| # taz.de -- Debatte um gerechte Löhne: Bloß nix Soziales | |
| > Ist das gerecht? HundefriseurInnen verdienen mehr als PflegehelferInnen. | |
| > Und die untere Mittelschicht kommt höchstens auf 1.700 Euro. | |
| Bild: Kanalarbeiter in Frankfurt: Verschleiss und Belastung zählen zu wenig be… | |
| Mit dem Lkw rumfahren, Abwasserleitungen auf ihre Dichtigkeit überprüfen, | |
| öffnen, reinigen – 39 Stunden die Woche. „Es ist schon traurig, dass Leute, | |
| die sich dreckig machen, wenig anerkannt und wertgeschätzt werden“, sagt | |
| Sabine Born*. Die 22-Jährige steht in gelber Arbeitskluft im Regen vor der | |
| Zentrale der Berliner Wasserbetriebe, es herrscht Warnstreik in der | |
| Tarifrunde im öffentlichen Dienst für Bund und Kommunen. | |
| Born, gelernte Industriemechanikerin, gehört zu einer Gruppe, die politisch | |
| wenig Aufmerksamkeit erfährt. Fachkraft mit Ausbildung, tariflich entlohnt, | |
| Job gesichert. 1.700 Euro netto verdient sie im Monat, das ist statistisch | |
| das mittlere Arbeitsentgelt in Deutschland. Aber das Geld ist knapp, schon | |
| Borns Miete kostet 650 Euro warm. Es reicht nicht für private | |
| Altersvorsorge, nicht für Wohneigentum, nicht für ein Auto und erst recht | |
| nicht für eine Familie. | |
| „Man denkt schon manchmal daran, noch einen Nebenjob zu machen“, sagt sie. | |
| Die Gewerkschaft Verdi fordert in der laufenden Tarifrunde 6 Prozent mehr | |
| Entgelt beziehungsweise mindestens 200 Euro mehr für die unteren | |
| Entgeltgruppen. Am Sonntag geht es in Potsdam in die dritte | |
| Verhandlungsrunde. | |
| Born ist eine von Millionen von ArbeitnehmerInnen, die nicht teilhaben | |
| können an dem zentralen Versprechen an die Mittelschicht: dass man im Laufe | |
| des Lebens Vermögen, private Altersvorsorge aufbauen, Wohneigentum kaufen, | |
| eine Familie ernähren kann, dass die Rente später ausreicht. Mit 1.700 Euro | |
| netto „kommt man zwar in den Metropolen über die Runden, kann aber kaum | |
| etwas ansparen oder eine Immobilie erwerben“, sagt Markus Grabka, | |
| Verteilungsforscher und Mittelschichtsexperte am Deutschen Institut für | |
| Wirtschaftsforschung (DIW). | |
| ## Gehälter als Sinnbild der Wertschätzung | |
| „Wir sind es wert“ steht auf den Leibchen der Streikenden im Regen. Aber | |
| was ist welche Arbeit eigentlich wert? Welcher Lohn ist gerecht? Die | |
| Maßstäbe für Lohngerechtigkeit verändern sich, weil die Mieten in den | |
| Metropolen steigen, weil Frauen wirtschaftliche Selbstverantwortung | |
| übernehmen und übernehmen müssen, weil der Druck wächst, privat für das | |
| Alter zu sparen, und weil wir alle länger arbeiten sollen. | |
| Es ist unfair, dass Menschen in bestimmten Lehrberufen kaum bis zum | |
| gesetzlichen Rentenalter durchhalten, während besser bezahlte Akademiker | |
| dies schaffen und obendrein ihr Leben lang genug verdienen, um etwas | |
| beiseitelegen zu können für das Alter. Was sie dann auch noch länger | |
| genießen, denn die Lebenserwartung der Bessergebildeten ist höher. | |
| Gehälter sagen etwas aus über historisch gewachsene Wertschätzung und über | |
| Geringschätzung. AltenpflegerInnen, die Menschen in der letzten Phase bis | |
| zum Tode begleiten, verdienen 1.700 Euro. KrankenpflegerInnen, die eher am | |
| Wiederherstellungsprozess von Menschen beteiligt sind, erhalten hingegen | |
| 2.000 Euro. HundefriseurInnen (1.545 Euro) verdienen mehr als | |
| DamenfriseurInnen (1.100 Euro) und PflegehelferInnen (1.300 Euro). Alles | |
| sind mittlere Einkommen in den Berufsfeldern, für einen Alleinstehenden auf | |
| netto umgerechnet, entnommen dem Entgeltatlas der Bundesagentur für Arbeit. | |
| GymnasiallehrerInnen bekommen mehr als GrundschullehrerInnen, obwohl diese | |
| oftmals mit Kindern aus sehr unterschiedlichen Milieus einen mühsamen Job | |
| haben. Wer Führungskraft ist und MitarbeiterInnen anweist, wird höher | |
| dotiert als eine Pflegerin, die desorientierte Demenzkranke betreut und | |
| anleitet. | |
| ## Die Ungleichheit wächst im Laufe des Lebens | |
| Die Frage ist, welche Maßstäbe für die Beurteilung von „Lohngerechtigkeit�… | |
| eigentlich angebracht sind. Längere Bildungs- und Ausbildungsphasen wirken | |
| in fast allen Tarifsystemen entgeltsteigernd, und das ist schon seit den | |
| 50er und 60er Jahren so. „Der Arbeitsmarkt in Deutschland und dem | |
| entsprechend auch das Tarifsystem sind traditionell sehr eng mit dem | |
| Bildungssystem und dem dreigliedrigen Schulwesen verknüpft“, sagt Stefan | |
| Liebig, Sozialforscher am DIW. | |
| Mit einem Haupt- oder Realschulabschluss kann man bereits eine Lehre | |
| beginnen und einen Beruf ausüben, für ein Studium braucht man hingegen eine | |
| längere Schulzeit und Abitur. Wobei die höhere Entlohnung von | |
| AkademikerInnen Gerechtigkeitsfragen aufwirft, denn junge Leute haben erst | |
| mal das leichtere Leben, wenn sie Abi machen und studieren, anstatt schon | |
| mit 17 oder 18 Jahren in eine schlecht vergütete lange Arbeitswoche in | |
| Betrieb und Berufsschule zu gehen. | |
| Im Verlaufe eines Lebens vergrößern sich die Ungleichheiten: | |
| AkademikerInnen verdienen laut Statistischem Bundesamt ein | |
| Bruttostundengehalt von durchschnittlich über 27 Euro. Beschäftigte mit | |
| einer abgeschlossenen Berufsausbildung kommen hingegen nur auf 16 Euro pro | |
| Stunde. In 30 Jahren hat ein alleinstehender akademischer Erwerbstätiger | |
| rechnerisch 320.000 Euro netto mehr erwirtschaftet – das ist genug für eine | |
| kleinere Eigentumswohnung. | |
| Aber nicht immer zahlt sich ein Studium in barer Münze aus: Wer sich als | |
| Künstler durchs Leben schlägt, mit Aufträgen, Stipendien, ein bisschen | |
| Lehrtätigkeit, dürfte Sabine Born mit ihrem sicheren Job bei den | |
| Wasserwerken beneiden. Das DIW kam in einer Erhebung auf monatliche | |
| Nettoeinkommen von knapp 1.600 Euro für MusikerInnen, 1.400 Euro für | |
| bildende Künstler und 2.100 Euro für PublizistInnen und ÜbersetzerInnen. | |
| Wer was mit Kultur, was Soziales, was mit konsumnahen privaten | |
| Dienstleistungen macht oder in einem Kleinbetrieb im Norden oder Osten | |
| ackert, hat im Schnitt schlechtere Einkommenschancen als jemand, der in | |
| einem Großbetrieb in Süddeutschland, in der exportorientierten Industrie, | |
| vielleicht im unternehmensbezogenen Dienstleistungsbereich, tätig ist. | |
| Inwieweit muss man diese Ungleichheiten als marktgegeben akzeptieren? | |
| ## „Differenzierter auf Tätigkeiten schauen“ | |
| Die Daten zum Gender Pay Gap haben die Debatte über die Gleichwertigkeit | |
| von Arbeit, die aber ungleich bezahlt wird, befeuert. Wobei auch Männer in | |
| bestimmten Dienstleistungsbereichen von dieser Debatte profitierten | |
| könnten, wenn beispielsweise psychosoziale Anforderungen und nervliche | |
| Belastungen künftig höher gewertet werden. | |
| Andrea Jochmann-Döll, Sozialwissenschaftlerin und Gleichstellungsberaterin | |
| in Essen, hat sich mit neuen Kriterien für die Gleichwertigkeit von Arbeit | |
| beschäftigt. „Wir müssen differenzierter auf die Tätigkeiten schauen“, s… | |
| sie. Ausbildung und Fachkenntnisse, Führungsverantwortung und körperliche | |
| Anforderungen findet auch sie wichtig. Hinzu kommen aber Kriterien wie | |
| belastende psychosoziale Bedingungen, Einfühlungsvermögen, | |
| Kommunikationsfähigkeit, die Bewältigung von Arbeitsunterbrechungen, | |
| ununterbrochene Konzentration. | |
| AltenpflegerInnen zum Beispiel, die eine dreijährige Ausbildung durchlaufen | |
| haben, brauchen medizinisches und psychologisches Wissen. Sie machen aber | |
| auch einen Knochenjob, in dem gehoben und geschoben werden muss wie in | |
| einer Produktionshalle in der Industrie. Hinzu kommen die psychosozialen | |
| Anforderungen. „Eine Altenpflegerin wird körperlich stärker beansprucht als | |
| manche Facharbeiter in der Industrie“, sagt Jochmann-Döll, „hinzu kommt | |
| noch die nervliche Belastung.“ | |
| Das Kriterium der nervlichen Belastung könnte auch in anderen | |
| Dienstleistungsbereichen stärker gewertet werden, etwa bei | |
| Callcenter-AgentInnen mit viel Kundenstress (Verdienst netto 1.300 Euro). | |
| Oder bei Berufskraftfahrern (1.560 Euro), die mit dem Lkw durch den | |
| Stadtverkehr kurven und große Verantwortung tragen. | |
| ## Politik unter Handlungsdruck | |
| Am Ende zählt die Kaufkraft, die man mit seinem Lohn hat. Ein Konsumniveau | |
| von 1.600 Euro netto ist überschaubar. Laut Statistik geben Haushalte in | |
| dieser Einkommensgruppe fast 40 Prozent des Einkommens für die Wohnkosten | |
| aus. Geld spart, wer über eine günstige Wohnung verfügt und einen gut | |
| ausgebauten öffentlichen Nahverkehr, der ein Auto überflüssig macht. Gute | |
| Zähne sind auch hilfreich, das spart hohe Behandlungskosten. Ganz schwierig | |
| wird es mit diesem Gehalt, wenn man eine hohe Miete hat und Kinder. Dann | |
| kann man mit dem verfügbaren Geld in die Nähe des Hartz-IV-Regelsatzes | |
| rutschen. | |
| Tarifpolitisch oder staatspolitisch gegenzusteuern gegen die | |
| Entgeltproblematik ist schwierig, zumal viele Betriebe im | |
| Dienstleistungsbereich gar nicht nach Tarif zahlen. Und der Mindestlohn | |
| liegt ja noch mal deutlich niedriger als diese Entgeltgruppen. | |
| Aber die Demografie, der Nachwuchs- und Fachkräftemangel erzeugen | |
| Handlungsdruck. Die Große Koalition plant eine Mindestvergütung für | |
| Auszubildende. Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) will dafür | |
| sorgen, dass ErzieherInnen besser bezahlt werden, Gesundheitsminister Jens | |
| Spahn (CDU) spricht sich für höhere Entgelte in der Pflege aus. Wie genau | |
| das umgesetzt werden soll, ist allerdings nicht geklärt. | |
| Sabine Born wartet nicht auf die Politik. Sie plant das, was die Mehrheit | |
| der jungen Leute macht: „Vielleicht studiere ich noch mal“, sagt sie. Das | |
| Abi hat sie. Mit Hochschulabschluss würde sie gleich vier Entgeltgruppen | |
| höher rutschen, mindestens. „Mit 2.500 Euro netto kommt man klar,“ meint | |
| Born. 800 Euro mehr. Pro Monat. Es wäre arrogant, zu behaupten, so was | |
| mache keinen großen Unterschied. | |
| *Name geändert | |
| 11 Apr 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Dribbusch | |
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