# taz.de -- Album von Grime-Produzent Swindle: Die harten Zeiten sind vorbei | |
> Brexitland ist abgebrannt: Das Album „No More Normal“ des Londoner | |
> Grime-Produzenten Swindle erzählt Stories aus dem erschöpften | |
> Großbritannien. | |
Egal mit wem man dieser Tage in Großbritannien redet, daran führt kein Weg | |
vorbei, bald kommt er zur Sprache: der drohende Brexit. So geschieht es | |
auch im Gespräch mit dem Londoner Grime-Produzenten Swindle: „Wo ich | |
politisch stehe? Ich hatte niemals eine Wahl“, sagt er unvermutet. „Meine | |
Herkunft ist afrokaribisch – meine Vorfahren gehören zur Windrush | |
Generation. Meine Partnerin ist eine niederländische EU-Bürgerin. Ich weiß, | |
auf welcher Seite ich stehe.“ | |
Aber was tut ein britischer Musiker, wenn um ihn herum der Neonationalismus | |
siebzig Jahre multikulturelle Konvivialität mit nur einer Volksabstimmung | |
zurückdrehen kann? Er nimmt ein Album auf. | |
„Wir sind bereit, für Pflichten und Fesseln zu sterben, die nicht so stark | |
sind wie das, was dich und mich verbindet“, rappt der Dub-Poet Rider | |
Shafique zu Beginn von „No More Normal“, dem dritten Album von Swindle. | |
„Meine Ausgangsidee war, ein Werk zu veröffentlichen, auf dem ich als | |
Grime-MC gleichberechtigt neben dem Dichter und der Soulsängerin stehe“, | |
sagt Swindle. Auf „No More Normal“ bringt er deshalb Musiker der | |
hochgelobten Londoner Jazzszene wie die Saxofonistin Nubya Garcia, den | |
vielfach talentierten Rapper Kojey Radical und Grime-MCs der ersten | |
Generation zusammen. | |
## Gemeinsam erzählter Künstlerroman | |
Gemeinsam erzählen sie in nur 33 Minuten einen Künstlerroman. „No More | |
Normal“ beginnt mit dem Wunsch, qua Musik die Welt zu verändern, erzählt | |
dann vom Stolpern über Geld und Arroganz. Und findet schließlich ein Happy | |
End: Der grind hat ein Ende, Gott sei Dank. | |
Aber im Mittelpunkt dieser Erzählung steht kein Individuum, sondern das | |
Netzwerk der afrokaribischen Musikszenen Londons: ihrer Hypes, ihrer | |
Eitelkeiten und ihrer sich immer wieder neu erfindenden Geschichten. „Wir | |
Londoner haben das Glück, diesem reichen Underground nahe zu sein“, sagt | |
Swindle. „Er reflektiert die verschiedenen Kulturen“, so meint er weiter, | |
„und schenkt uns pausenlos neue Ideen, neue Sounds und neue | |
Zusammenarbeit.“ | |
## Kind des Undergrounds | |
Swindle begreift sich selbst als ein Kind dieses Undergrounds. Er heißt | |
bürgerlich Cameron Palmer und stammt aus Croydon, dem Vorort im Süden | |
Londons, in dem Dubstep einst entstanden ist. Im Alter von acht Jahren | |
hört er das erste Mal einen Piratensender und stöbert in den Jazz- und | |
Funkplatten seines Vaters. Mit zwölf fängt er an, Drum ’n’ Bass aufzulege… | |
kurz darauf produziert er seine ersten Grime-Tracks. | |
„Musik war meine Videospieljugend“, erinnert er sich. Heute laufen Swindles | |
Stücke im Soundtrack von „Grand Theft Auto“, einer der bekanntesten | |
Videospielserien der Welt. Er selbst habe seit 15 Jahren kein Gamepad mehr | |
angefasst, sagt er. Dabei passt Swindles Signature-Sound perfekt zu jedem | |
Videospiel. Er moduliert Synthesizerläufe in freudenkreischende Höhen und | |
feuert sie schließlich in – pun intended – schwindelerregender | |
Geschwindigkeit ab. | |
Anfang dieses Jahrzehnts beherrschte sein neongreller Sound die Londoner | |
Dancefloors und erneuerte damit die Grime-Szene, bis sie vor zwei Jahren | |
so präsent war, dass selbst Labour-Chef Jeremy Corbyn, 69, nicht darum | |
herumkam, sich bei Wahlkampfauftritten mit Grime-Künstlern zu schmücken. | |
Womit er dann junge Wähler auf seine Seite zog. | |
## Abschalten in Hollywood | |
Auf „No More Normal“ hat Swindle die Hektik der Londoner Grime-Tracks in | |
den Hintergrund verwiesen – zugunsten einer präzisen Coolness, die ihren | |
Ursprung in Kalifornien hat. „Im Studio brauche ich einen leeren Kopf“, | |
erzählt er. „In Los Angeles kann ich in die Hollywood Hills fahren, mein | |
Telefon abschalten und aus mir heraustreten, wenn Musik läuft.“ | |
Dieser Eskapismus bedient sich aus einem stilsicheren Zeichenvorrat: | |
säuselnde Synthesizermelodien, ruppige Funkbässe. Selbst der Talkbox, | |
diesem clownesken Werkzeug für Roboterstimmen, räumt Swindle einen Platz in | |
der ersten Reihe ein. „No More Normal“ verwandelt das Los Angeles von | |
Westküsten-HipHop, von G-Funk und Lowrider-Autos in ein Arkadien. „Biggie, | |
2Pac and Aaliyah“, rappt der MC D Double E auf einem Stück im | |
afrobritischen Dialekt des Londoner East Ende. „Dem Days were de best | |
days.“ | |
„Meine Musik ist ernsthaft und glaubwürdig“, sagt Swindle, als ob ein | |
Widerspruch darin bestünde, über nostalgischen Beats wahrhaftige | |
Geschichten zu erzählen. „Read my books for ammunition“ – ein Buch als | |
Waffe –, fordert die Sängerin Eva Lazarus auf „Knowledge“, und um dieser | |
Forderung Nachdruck zu verleihen, hat Swindle sie in kosmisch kreiselnde | |
Keyboards und schwelgerischen Soulgesang eingebettet. | |
## Viel reden, nichts sagen | |
„Das Stück ist eine direkte Reaktion auf eine rassistische Äußerung eines | |
Politikers“, sagt Swindle. „Ich habe sie gelesen, mein Smartphone | |
ausgeschaltet und zu Eva gesagt: ‚Diese Leute reden viel, aber sie haben | |
nichts zu sagen.‘ “ „No More Normal“ reagiert mit einem scharfen | |
historischen Blick auf die aktuelle Lage. Während die Mehrheit in | |
Großbritannien sich zum Opfer europäischer Fremdbestimmung und der | |
Flüchtlinge im Kanaltunnel stilisiert, entdeckt Swindle den utopischen | |
Überschuss des Buches „Black Atlantic“, des kalifornischen Aussteigertums | |
und des sozialkritischen Conscious-Raps wieder. Es ist ein Gegenmodell zur | |
postkolonialen Melancholie, zum Sehnen nach alter imperialer Größe, deren | |
letzter Ausdruck der EU-Austritt des Vereinigten Königreichs ist. | |
Pünktlich zum Brexit-Showdown Ende März wird Swindle „Little England“ auf | |
jeden Fall hinter sich lassen. Dann geht er auf Europatour. | |
21 Jan 2019 | |
## AUTOREN | |
Christian Werthschulte | |
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