# taz.de -- Roman zur Start-up-Kultur: Beta und die Tinder-Dates | |
> Virtuelle Schnitzeljagd: Berit Glanz’ Romandebüt „Pixeltänzer“ über | |
> gegenwärtige digitale Arbeits- und Freizeitwelten. | |
Bild: Berit Glanz rechnet damit, dass ihre Leser_innen googeln: „Toboggan-Fra… | |
Beta, eigentlich Elisabeth, arbeitet in einem Berliner Start-up. Ihr | |
Arbeitsalltag besteht aus Anglizismen: Pitches und Benchmarks, | |
Team-Building und Feedback, Superfood-Snacks und Cold-Brew-Kaffee und in | |
den Pausen Kicker oder Flipper. Aufwachen mit einer App, Speeddating nach | |
Feierabend. Das ist, wenn man so will, der „Pixel“-Teil von Berit Glanz’ | |
Romandebüt „Pixeltänzer“: eine genaue Betrachtung der Start-up-Kultur, mit | |
ihren Arbeitsexzessen und sozialen Ritualen, den vorgeblich flachen | |
Hierarchien und tatsächlichen Zwängen. | |
Die Literaturwissenschaftlerin Glanz entwirft ein glaubhaftes Tech-Milieu, | |
ihre implizite Kritik an Elementen der digital beschleunigten Gegenwart ist | |
so zutreffend wie erwartbar: die Sektenführer-Slogans größenwahnsinnger | |
Tech-Unternehmer, die Kosten-Nutzen-Rechnungen von Tinder-Dates, der | |
totalitäre Überwachungsapparat. #WorkHardPlayHard, und alles ist Play, und | |
alles ist Work. | |
Allein die ständige Selbstdarstellung in sozialen Medien: Ein Ausflug der | |
Ich-Erzählerin Beta in die brandenburgische Provinz muss das Posten von | |
Spreewaldfahrt-Fotos samt lustigem Hashtag beinhalten, das Diktat sozialer | |
Medien schreibt vor, alles nach außen zu tragen. Wenn Beta in den Urlaub | |
fährt, ohne Fotos zu posten, ist sie dann überhaupt in den Urlaub gefahren? | |
So viel zu der zeitdiagnostischen Kritik. Richtig gut wird Glanz’ Buch, als | |
der „Tänzer“-Teil von „Pixeltänzer“ beginnt. Die Aufwach-App, die Beta | |
benutzt, funktioniert nämlich so, dass man einen Weckanruf von einer | |
fremden Person erhält. Beta wird eines Morgens von einem Mann angerufen, | |
der sich Toboggan nennt und dessen Profilbild eine seltsame Figur in | |
Ganzkörpermaske zeigt. | |
Sie unterhalten sich über das alte Atari-Spiel „Pitfall!“ und das rennende | |
Männchen Harry und den Todessound, der erklingt, wenn der Treibsand Harry | |
verschlingt. Schon ist ihr Gespräch vorbei. Toboggan aber geht Beta nicht | |
mehr aus dem Kopf. Genauso wenig wie das Maskenwesen auf seinem Profilbild. | |
Sie macht sich auf die Suche nach beiden. | |
## Schwere, seltsame Ganzkörpermasken | |
Eine virtuelle Schnitzeljagd beginnt, eine Online-Schatzsuche, in der Glanz | |
von der wunderbaren Seite des Internets erzählt, von den endlosen | |
Möglichkeiten zur Vertiefung und Bildung, dem Internet nicht als einem | |
traurigen Schattenspiegel der Realität, sondern als wertvollem Teil dieser, | |
dem Internet nicht als isolierendem Medium, sondern, im Gegenteil, als | |
verbindendem. Im Quellcode von Betas Blog versteckt Toboggan Texte, auf die | |
Beta ihrerseits mit neuen Blogeinträgen antwortet – die Links sind im Buch | |
übrigens abgedruckt, man kann als Leser an der Schnitzeljagd teilnehmen. | |
Toboggans Texte sind fiktive biografische Skizzen des avantgardistischen | |
Künstlerpaars Lavinia Schulz und Walter Holdt, das während der frühen Tage | |
der Weimarer Republik an seiner kompromisslosen Kunst zugrunde gegangen | |
ist. Sie haben das denkbar Radikalste gemacht, Kunst, die wahrscheinlich | |
selbst Adorno als Kunst hätte durchgehen lassen, Gegenstände ohne | |
Tauschwert nämlich, schwere, seltsame Ganzkörpermasken, die später auf | |
Toboggans Profilbild abgebildet sein werden, dort zu einer Maske in der | |
Maske werdend. | |
An der Unverwertbarkeit ihrer Kunstobjekte, der vorsätzlichen | |
Unmöglichkeit, sie zu einer Ware werden zu lassen, brachen Schulz und Holdt | |
zusammen, kamen nicht über die Runden, ihr Leben endete in einer Tragödie. | |
Der Werde- und Niedergang des Paares lässt sich bei Wikipedia nachlesen, | |
schließlich hat Glanz sich für reale Figuren entschieden, und damit, dass | |
man während des Lesens im Internet recherchiert, wird Glanz gerechnet haben | |
– Beta schlägt selbstständig bei Wikipedia nach, was ihr so Interessantes | |
begegnet, Toboggans Erzählungen füllen also Wikipedias Lücken mit Leben, | |
runden die Eckdaten mit Dialogen und Gedanken ab. | |
## Die „Pixel“- und die „Tänzer“-Teile | |
Am Ende des Romans verbindet Glanz die „Pixel“- und „Tänzer“-Teile auf | |
unerwartete, sehr gelungene Weise. Das lange verstorbene Künstlerpaar wird | |
Beta zu einem Akt der Dissidenz inspirieren, einem Ausbruchsversuch aus dem | |
totalitären Überwachungsapparat, und was da genau passiert, soll hier | |
selbstverständlich nicht vorweggenommen werden, nur so viel: Vor dem | |
Hintergrund, dass die Protestierenden in Hongkong gerade die automatische | |
Gesichtserkennung der chinesischen Behörden zu überlisten versuchen, mutet | |
„Pixeltänzer“ wie ein besonders relevanter Beitrag zum Genre des | |
quasidystopischen Gegenwartsromans an. | |
„Pixeltänzer“ ist zudem ein gut geschriebenes, stilistisch einwandfreies | |
Buch mit offenkundiger Freude an der Sprache. Etwa so beschreibt Glanz, | |
verkatert und auf nüchternen Magen einen Apfel zu essen: „Zumindest löst | |
die Restsäure, die das schrumpelige Fruchtfleisch noch enthält, den | |
pelzigen Film auf meinen Zähnen auf.“ | |
12 Aug 2019 | |
## AUTOREN | |
Jan Jekal | |
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