# taz.de -- Gesetz für Fußverkehr: Wie geht's denn so? | |
> Der erste Entwurf eines Berliner Fußverkehr-Gesetzes steht. Die | |
> beteiligten Verbände loben den Aufschlag, finden das Ganze aber nicht | |
> konkret genug. | |
Bild: Sollen sich auch deutlich vermehren: Zebrastreifen | |
Wenn Sie weder geh- noch sehbehindert sein sollten, haben Sie sich dann | |
schon mal Gedanken darüber gemacht, welches Konfliktpotenzial in Berliner | |
Bordsteinkanten steckt? Vermutlich nicht. Menschen mit diesen | |
unterschiedlichen Beeinträchtigungen haben aber auch unterschiedliche | |
Anforderungen an die Begrenzung von Gehwegen zur Straße hin: Wer im | |
Rollstuhl sitzt, braucht idealerweise eine komplett abgesenkte Kante, wer | |
sich mithilfe eines Stocks orientiert, ist auf ertastbare Grenzen | |
angewiesen. | |
Das Fußverkehr-Kapitel des Mobilitätsgesetzes soll – neben vielen anderen | |
Punkten – diesen Konflikt auflösen. Der 16-seitige Referentenentwurf, der | |
am Donnerstagabend dem Berliner Mobilitätsrat vorgestellt wurde, sieht vor, | |
dass Bordsteinkanten künftig abgesenkt, aber „taktil“ markiert werden, also | |
durch Elemente mit einer Reliefoberfläche, ähnlich denen auf U- und | |
S-Bahnsteigen. Besserer Fußverkehr bedeutet eben auch wachsende | |
Barrierefreiheit. | |
Verkehrssenatorin Regine Günther (parteilos, für die Grünen) sagte am | |
Donnerstag, mit dem neuen Abschnitt des Mobilitätsgesetzes setze Berlin | |
„deutschlandweit Standards für die Förderung des umweltfreundlichen und | |
gesunden Fußverkehrs“. Das Zu-Fuß-Gehen werde mit ihm „endlich als | |
gleichberechtigter Teil der Mobilität neu positioniert und aufgewertet“. In | |
Kraft treten soll der Abschnitt nach dem Zeitplan der Senatsverwaltung im | |
ersten Quartal 2020. Vorher muss er noch bis Mai die sogenannte | |
Verbändebeteiligung bestehen sowie im Anschluss den Weg durch Senat und | |
Abgeordnetenhaus machen. | |
Übergeordnetes Ziel laut Gesetzentwurf: Menschen sollen „befähigt“ und | |
„angeregt“ werden, „sowohl kurze als auch längere Strecken zu Fuß zu | |
bewältigen“, und ihre Ziele möglichst auf „direkten und zusammenhängenden | |
Wegen“ erreichen können. Deshalb ist ein wichtiger Punkt der Umbau von | |
Kreuzungen: Ampelanlagen sollen immer direkt an den Knotenpunkten platziert | |
sein, um FußgängerInnen Umwege zu ersparen, es soll mehr | |
Querungsmöglichkeiten – auch in Form von Zebrastreifen und | |
„Gehwegsvorstreckungen“ – geben, und die Grünphasen von Ampeln sollen so | |
programmiert sein, dass auch breite Straßen mit Mittelinsel in einem Rutsch | |
überquert werden können. | |
## Mehr Lotsen, weniger Autos | |
Weitere Punkte sind die Gewährleistung ausreichender Gehwegbreiten, die | |
Entschärfung von Konflikten mit dem Radverkehr, beispielsweise an | |
Bushaltestellen, oder die Förderung von Fußverkehr zur Schule, etwa durch | |
die Ausbildung von mehr Schülerlotsen. Und auch die Pausen werden | |
mitgedacht: Es sollen mehr Räume ohne oder mit möglichst wenig Autoverkehr | |
entstehen. | |
Fraglich ist, welche Durchsetzungskraft die neuen Paragraphen haben, in | |
denen viele „Soll“-Formulierungen enthalten sind. Konkretisiert werden sie | |
analog zum Radverkehr durch einen „Fußverkehrsplan“, der bauliche und | |
planerische Standards sowie Zeithorizonte festlegt. Garantieren sollen | |
seine Umsetzung neu zu schaffende Koordinierungsstellen für den Fußverkehr | |
in der Senatsverwaltung und allen Bezirksämtern sowie durch das | |
zivilgesellschaftliche Gremium „Mobilitätsrat“, der schon in der | |
einjährigen Erarbeitungsphase konsultiert wurde. | |
Stefan Lieb vom [1][Verein FUSS e. V.] saß zusammen mit VertreterInnen | |
anderer Verbände wie dem VCD, Changing Cities, dem Landesseniorenbeirat und | |
dem Blinden- und Sehbehindertenverein sowie VertreterInnen der Verwaltung | |
in der Dialoggruppe des Mobilitätsrats zum Fußverkehr. Gegenüber der taz | |
zieht er eine gemischte Bilanz: Dass es in absehbarer Zeit ein | |
Fußverkehrsgesetz gebe, sei schon etwas Besonderes in Deutschland – | |
allerdings bewege es sich auf einer „unkonkreten Metaebene“, konkrete | |
prozessuale Anweisungen und inhaltliche Vorgaben fehlten weitgehend. Der | |
Fußverkehrsplan werde das zwar ändern, aber bis der stehe, schreibe man | |
auch schon wieder das Jahr 2022: „Das ist kurz nach den nächsten Wahlen, da | |
muss sich dann zeigen, ob die künftige Senatsverwaltung an dieser Politik | |
festhält.“ | |
Der verkehrspolitische Sprecher der Grünen im Abgeordnetenhaus, Harald | |
Moritz, fand lobende Worte für den Entwurf: Er sei „ein weiterer Schritt in | |
die richtige Richtung zur Berliner Verkehrswende“. Die „Sicherheit vor | |
allem von schwächeren Verkehrsteilnehmer*innen“ stehe für die Koalition „… | |
erster Stelle“. Sein oppositioneller Kollege Henner Schmidt (FDP) begrüßte | |
die Regelungen zum sicheren und barrierefreien Queren von Kreuzungen, | |
kritisierte aber, der Entwurf mache für den Fußverkehr „im Gegensatz zum | |
Radverkehr keine quantitativen Vorgaben“. Typische Konflikte zwischen Rad- | |
und Fußverkehr, etwa an Haltestellen oder in Grünanlagen, würden „nur | |
erwähnt, aber nicht gelöst“. | |
## Kleine Wunderkiste | |
Auf Druck der Verbände in der Dialoggruppe ist eine kleine Wunderkiste in | |
den Entwurf aufgenommen worden: Paragraph 58 schreibt in den ersten fünf | |
Jahren nach Inkrafttreten zehn „relevante Projekte“ vor, mit denen der | |
Fußverkehr „wahrnehmbar verbessert“ wird. Laut Senatorin Günther können … | |
auch Experimente wie ein autofreier Tag oder die Umgestaltung von Straßen | |
sein. Mit einer solchen Umgestaltung zu „Begegnungszonen“ hat die | |
Verwaltung allerdings in den vergangenen Jahren eher schmerzliche | |
Erfahrungen gemacht: Die Prototypen in der Schöneberger Maaßenstraße und | |
der Kreuzberger Bergmannstraße stehen unter Dauerbeschuss von AnwohnerInnen | |
und Medien. | |
Hoffnung gibt es damit aber auch für das Projekt der „Autofreien Mitte“ | |
zwischen Friedrichstraße und Humboldt Forum, die das [2][Bündnis Stadt für | |
Menschen] propagiert. Wie die taz aus informierten Kreisen erfuhr, soll der | |
Senat auch schon angedeutet haben, dass man über eine Teilsperrung der | |
Friedrichstraße für den motorisierten Verkehr an den Wochenenden in den | |
Sommerferien nachdenken könne. | |
Laut Matthias Dittmer von „Stadt für Menschen“ ist das Bündnis über diese | |
Signale sehr erfreut. Es schlägt aber eine weitergehende Lösung vor: Die | |
Friedrichstraße solle zwischen Leipziger und Französischer Straße in der | |
ganzen letzten Woche der Sommerferien autofrei werden. Das sei ein weicher | |
Einstieg, so Dittmer, denn alle Parkhäuser und Tiefgaragen des umliegenden | |
Areals blieben erreichbar. „Wir rechnen aber damit, dass über kurz oder | |
lang auch die Gewerbetreibenden in der weiteren Umgebung darauf pochen, von | |
den Vorteilen der Autofreiheit profitieren zu können.“ | |
29 Mar 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.fuss-ev.de/ | |
[2] https://stadt-fuer-menschen.berlin/ | |
## AUTOREN | |
Claudius Prößer | |
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