken geparkt, sodass Fußgänger nicht sicher über die Straße kommen, | |
| Lieferdienste parken, wo sie wollen, das ist hier alles ganz normal | |
| Radfahrer, die in hohem Tempo auf Gehwegen fahren … | |
| Natürlich! Um es mal deutlich zu sagen: Das ist die gleiche Art Arschloch | |
| wie bei den Autofahrern, nur mit dem Unterschied, dass sie nicht mit 2,5 | |
| Tonnen Gewicht unterwegs sind. So gesehen wird es immer Unfälle geben. Aber | |
| sich wie die Berliner Unfallkommission hinzustellen und zu sagen: „Kann man | |
| nix machen, ist halt das tägliche Chaos“, ist nicht zielführend. Paragraf | |
| 21 des Mobilitätsgesetzes ist eindeutig: Nach tödlichen Unfällen heißt es | |
| untersuchen, Abhilfe schaffen, Sofortmaßnahmen einleiten. Bislang kommt da | |
| nur raus: „Da war ein Unfall.“ Wenn wir dann fragen: Was folgt jetzt, wird | |
| die Kreuzung umgebaut, trennt ihr die Ampelphasen, heißt es meistens: | |
| „Wissen wir nicht. Haben wir noch nie gehabt.“ Das kann es nicht sein! Wir | |
| haben aber die Hoffnung, dass es jetzt langsam besser wird, da | |
| Senatsverwaltung für Verkehr sensibler geworden ist. | |
| Ein paar Umbauten gab es aber doch, oder? | |
| Na ja, in der Kolonnenstraße wurde der Radstreifen rot markiert. Aber | |
| Straßenmalereien bringen bekanntlich gar nichts, nach zwei Wochen sind die | |
| ohnehin komplett abgefahren. Jetzt stehen da Leitboys, kleine Poller. Und | |
| ist der Verkehr zusammengebrochen? Nein, Überraschung, es funktioniert! | |
| Eine andere Möglichkeit ist die zeitliche Trennung per Ampelschaltung, bei | |
| der die motorisierten Rechtsabbieger zeitlich versetzt von den geradeaus | |
| fahrenden Radfahrern und den Fußgängern abbiegen. Das soll jetzt an der | |
| Karl-Marx-Allee kommen. | |
| Das gesetzliche Sicherheitsversprechen wird also kaum eingelöst. Woran | |
| fehlt es denn, am Willen oder an Ressourcen? | |
| Ach was, Ressourcen. Ich glaube, es ist einfach Desinteresse. Das ist | |
| Verwaltung im wahrsten Sinne des Wortes. Verwaltung soll regelmäßige | |
| Prozessabläufe garantieren, die auf definierten Regeln beruhen. Punkt. Die | |
| Entscheidungsspielräume werden auf der obersten Ebene definiert, und da | |
| muss die Verkehrsverwaltung jetzt möglichst bald liefern. Es fehlt noch an | |
| den „Ausführungsvorschriften Geh- und Radwege“. Da hieß es 2017, die wür… | |
| gleichzeitig mit dem Mobilitätsgesetz fertig. Jetzt kommt die Vorgabe | |
| vielleicht im Frühjahr 2020. | |
| Und bis dahin tut sich einfach nichts? | |
| Bis dahin sagen die Bezirksverwaltungen: Gesetz ist Gesetz, aber wir als | |
| Bezirk halten uns an die Ausführungsvorschriften, und das sind halt noch | |
| die alten. | |
| Auch das Planungspersonal in den Bezirken ist noch nicht fertig aufgebaut. | |
| Im Vergleich zum Land oder Bund zahlen die Bezirke schlecht. Wie groß sind | |
| da die Chancen, jemand Qualifiziertes zu bekommen, der sich für die neue | |
| Verkehrsplanung interessiert? In der Hauptverwaltung ist man dagegen auf | |
| einem guten Weg, auch bei der landeseigenen Gesellschaft Infravelo. Wenn | |
| man sich mit deren Geschäftsführern unterhält und sich den Planungsstand | |
| bei den Radschnellwegen anschaut, bekommt man den Eindruck: Das kann | |
| funktionieren. Da arbeiten eben relativ viele Leute, da werden Einzelne | |
| nicht so schnell abgeschliffen. Anders ist es, wenn du als Planerin mit | |
| Mitte zwanzig in eine Struktur kommst, die seit Jahren durch Sparzwänge und | |
| Frustration geprägt ist. Da gilt das Prinzip Hawischisog. | |
| Was soll das denn sein? | |
| Das Prinzip „Haben wir schon immer so gemacht“. Dann bist du nach | |
| anderthalb Jahren durch und selbst frustriert, vielleicht dauerkrank. | |
| Deshalb stellt sich schon die Frage, ob es Sinn macht, noch mehr Aspekte, | |
| etwa die Planung des Radnetzes, auf die Landesebene hochzuziehen. | |
| Liefert denn die Spitze der Verwaltung? | |
| Positiv überrascht bin ich vom neuen Verkehrsstaatssekretär Ingmar Streese. | |
| Sein Vorgänger Jens-Holger Kirchner hatte auch viele eigene Ideen, aber | |
| Herr Streese hört zu, und wenn Vorschläge gut begründet sind, kann er sie | |
| auch übernehmen. Und die Senatorin will ich jetzt auch mal loben: Regine | |
| Günther hat sich vor den CDU-Mittelstandskongress gestellt und gesagt: Wir | |
| müssen dahin kommen, dass alle Berliner ohne Auto leben können. Das ist | |
| genau der richtige Ansatz. Vernünftig war auch, dass sie den | |
| Planungs-Schwerpunkt bislang auf den ÖPNV-Ausbau gelegt hat, weil der | |
| einfach länger dauert. | |
| Wo geht es zu langsam? | |
| Beim Radwegenetz gibt es schon seit Oktober eine detaillierte Vorlage von | |
| ADFC, BUND, VCD und Changing Cities. Aber der Senat lässt jetzt ein | |
| Planungsbüro ein eigenes Netz entwerfen, das bis Ende des Jahres fertig | |
| sein soll. Aber wenn da 30 Menschen, die seit Jahren vor Ort aktiv sind – | |
| ich meine jetzt uns, die Verbände –, zehn Monate lang daran arbeiten und | |
| konzipieren, dann würde ich erwarten, dass das, was da rauskommt, von einem | |
| Planungsbüro, das sich ein halbes Jahr damit beschäftigt, nicht so einfach | |
| zu toppen ist. Das Radnetz sollte schon ein Jahr nach Inkrafttreten des | |
| Gesetzes da sein, aber die Verantwortlichen haben nicht früh genug | |
| angefangen und sind mit zu wenig Ressourcen reingegangen. Jetzt einfach mal | |
| so aus dem Zeitplan rausrutschen, das geht nicht, das ist kein solides | |
| Projektmanagement. | |
| Und nun? | |
| Noch mal: Wenn man in Sachen Verkehrssicherheit, aber auch Klimaschutz | |
| schnell etwas hinkriegen will, dann geht das beim Ausbau der | |
| Radverkehrsinfrastruktur. Schauen Sie mal, die mittlere Distanz der Wege in | |
| Berlin beträgt 6,5 Kilometer. Davon ist man auf dem Rad doch nicht | |
| überfordert. Die Leute haben einfach Angst, das Rad zu nehmen! Wir brauchen | |
| sichere Wege, auf denen sie auch ihr Kind fahren lassen würden. | |
| Bei der Infrastruktur materialisiert sich jetzt schon ein bisschen was. Es | |
| gibt eine Handvoll Protected Bike Lanes, Radstreifen werden grün eingefärbt | |
| … | |
| Das geht viel, viel zu langsam voran. Und diese Straßenmalereien bringen | |
| gar nichts, alle jüngeren Studien sagen, das ist ineffiziente Symbolik. Wir | |
| haben es in der Gitschiner ja gesehen: Da haben die Autofahrer gedacht, | |
| „Oh, so ein hübscher Parkstreifen“, und ihre Kisten draufgestellt. Hinzu | |
| kommt, dass die Preise fürs Falschparken viel zu gering sind. Ein Ticket | |
| für 20 Euro ist einfach Quatsch. Das muss auf der Bundesebene geändert | |
| werden. | |
| Was hilft denn gegen zugeparkte Radstreifen? | |
| Physik. In Berlin hilft nur Physik. Ein drei Millimeter hoher Strich, der | |
| auf die Straße gemalt wird, hilft definitiv nicht. Poller halte ich als | |
| erste Nothilfe für sachgerecht, es sieht trotzdem nicht gut aus, da muss es | |
| einfach etwas Besseres geben. Aus unserer Sicht sind das baulich getrennte | |
| Radwege, letztendlich Hochbordwege. | |
| Die Kopenhagener Lösung? | |
| Oder die niederländische, je nachdem. Man kann sich ja noch überlegen, wie | |
| man es genau macht, auch um die Gefahr des Doorings zu vermeiden. Wir sagen | |
| schon lange: Tauscht doch einfach Radweg und Parkstreifen! Der | |
| Schutzstreifen für die Radfahrenden liegt dann außerhalb des fließenden | |
| Verkehrs. Oder schafft Linsen an Kreuzungen, das sind mittlerweile | |
| weltweite Standards, da kann niemand sagen, so was kriegen wir nicht hin. | |
| Linsen? | |
| Kleine, linsenförmige Baukörper an den Kreuzungsecken, die Radfahrenden | |
| bewegen sich dahinter, die im Auto müssen in einem engeren Winkel außenrum | |
| fahren, was auch ihre Geschwindigkeit senkt. In Berlin mit seinen riesigen | |
| Kreuzungen sollte das kein Problem sein. An z.B. der Todeskreuzung | |
| Karl-Marx-Allee/Otto-Braun-Straße ist Platz ohne Ende. | |
| Das Mobilitätsgesetz sieht ausreichend breite Radwege oder -streifen vor. | |
| Das muss allerdings erst noch in konkrete Maße übersetzt werden. | |
| Richtig, in Gesetze schreibt man eben keine Maße rein, da gibt es nur | |
| generelle Definitionen: Die Breite muss etwa sicheres Überholen | |
| gewährleisten. Wir gehen vom Fall „Radfahrerin überholt Lastenrad“ aus, d… | |
| macht eine notwendige Breite von 2,30 Meter. Wenn das der Regelfall ist, | |
| haben wir eine gute Basis. Die Verbände sind auch an der Erarbeitung dieser | |
| Vorgaben beteiligt. | |
| Mit solchen Vorgaben werden künftig jede Menge Flächenkonflikte entstehen. | |
| Weil wir hier gerade an der Friedrichstraße sitzen: Wie soll der denn hier | |
| gelöst werden, so eng, wie die nun mal ist? | |
| Also das ist hier ja nun völlig einfach. Schauen Sie, die AG City West als | |
| Interessenvertretung von Gewerbetreibenden denkt über eine | |
| Verkehrsberuhigung an Tauentzien und Ku'damm bis hin zur Fußgängerzone nach | |
| – weil die Leute zwar heute alles Mögliche online bestellen, aber trotzdem | |
| gerne shoppen gehen, wenn die Bedingungen stimmen. Hier auf der | |
| Friedrichstraße tun sie das nun leider gar nicht; hier ist es laut und | |
| dreckig und im Sommer auch noch stickig und heiß. Es gibt Leerstand ohne | |
| Ende, viele Läden sind in die privatisierte Fußgängerzone namens Mall of | |
| Berlin abgewandert … | |
| Meinen Sie jetzt, Sie wollen den Autoverkehr ganz verbannen? | |
| Ja klar, weil er hier überwiegend Durchgangsverkehr ist und einfach zu viel | |
| Platz wegnimmt. Daran verdient niemand! Wir haben dazu schon ein Konzept | |
| entwickelt und alles kartiert. Die ganze Logistik kann über die | |
| Nebenstraßen abgewickelt werden, Parkplätze gibt es mehr als genug in den | |
| Parkhäusern und Tiefgaragen. | |
| Es gibt also noch reichlich zu tun. Und wie ist jetzt Ihr Fazit nach einem | |
| Jahr Mobilitätsgesetz? Könnte schlimmer sein? Oder besser? | |
| Könnte besser sein. Nein: Es müsste besser sein, aber es könnte schlimmer | |
| sein. Ich glaube, dass die Perspektive eigentlich ganz gut ist, so wie wir | |
| aufgestellt sind und mit unseren Ansprechpartnern in der Senatsverwaltung. | |
| Mit denen kann man ja durchaus reden. Unseren Zielen sind wir alle nicht | |
| gerecht geworden, das muss man sagen. Dass das Mobilitätsgesetz an den | |
| Start gebracht wurde, finde ich weiterhin großartig. Wir sind ja die, die | |
| es angeschoben haben, auch wenn es heute viele für sich reklamieren. | |
| 28 Jun 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Claudius Prößer | |
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