| # taz.de -- Unternehmer kritisieren Abschiebepraxis: Jede Hand wird benötigt | |
| > Überall im Land fehlen Arbeitskräfte – und doch werden viele Geflüchtete, | |
| > die einen Job haben, abgeschoben. Dagegen regt sich nun Widerstand. | |
| Bild: Gerade in der Pflege werden Mitarbeiter dringend gebraucht | |
| BERLIN taz | Als Farid Khan 2015 den Abschiebebeschluss bekam, arbeitete er | |
| als Pflegehelfer in Nürnberg. 2012 war er aus Afghanistan nach Deutschland | |
| geflohen, er hatte hier Asyl beantragt, Deutsch gelernt und sich einen Job | |
| gesucht. Zehn Monate arbeitete Khan in einem Nürnberger Krankenhaus – dann | |
| kam der gelbe Brief der bayerischen Ausländerbehörde: Innerhalb von zwei | |
| Wochen sollte Khan das Land verlassen. | |
| Khan, dessen richtiger Name aus Sicherheitsgründen nicht in der Zeitung | |
| stehen soll, tauchte unter. Er schlief bei Freunden, wagte sich aus Angst | |
| vor der Polizei selten auf die Straße. Damit war der Job, der ihn psychisch | |
| und emotional stabilisiert und existenziell abgesichert hatte, futsch. Eine | |
| Katastrophe für den jungen Mann. Und ein herber Verlust für das | |
| Krankenhaus. Von einem Tag auf den anderen verlor die Klinik einen | |
| zuverlässigen Mitarbeiter. | |
| Khans Geschichte ist kein Einzelfall. Bayern ist bekannt dafür, gern und | |
| zügig abzuschieben. Zuletzt wurden Mitte August 46 afghanische Geflüchtete | |
| vom Münchener Flughafen nach Kabul gebracht. Davor waren es 69, Mitte Juli. | |
| Im vergangenen Jahr wurden nach Angaben der Bundesregierung 7.374 | |
| Ausländer*innen aus Deutschland ausgewiesen. | |
| Gegen die jüngsten Abschiebungen protestierten nicht nur viele Menschen in | |
| München auf der Straße. Mittlerweile wenden sich Unternehmer*innen gegen | |
| die Abschiebepraxis, die in den Augen vieler Arbeitgeber*innen die | |
| Wirtschaft beeinträchtigt. Denn überall in der Republik fehlen Fachkräfte: | |
| beim Handwerk, in der Gastronomie, in der Pflege. Selbst Feuerwehren, die | |
| auf dem Land inzwischen hauptsächlich von Freiwilligen profitieren, suchen | |
| händeringend Nachwuchs. | |
| ## Auch SPD und FDP sind für den „Spurwechsel“ | |
| In Bayern haben sich jetzt Unternehmer*innen zu einem Bündnis | |
| zusammengetan; sie fordern, dass Geflüchtete mit einem Job hierbleiben | |
| dürfen. Damit unterstützen die rund 40 Land- und Gastwirte, | |
| Pflegeeinrichtungen und Handwerksbetriebe eine Idee des | |
| schleswig-holsteinischen CDU-Ministerpräsidenten Daniel Günther, die sich | |
| „Spurwechsel“ nennt. Dabei soll das Asylverfahren von Geflüchteten mit Job | |
| zugunsten eines Einwanderungsverfahrens beendet werden. | |
| Die Idee dahinter ist nicht neu: Es werden nicht nur ausgebildete | |
| Fachkräfte gesucht und gebraucht, sondern auch ungelernte Frauen und | |
| Männer, die Regale befüllen, in der Küche helfen, Hallen ausfegen. Dafür | |
| müssen die Geflüchteten nicht in jedem Fall astreines Deutsch sprechen, | |
| eine einfache Verständigung genügt oft schon. Zudem verdienen sie auf diese | |
| Weise nicht nur ihren eigenen Lebensunterhalt – oder zumindest einen Teil | |
| davon –, sondern sind vor allem beschäftigt und fühlen sich gebraucht. Ein | |
| wesentliches Problem Geflüchteter ist das Gefühl der Nutzlosigkeit, die | |
| Unmöglichkeit zu arbeiten. Das führe, so beschreiben es Mitarbeiter*innen | |
| in den Flüchtlingsunterkünften, verstärkt zu Aggressionen und Übergriffen. | |
| Der „Spurwechsel“ findet nicht nur in der Wirtschaft Zuspruch. Auch SPD und | |
| FDP sprechen sich dafür aus, gut integrierte Geflüchtete mit einem Job | |
| eine Bleibeperspektive zu geben. Der Tübinger Oberbürgermeister Boris | |
| Palmer von den Grünen und sein CDU-Kollege Richard Arnold aus Schwäbisch | |
| Gmünd sind gar für einen „doppelten Spurwechsel“: Asylsuchende mit Arbeit | |
| rein, Asylsuchende mit Kriminalität raus. | |
| Dem Afghanen Khan würde so ein „Spurwechsel“ helfen. Pflegekräfte werden | |
| überall in Deutschland gesucht. Warum kann er nicht einfach bleiben? | |
| ## 300.000 Geflüchtete haben einen Arbeitsplatz | |
| Einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Insa zufolge plädiert eine | |
| Mehrheit der Menschen in Deutschland dafür, dass abgelehnte | |
| Asylbewerber*innen, die eine Ausbildung absolvieren oder einen Job haben, | |
| unkompliziert einen Aufenthaltsstatus bekommen sollten. Eine jüngste | |
| Erhebung der Bundesarbeitsagentur in Nürnberg gibt ihnen recht: Danach | |
| haben etwa 300.000 Geflüchtete einen Job, die Mehrheit von ihnen zahlt | |
| Sozialabgaben und Steuern. „Das läuft alles ganz gut“, sagt der Chef der | |
| Arbeitsagentur, Detlef Scheele. | |
| All das scheint CSU-Innenminister Horst Seehofer nicht zu interessieren. | |
| Zumindest ist in dem von ihm geplanten Einwanderungsgesetz, dessen | |
| Eckpunkte er vor gut einer Woche vorstellte, keine Rede von „Spurwechsel“. | |
| Sein Papier zielt auf berufliche Qualifikation, Alter, Sprachkenntnisse | |
| sowie ein konkretes Jobangebot. Unqualifizierte Asylbewerber*innen, so wie | |
| Khan einer ist, schließt Seehofer damit aus. | |
| Eine Chance, hierzubleiben hätte Khan allerdings mit der sogenannten | |
| 3+2-Regelung: Geflüchtete, die in Deutschland eine Ausbildung begonnen | |
| haben, dürfen diese trotz Ablehnung eines Asylbescheids beenden und danach | |
| zwei Jahre arbeiten, wenn sie einen Arbeitsvertrag haben. | |
| Das wissen viele Geflüchtete aber nicht. Sobald sie negative Post von der | |
| Ausländerbehörde bekommen, lähmt sie die Angst, in Kürze abgeschoben zu | |
| werden. Manche gehen dann nicht mehr zur Schule und in den | |
| Ausbildungsbetrieb, vernachlässigen den Deutschkurs oder verschwinden – so | |
| wie Farid Khan das gemacht hat. | |
| Aber er hatte Glück. Den Kontakt zu einer Mitarbeiterin im Flüchtlingsheim, | |
| seiner „Betreuerin“, wie er sagt, hat er nie abreißen lassen. Sie hat Khans | |
| Fall vor die Härtefallkommission gebracht, seine Aufenthaltserlaubnis wurde | |
| verlängert. Jetzt macht Khan eine Ausbildung zum Krankenpfleger. Er hat | |
| also die „Spur gewechselt“, fühlt sich dadurch aber nicht sicherer vor | |
| Abschiebung. Was er aber weiß: „Pfleger werden gesucht, ich werde | |
| gebraucht.“ | |
| Mitarbeit Frederik Eikmanns und Barbara Dribbusch | |
| 26 Aug 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Simone Schmollack | |
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