| # taz.de -- Roman „Schönes Neues England“: Großbritannien nach dem Update | |
| > In „Schönes Neues England“ entwirft Sam Byers ein Brexit-Szenario. Vor | |
| > allem erzählt er vom Einfluss großer Tech-Konzerne auf unser Leben. | |
| Bild: Büroszene, Ort unbekannt, 2018 | |
| Noch Mitte der fünfziger Jahre wurden die Gefahren atomarer Strahlung in | |
| US-amerikanischen Warnfilmen verharmlost: SchülerInnen wären im Falle eines | |
| nuklearen Angriffs sicher, wenn sie nur unter die Tische im Klassenzimmer | |
| kriechen: „Duck and Cover“. Selbst nach den Atombombenabwürfen auf | |
| Hiroshima und Nagasaki war der propagandistische Umgang mit Radioaktivität | |
| von Sorglosigkeit geprägt. | |
| Durchaus vergleichbar ist dies heute beim Umgang mit den Auswirkungen von | |
| Überwachungstechnologie in den sozialen Medien. Für viele User der | |
| digitalen Sphäre verläuft die Informatisierung ihres Alltags gedankenlos. | |
| Sie glauben, ihre [1][Online-Präsenz] habe nichts mit ihrem Offline-Leben | |
| zu tun! | |
| Eine Tatsache, die „Schönes Neues England“ verhandelt, ein dystopischer | |
| Roman des britischen Autors Sam Byers. Kaum ein Phänomen der digitalen | |
| Lebenswelt, das er ausspart: laxe Passwörter, Online-Shaming, | |
| Hysterisierung im Falle von Breaking News. | |
| Ein Außen ohne Netz droht in der nahen Zukunft, in der Byers’ Werk | |
| angesiedelt ist, zu verschwinden: „Leben besteht aus Daten … Es ist | |
| lediglich ein Informationskluster“, bekundet Bangstrom, ein sogenannter NTK | |
| (NeedToKnow), kurz für Strippenzieher, der in der Rangordnung eines | |
| Technologiekonzerns weit oben steht. | |
| Bangstrom arbeitet wie alle in der kleinen Stadt „Edmundsbury“, unweit von | |
| London gelegen und teils heruntergekommen, darum attraktiv für Investoren, | |
| weil man hippe Freelancer ansiedeln kann, die nicht direkt in der | |
| Hauptstadt leben möchten. Das geht jedoch zulasten der alten BewohnerInnen, | |
| von denen ein verwitweter Rentner namens Darkin exemplarisch als Habenichts | |
| (ohne Internetanschluss) in einer Messie-Mietwohnung porträtiert wird. | |
| ## Toxischer Cocktail | |
| Der Brexit ist bereits Geschichte. Offensichtlich ist er zugunsten der | |
| reaktionären Kräfte ausgegangen, wie man an dem tonangebenden | |
| populistischen Lokalpolitiker der Partei „England Always“, Hugo Bennington, | |
| nachvollziehen kann. | |
| Dieser verkörpert den toxischen Cocktail Allmacht plus | |
| Gute-alte-Zeit-Nostalgie: Druck übt Bennington vor allem durch seine | |
| Kolumnen in der Zeitung The Record aus, in denen er im Brustton der | |
| Überzeugung gegen alles wettert, was tolerant daherkommt: Political | |
| Correctness, nicht normative Familienverhältnisse, Einwanderer. | |
| Byers zeichnet ihn als zynischen Instinktpolitiker, der den ahnungslosen | |
| Darkin in seinen Kolumnen opfert, um ihm das rechtspopulistische Panoptikum | |
| vom schwachen Weißen einzuschreiben, der zugunsten der Einwanderer | |
| benachteiligt wird. Zu Darkins angeblichen Schutz engagiert er gar eine | |
| Schlägertruppe, die den einzigen verbliebenen hilfsbereiten Nachbarn | |
| verprügelt. | |
| Dem werden drei Freelancerinnen gegenübergestellt, Jess, Deepa und Trina, | |
| die im Umgang mit den elektronischen Lebensaspekten geschickter und | |
| vorsichtiger sind als ihre männlichen Kollegen. Auch auf der Seite des | |
| Progressiven sieht Byers genau hin und schreibt von der Fragmentarisierung | |
| linker Kräfte durch Identitätspolitik. | |
| ## Overachiever und Opportunist | |
| Comic Relief und beißenden britischen Spott gibt es reichlich: etwa in Form | |
| von Benningtons Assistenten Teddy Handler, der „Memo Skin Footwear“ trägt, | |
| in Fußform gegossenen Speichel, und ausschließlich fluoreszierende | |
| Flüssignahrung („Fibuh“) zu sich nimmt – ein Overachiever, Opportunist u… | |
| Online-Nickaugust. | |
| Ein bisschen erinnert das Kleinstadt-am-Rande-des-Ausnahmezustands-Szenario | |
| an den „Precogs“-Plot, in der [2][„Minority Report“-Geschichte von Phil… | |
| K. Dick]: LeserInnen ahnen, dass es gar so schlimm noch nicht gekommen ist, | |
| müssen aber weiterlesen, weil es eines Tages durchaus so kommen könnte. Das | |
| macht den Sog von „Schönes Neues England“ aus. Sam Byers hat den Roman | |
| 2015/16 verfasst und sich für sein Gesellschaftsszenario gar nicht so sehr | |
| in die Zukunft gebeamt, das Brexit-Chaos hatte sich bereits angekündigt. | |
| Fast alle Protagonisten arbeiten im Internet. Dementsprechend wichtig sind | |
| ihre Profile in den sozialen Medien. Pausenlos wird gescrollt und | |
| gegoogelt, werden Updates vorgenommen, Ereignisse mitgeteilt und Gegner | |
| gedemütigt. Die Gräben zwischen Internet und Privatsphäre sind | |
| zugeschüttet. Mehr noch, das Privatleben nimmt mehr und mehr virtuellen | |
| Charakter an. Misstrauen ist die Leitwährung. Das permanente Standby raubt | |
| Spontaneität, Freunde belauern sich, Pärchen kreieren Avatare, um jeweilige | |
| Partner auszuspionieren. Dieses Unbehagen stellt Byers in langen, manchmal | |
| ermüdenden Dialogen dar. Wobei sich die Geschwätzigkeit aushalten lässt, | |
| weil auch viele Einsichten zu finden sind. | |
| ## Zwang zum Anprangern | |
| In Edmundsbury geht die Angst um. Eine Gruppe namens Griefers droht damit, | |
| Chats, Fotos und andere Internetaktivitäten seiner Einwohner offenzulegen. | |
| Bennington will das den Linken in die Schuhe schieben. Paranoia wird | |
| epidemisch. | |
| Byers folgt in seiner pessimistischen Einschätzung vom erbärmlichen Zustand | |
| einer auf Grundrechten und zivilisatorischen Fortschritt beruhenden | |
| partizipativen Demokratie unter dem Einfluss großer Technologiekonzerne den | |
| Annahmen des Soziologen und Medientheoretikers Nathan Jurgenson. Dieser | |
| argumentiert, reales Leben und digitale Profile verschmelzen zunehmend zu | |
| einer Augmented Reality, einer erweiterten Wirklichkeit, deren verborgene | |
| Hierarchien und Abhängigkeiten noch nicht durchschaut sind. | |
| Der ständige Zwang zum Anprangern, aber auch das Einsickern von technischen | |
| Termini in die Privatsphäre und die Klickmonsterisierung von Meinungen sind | |
| toll beschrieben und lakonisch übersetzt von Clara Drechsler und Harald | |
| Hellmann. Byers zeichnet seine Figuren nicht einfach als „gut“ und „böse… | |
| sondern zeigt sie mit all ihren Makeln und ihrem Knowhow. Mehr als nur ein | |
| Brexitroman ist „Schönes Neues England“ auch ein Statement zur | |
| Social-Media-Allmacht und ihrer Nebenwirkungen. | |
| 26 Oct 2019 | |
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| Julian Weber | |
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