| # taz.de -- Leïla Slimanis Debütroman: Entgrenzte Sexualität | |
| > Der Roman „All das zu verlieren“ reiht sich ein in eine Vielzahl von | |
| > Büchern, in denen Autorinnen über Promiskuität und Körperlichkeit | |
| > schreiben. | |
| Bild: Lust an Grenzüberschreitungen: Leïla Slimani | |
| Erotisches Begehren und sexuelle Vorlieben sind der Intimität der | |
| Privatsphäre zugeordnet, auch deswegen hat Literatur, die von Sex erzählt, | |
| das Potenzial zu schockieren, denn dieser Bereich ist mit zahlreichen | |
| Normen und Tabus belegt. Weibliche Sexualität wird zudem von einem Geflecht | |
| sexistischer Unterdrückung und asymmetrischer Machtverhältnisse | |
| beeinflusst, weswegen bereits die Aneignung dieses Themas durch Autorinnen, | |
| der Versuch, eigene Erzählungen und Perspektiven zu formulieren, als | |
| feministische Geste gedeutet werden kann. Es heißt, das Private sei | |
| politisch, doch nicht jeder Roman über das Private ist gleich ein | |
| emanzipatives Meisterwerk. | |
| Fünf Jahre nach der Erstveröffentlichung in Frankreich ist nun der | |
| Debütroman der französisch-marokkanischen Schriftstellerin Leïla Slimani | |
| mit dem Titel „All das zu verlieren“ im Luchterhand Verlag erschienen. Im | |
| Zentrum steht das Pariser Doppelleben der Journalistin Adèle. Ihre | |
| bürgerliche Ehe mit einem erfolgreichen Arzt und einem kleinen Sohn ist so | |
| beengend, dass sie Zuflucht in außerehelichen Affären sucht. | |
| „Sie erinnert sich an nichts Genaues, doch Männer sind die einzigen | |
| Bezugspunkte ihres Daseins. Zu jeder Jahreszeit, jedem Geburtstag, jedem | |
| Ereignis in ihrem Leben gehört ein Liebhaber mit verschwommenen Zügen. Ihr | |
| Vergessen ist durchzogen von dem beruhigenden Gefühl, im Verlangen der | |
| anderen tausendfach gelebt zu haben.“ Fieberhaft auf der Suche, eine innere | |
| Leere zu füllen, eskaliert Adèles Sexsucht, das komplexe Lügengebäude droht | |
| einzustürzen. | |
| Slimanis Roman ist nicht das einzige aktuelle Buch einer Autorin, das | |
| freizügig und mit großer Lust an Grenzüberschreitung das Thema Sex | |
| literarisch behandelt. Die Erfolgserzählung „Cat Person“ von Kristen | |
| Roupenian, in der die Graubereiche einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs | |
| ausgelotet werden, erschien in einem Erzählungsband gleichen Titels bei | |
| Blumenbar. | |
| Matthes & Seitz schickten ein Autorinnenduo mit dem urbanen Analsexreigen | |
| „M“ ins Rennen, und die Frankfurter Verlagsanstalt veröffentlichte den | |
| Debütroman von Corinna T. Sievers über eine erotomanische Zahnärztin. | |
| ## Folgen von MeToo | |
| Auch international war dieses Phänomen in den letzten Jahren bemerkbar: | |
| Sally Rooney, Melissa Broder, Saskia Vogel und Sophie Mackintosh schrieben | |
| über Sex, Körperlichkeit, Gewalt und Unterwerfung. Es liegt nahe, die | |
| Häufung von Literatur mit diesem Themenkomplex als Zeichen feministischer | |
| Selbstthematisierung in Folge der MeToo-Debatte von 2017 zu deuten. | |
| Sprachlich und inhaltlich werden mit teilweise extrem gewaltvollen | |
| Schilderungen von nicht immer klar einvernehmlichem Sex viele Fragen | |
| aufgeworfen: Wo beginnt und endet das Einvernehmen? Wie prägen | |
| Machtverhältnisse den Geschlechtsakt? Wie lassen sich Gewalt und Sex | |
| voneinander abgrenzen? | |
| Diese Themen sind jedoch nicht erst seit 2017 in der Literatur zu finden, | |
| schon um die Jahrtausendwende befassten sich Romane mit | |
| grenzüberschreitender weiblicher Sexualität und Körperlichkeit – von | |
| Menstruationsblut bis zur Analfissur. Von Charlotte Roche in Deutschland zu | |
| Catherine Millet und Virginie Despentes in Frankreich haben Autorinnen | |
| bereits vor MeToo mit Schockeffekten weibliche Sexualität thematisiert, | |
| auch Slimanis Debüt erschien bereits 2014. | |
| Der Roman ist somit Teil eines Trends – und er verfehlt doch das Ziel einer | |
| emanzipativen Erzählung. Die Anhäufung drastischer Sexszenen, die Gewalt | |
| und die jegliche bürgerliche Moral missachtende Protagonistin in „All das | |
| zu verlieren“ sind als Romanthema nicht so innovativ und feministisch, wie | |
| die Rezeption des Romans suggeriert. Es ist ein Kurzschluss anzunehmen, | |
| dass drastisches Erzählen von Sex durch Autorinnen per se feministisch sei. | |
| Die literarische Perspektive von Autorinnen auf Erotik, Begehren und Sex | |
| ist historisch eng verknüpft mit der Geschichte der Emanzipation der Frau. | |
| Bereits während der ersten großen Welle der Frauenbewegung, in der zweiten | |
| Hälfte 19. Jahrhunderts, wurden neben dem Kampf für ein Wahlrecht auch | |
| Debatten über die sexuelle Freiheit der Frau geführt, und in der Literatur | |
| schlugen sie sich nieder. | |
| ## Schluss mit der Doppelmoral | |
| Die skandinavische Öffentlichkeit diskutierte beispielsweise das anonym | |
| veröffentliche Buch eines englischen Arztes, der den weiblichen Sexualtrieb | |
| als ebenso groß wie den männlichen bezeichnete. In der Folge forderte die | |
| eine Seite ein Ende der Doppelmoral – für Männer sollten in Zukunft gleiche | |
| moralische Normen gelten wie für Frauen –, und die andere Seite strebte | |
| eine kollektive sexuelle Befreiung an. Die Vorstellung einer madonnenhaft | |
| unschuldigen Weiblichkeit geriet ins Wanken, und Autorinnen griffen dieses | |
| Thema gerne auf. | |
| Ab den 70er Jahren, zur Hochphase der zweiten Welle des Feminismus, wurden | |
| zahlreiche Bücher von Autorinnen veröffentlicht, die mit großem | |
| Markterfolg die Möglichkeiten literarischer Erotik ausloteten. 1977 | |
| erschienen erstmalig Anaïs Nins erotische Kurzgeschichten unter dem Titel | |
| „Das Delta der Venus“, die bereits in den 1940er Jahren verfasst worden | |
| waren, und der 1988 veröffentlichte erotische Bestseller „Salz auf unserer | |
| Haut“ der französischen Autorin Benoîte Groult war mit dezidiert | |
| feministischem Anspruch geschrieben. | |
| Ebenfalls in dieser Zeit begannen Autorinnen, wie Elfriede Jelinek oder | |
| Mary Gaitskill, sich mit den sprachlichen und inhaltlichen Möglichkeiten | |
| von Tabubruch und Gewalt im Schreiben über Sex auseinanderzusetzen. | |
| ## Quellen der Unfreiheit | |
| Slimanis Roman befindet sich also in guter Gesellschaft, eine Vielzahl an | |
| Vorgängertexten hat sich mit dem emanzipativen Potenzial von Sex als | |
| literarischem Thema befasst und dabei den Bruch von Tabus in Kauf genommen. | |
| Im Zentrum von „All das zu verlieren“ steht jedoch nicht Sex als | |
| emanzipative Möglichkeit, sondern als endloses Erforschen von | |
| Machtverhältnissen. Über ihre Hauptfigur Adèle schreibt Slimani: „Sie | |
| verstand rasch, dass das Begehren keine Rolle spielte. Sie hatte kein | |
| Verlangen nach den Männern, denen sie sich näherte. Ihr ging es nicht um | |
| die Körper, sondern um die Situation. Genommen werden.“ | |
| Trotz der vielen Vorläuferinnen sind die zwei sehr deutlich markierten | |
| literarischen Bezüge in Slimanis Werk von Männern verfasst: Gustave | |
| Flauberts „Madame Bovary“ und Milan Kunderas „Die unerträgliche | |
| Leichtigkeit des Seins“. Die Referenzen auf Flaubert sind inhaltlich | |
| begründet: Adèle lässt sich guten Gewissens, wie auch bereits vielerorts | |
| angemerkt, als eine moderne Madame Bovary bezeichnen, auch wenn sie in | |
| Slimanis Variante nicht an romantischer Sehnsucht und Langeweile zugrunde | |
| geht, sondern an ihrer Sexsucht. | |
| Die Anspielungen auf Kundera sind hingegen explizit, ein Zitat aus seinem | |
| Roman ist Slimanis Buch vorangestellt, und auch im Text wird sein | |
| bekanntestes Werk thematisiert. Kunderas Figur Tomas gibt sich wie Slimanis | |
| Adèle zahlreichen Affären hin, hier wird die sexuelle Promiskuität des | |
| Protagonisten nach dem Prager Frühling jedoch zu einer Möglichkeit | |
| individueller Freiheit in einem totalitären Regime. | |
| Bei Slimani liegt wiederum die Quelle der Unfreiheit in den | |
| Geschlechterverhältnissen, den erstickenden Anforderungen von Mutterschaft | |
| und den ermüdenden bürgerlichen Erwartungen an die Frau, die sowohl im | |
| privaten als auch im öffentlichen Raum weder Sicherheit noch Freiheit | |
| erleben kann. Dieser prekären Situation stellt Adèle ihre Sexsucht | |
| entgegen: „Die Erotik bemäntelte alles. Sie verbarg die Trivialität, die | |
| Nichtigkeit der Dinge.“ Doch trotz des Begehrens der Männer und auch trotz | |
| des bewusst gesuchten Risikos kann sie ihren Objektstatus nicht abschütteln | |
| oder ihre Ängste vor körperlichen Übergriffen und Vergewaltigungen | |
| überwinden. | |
| Slimanis Erzählung von pathologischem Sex als Metapher für pathologische | |
| Strukturen könnte innovativ und voller kritischen Potenzials sein, würde | |
| dieser Ansatz nicht durch die raunende Psychologisierung der Hauptfigur | |
| permanent unterlaufen. Adèles schlimme Kindheit ist wiederholt Thema von | |
| Rückblicken, und ihre innere Leere lässt sie beinahe psychopathisch wirken. | |
| Der Roman bestätigt so leider indirekt das konservativ-bürgerliche | |
| Weltbild, das den Ausgangsrahmen der Erzählung bildet. Denn eine nicht den | |
| Normen der Mehrheitsgesellschaft entsprechende Sexualität wird so als | |
| Symptom psychischer Krankheit lesbar und nicht als Metapher für einen | |
| scheiternden Versuch der Selbstbefreiung. So bleiben die emanzipativen | |
| Möglichkeiten des weiblichen Schreibens über grenzüberschreitende | |
| Sexualität in der Ausführung dieses Romans leider hinter der guten Idee | |
| zurück. | |
| 9 Jun 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Berit Glanz | |
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