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# taz.de -- Wie tickt die Berliner SPD-Basis?: Auf der Suche nach sich selbst
> Die Europawahl verschärfte die Krise der Sozialdemokraten. Eine
> Geschichte von der Basis in Spandau und aus dem Kurt-Schumacher-Haus.
Bild: SPD-Versammlung im Kladower Hof: Ulrike Sommer (vorn, Mitte) und Lars Rau…
Ein mittelalter Sozialdemokrat mit hellrosa Hemd und zurückgegelten Haaren
sitzt mit knapp anderthalb Dutzend Genossen im Kladower Hof und wütet –
über die Sozialdemokratie.
Es gab Taten der SPD, die heute als historische Fehler gelten, vor allem
dann, wenn es darum geht, den gegenwärtigen Zustand der Partei zu
analysieren. Auf Bundesebene kommt dann in der Regel die Hartz-IV-Reform
zur Sprache. In Berlin ist es die Privatisierung von Wohnungen in den
2000er-Jahren unter einem damals regierenden rot-roten Senat. Mit Verweis
auf die Haushaltslage verkaufte dieser 2004 [1][die städtische
Wohnungsbaugesellschaft GSW] – deren Wohnungen gehören heute der Deutsche
Wohnen. Das Verscherbeln der GSW bildet aber nur die Spitze des Eisbergs:
Von den im Jahr 2000 knapp 400.000 in öffentlichem Besitz befindlichen
Wohnungen waren sieben Jahre später noch 260.000 übrig.
In der Parteispitze der [2][Berliner SPD] muss man mit dieser Geschichte
leben. Und man gibt sich Mühe, sie irgendwie hinter sich zu lassen. Aber
was denkt die Basis? Und weshalb wird das Wählerpotenzial der Partei immer
kleiner? Denn genau darauf deuten gegenwärtige Umfrageergebnisse von 15
oder 16 Prozent (je nach Meinungsforschungsinstitut) hin.
Der Sozialdemokrat, der schimpft, nimmt an der Sitzung der 11. Abteilung im
Kreisverband Spandau, [3][in der Abteilung Gatow/Kladow] teil. Die
„Abteilungen“ der Berliner SPD bilden sozusagen ihre Ortsvereine, also die
Basis der Partei in der Hauptstadt. Im Hinterzimmer des Gasthofs sitzen die
Genossen in U-förmiger Sitzordnung an Tischen mit weißen und roten
Tischdecken, über ihnen hängen eingerahmte Urkunden. Sie diskutieren gerade
über den ersten von drei Tagesordnungspunkten: „Enteignung und
Mietendeckel: Wie geht es weiter in der Berliner Wohnungspolitik“. Nur ein
paar Stunden zuvor hatte der Berliner Senat die Eckpunkte des Mietendeckels
beschlossen.
## Wieso nicht ausprobieren?
Die Frage, wie die Lage auf dem Berliner Wohnungsmarkt am besten zu
entschärfen ist, deckt sich im Kladower Hof fast mit der Frage, wie die SPD
zu alter Kraft wiederfinden kann. An diesem Abend dauert diese Diskussion
bei der Abteilungssitzung jedenfalls am längsten.
Ulrike Sommer ist die Abteilungsleiterin und hat Lars Rauchfuß, den
SPD-Kreisvorsitzenden von Tempelhof-Schöneberg, eingeladen, der über das
Thema referiert. Rauchfuß findet den Mietendeckel gut. Das ist auch mehr
oder weniger Konsens in der Runde. Das mit dem Enteignungsvolksbegehren
sieht der adrett aussehende und strukturiert sprechende blonde Mann in
weißem Hemd skeptischer, er will die Möglichkeit, zu enteignen, aber nicht
einfach ausschließen. Wieso nicht ausprobieren? lautet seine Devise.
Einen anderen Sozi, den jüngsten in dieser Runde hier im äußersten Westen
Berlins, empört die Idee, dass irgendjemand enteignet werden soll. Er sagt:
„Konzerne enteignen ist doch ein Ausdruck von Hilflosigkeit!“ Andere in der
Runde fragen: Mit welchem Geld soll die Stadt die Wohnungen überhaupt
kaufen?
Der Genosse im rosa Hemd, der wütet, sagt lauter als die anderen: „Wer hat
euch denn gesagt, ihr sollt überhaupt anfangen, Geschäfte zu machen? Mit
Volkseigentum? Keiner. Ihr habt keine Berechtigung, irgendwelches
Volkseigentum zu verkaufen. Habt ihr aber gemacht. Und jetzt kommt ihr mit
Enteignung, zur Hochzeit der Immobilienpreise. Zu welchen Preisen wollt ihr
denn eigentlich zurückkaufen?“
## „Ein linker Landesverband“
Wenn er über die historischen Fehler der SPD, auch der Berliner SPD
spricht, dann adressiert er seinen Einwand an die Kreisvorsitzende Sommer
und auch an den Genossen Rauchfuß, den Kreisvorsitzenden aus
Tempelhof-Schöneberg. Er sagt dann immerzu: Ihr habt …, ihr seid …, ihr
denkt … – die Kreisvorsitzende Sommer unterbricht ihn, ob er nicht „wir“
meine. Der Mann ist schließlich Mitglied der SPD.
Ein Sozialdemokrat, der bei einer Abteilungssitzung – da, wo die Basis
zusammenkommt und diskutiert – über die SPD wütet, als würde er selbst
nicht zu ihr gehören: Was sagt das über diese Partei aus?
Die Sozialdemokraten sind auf der Suche nach sich selbst. Auch die Berliner
SPD. Vielleicht gerade sie, weil die Berliner SPD in der Hauptstadt mit
zwei linken Parteien regiert und sich an ihnen messen lassen muss.
Vielleicht, weil sie in Berlin gerade eine reale Chance hätte, sich auf
ihre Ursprünge zu besinnen und die Herausforderung, das Gesagte auch
umzusetzen, für sie viel greifbarer ist als für die Bundespartei, die seit
geraumer Zeit mit Konservativen grokoisiert.
Die Berliner SPD sei „ein linker Landesverband“, sagt [4][Annika Klose],
[5][die Berliner Landesvorsitzende der Jusos], im Interview mit der taz.
Vielleicht ist das gerade das gegenwärtiges Problem der SPD? Jedenfalls
drängt die Suche nach der Europawahl gerade auch in Berlin sehr: Bundesweit
konnte die SPD nur 15,8 Prozent der Wähler für sich gewinnen, sie verlor
gut 12 Prozentpunkte. In Berlin fiel das Ergebnis der SPD noch schlechter
aus: 14 Prozent.
## Der richtige Weg aus dem Strudel
Der richtige Weg aus dem Strudel, der die Partei immer mehr in die
Bedeutungslosigkeit spült, ist umkämpft. Während die einen auf eine
radikale Rückbesinnung auf das Sozialdemokratische setzen – was auch immer
das ist –, wollen die anderen keine potenziellen Wähler verschrecken.
Jüngstes Beispiel: Einen Tag bevor der Berliner Senat die Eckpunkte zum
Mietendeckel aus dem Hause der Bausenatorin Katrin Lompscher (Linke)
beschließt – ein Beschluss, der als sicher gilt –, macht die Nachricht die
Runde, dass ausgerechnet der sozialdemokratische Chef der Senatskanzlei,
Christian Gaebler, der Mann, der das Büro des Regierenden Bürgermeisters
Michael Müller schmeißt, doch noch an dem Papier rumformuliere, weitere
Prüfungen in die Wege leiten wolle … Und die Eckpunkte möglicherweise doch
nicht beschlossen, sondern nur zur Kenntnis genommen werden könnten.
Schließlich wird das Eckpunktepapier mit geringfügigen Änderungen doch noch
angenommen.
Dabei kam der Vorschlag zum Mietendeckel ursprünglich aus der Berliner SPD,
unter anderem von dem stellvertretenden Berliner Landesvorsitzenden Julian
Zado und von Eva Högl, der direkt gewählten SPD-Bundestagsabgeordneten aus
Mitte, die die Debatte im Januar mit einem Gastbeitrag im Tagesspiegel ins
Rollen gebracht hatten.
Was heißt es, wenn sich der Berliner Vorsitzende der Sozialdemokraten
anschickt, ein Projekt – im wohnungsnotgeplagten Berlin gar ein
Prestigeprojekt wie den Mietendeckel –, zu kippen, das von den eigenen
Leuten, anderen Sozialdemokraten, in die Wege geleitet wurde? Ein Ereignis,
das beispiel- und symbolhafter für die Unentschiedenheit einer Partei nicht
sein könnte.
## Große Frage nach der Zukunft
Im Kladower Hof serviert derweil eine Kellnerin in hohem Alter eine
Bockwurst mit Senf und einer halben Scheibe Toastbrot. Und die Spandauer
Genossen diskutieren mal in sachlich-nüchternem Tonfall, mal mit
leidenschaftlichen Brandreden weiter. Fließend geht die Debatte nun auch
offiziell von der Stadtentwicklungspolitik zur großen Frage nach der
Zukunft der SPD über.
Genossin Sommer sagt, die Sozialdemokraten müssten öffentlich über ihre
Fehler sprechen, um wieder Glaubwürdigkeit beim Wähler zu gewinnen. Helmut
Kleebank, der Bezirksbürgermeister von Spandau, entgegnet, man dürfe sich
selbst jetzt nicht dauernd öffentlich mit Fehlern aus alten Zeiten geißeln.
In dieser Frage kommt man in Spandau auf keinen gemeinsamen Nenner.
Rund 24 Kilometer nordöstlich von hier, im Kurt-Schumacher-Haus im Wedding,
dem Sitz des Berliner Landesverbands der SPD, ist auch [6][die Abteilung 16
der SPD Berlin-Mitte zu Hause, die Abteilung mit dem Namen „Grünes
Dreieck“]. Das denkmalgeschützte Haus in der Müllerstraße ist ein
architektonisches Resultat der Nachkriegsmoderne, die Parteibuchstaben, die
an der Fassade prangen, und auch die Fahnen, die an dem Gebäude wehen,
machen im lebendigen Wedding einen eher altbackenen Eindruck.
Doch der Blick von außen kann täuschen. Innen, im Konferenzraum im ersten
Stockwerk, dessen Wände abstrakte Kunst schmückt, sitzen gleich sechs junge
Sozialdemokraten am Tisch. Der älteste ist 35 Jahre alt, die jüngste 19.
## Lauter junge Akademiker
Was motiviert diese jungen Menschen, allesamt Akademiker, sich in einer
Partei zu engagieren, die in den letzten Jahren vor allem im Zusammenhang
mit ihrem Untergang genannt wird?
Leon Sixt, 27 Jahre alt, forscht über künstliche Intelligenz und ist erst
vor einem Jahr in die Partei eingetreten. Als Grund dafür, dass er mit
Ende zwanzig in eine Partei und dann auch noch in die SPD eingetreten ist,
nennt er die „Grundwerte der SPD“.
Was sind diese Grundwerte? Sixt geht kurz in sich und sagt dann:
„Solidarität und Gleichheit“. Er sagt, er möchte mit seinem Spezialwissen
einen Beitrag zu diesen Werten leisten. Die Arbeit verändere sich mit der
Digitalisierung, und diese Veränderung solle gerecht gestaltet werden.
Die Motive in der Runde sind ganz unterschiedlich, aber speziell. Hier geht
es kaum um die Geschichte der SPD, um Fehler der Vergangenheit oder große
Fragen, sondern um konkrete Handlungen, die das Leben ein bisschen besser
machen.
## Mit 29 schon 15 Jahre in der SPD
Benjamin Vrucak (35) ist Beisitzer der Abteilung und engagiert sich in
einem Projekt für die politische Mitbestimmung von Geflüchteten. Konkret
heißt das, dass er Workshops für Geflüchtete organisiert, in denen Wissen
über das politische System in Deutschland vermittelt wird. Vrucak ist
zugleich verantwortlich für die AG Migration in der Abteilung.
Vera Weidmann (27) ist seit vier Jahren Parteimitglied und Mitarbeiterin im
Bundestagsbüro von Katarina Barley. Sie berichtet vom „Loser-Moment“ nach
der Wahlniederlage 2017, die Martin Schulz der SPD eingebrockt habe und die
man irgendwie nicht abschütteln konnte. Sie berichtet von
gentrifizierungsbedingten Herausforderungen im Kiez.
Alles Themen, die gegenwärtig großen Raum und Bedeutung im
gesellschaftlichen Diskurs einnehmen. Wenn ihre Basis sich so intensiv,
proaktiv, praktisch mit ihnen auseinandersetzt, sollte die Partei doch in
der öffentlichen Wahrnehmung davon profitieren. Warum tut sie das nicht?
Moritz Fessler (29) ist derjenige in der Runde, der am längsten in der
Partei ist: 15 Jahre. Er ist auch stellvertretender Vorsitzender der
Abteilung „Grünes Dreieck“, er interessiert sich für Europapolitik, forsc…
in der Universität darüber und organisiert zusammen mit zwei Genossen die
Veranstaltungsreihe „Internationales im Kiez“, in der europapolitische
Themen diskutiert werden unter Titeln wie etwa „Der lange Weg nach Westen?
Polen zwischen Nationalstaat und EU“.
## Irgendwie der Wurm drin
Fessler sagt „Die Partei trifft derzeit das Lebensgefühl der Menschen
nicht“. Er erzählt von „thematischen Konjunkturen“, von denen die Grünen
bei der Europawahl profitiert hätten, weil das Thema der Stunde die
Klimakrise sei.
Die Problemanalyse im Kurt-Schumacher-Haus geht weiter. Aus dem Gespräch
der jungen Sozialdemokraten geht auch hervor: Die SPD ist inhaltlich
eigentlich ganz cool. Man leidet zwar ein bisschen unter der eigenen
Geschichte, aber irgendwie ist gerade auch der Wurm drin. Der Wurm: vor
allem ein Kommunikationsproblem – oder eben ein Marketingproblem. Über
Personal und Parteispitze will hier dagegen niemand sprechen.
Manchmal kommt Unmut gegenüber den Grünen zum Vorschein. „Die sind doch
alle weiß und Mehrheitsgesellschaft“, sagt Vrucak von der AG Migration.
Aber auch er kommt auf das Kommunikationsproblem zurück. Vrucak sagt: „Die
Grünen sind gerade kommunizerbarer als wir.“
Die sozialdemokratische Unsicherheit in der Kommunikation spürt man auch in
dieser Runde: Fessler, der um Seriosität und Souveränität bemühte
stellvertretende Vorsitzende, versucht das Gespräch zu lenken, beschwert
sich über Journalisten, die zur Basis gingen, nur um dann einen Text über
die angeblichen Gräben zwischen ihnen und der Parteiführung zu schreiben.
Ein paarmal lachen Einzelne in der Runde, wenn das Wort „Basis“ fällt –
dann hat man das Gefühl, dass sich die sozialdemokratische Basis im Wedding
selbst irgendwie nicht ganz ernst nehmen kann.
29 Jun 2019
## LINKS
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/GSW_Immobilien
[2] http://www.spd.berlin/
[3] http://www.spd-spandau.de/spd-spandau/abteilungen-ortsvereine/gatow-kladow/
[4] https://www.spd.berlin/partei/personen-a-z/personen-g-l/klose-annika/
[5] https://www.jusosberlin.de/
[6] https://www.spd-gruenes-dreieck.de/
## AUTOREN
Volkan Ağar
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