# taz.de -- Altersforscher über den Pflegenotstand: „Bezahlung ist natürlic… | |
> Der Gerontologe Thomas Kalwitzki plädiert für eine Aufwertung des | |
> Pflegeberufs – die höheren Kosten müssten in Kauf genommen werden. | |
Bild: Gerade für das Wohlbefinden dementer HeimbewohnerInnen ist der Umgang en… | |
taz: Herr Kalwitzki, nach welchen Kriterien wird der Personalbedarf in | |
Pflegeeinrichtungen bisher bemessen? | |
Thomas Kalwitzki: Bisher gibt es grundsätzlich auf Landesebene | |
Vereinbarungen, nach denen einem Bewohner eines bestimmten Pflegegrades | |
eine gewisse Personalmenge zugeordnet ist. Diese Pflegeschlüssel sind im | |
Wesentlichen historisch gewachsen und nicht wissenschaftlich fundiert. | |
Ordnungsrechtlich gibt es weitere Rahmenbedingungen wie beispielsweise eine | |
Fachkraftquote, die streng geprüft wird und die einzuhalten ist, um eine | |
stationäre Einrichtungen zu betreiben. | |
Es wird immer von einer Fachkraftquote von 50 Prozent geredet – was genau | |
bedeutet das, von welcher personellen „Grundausstattung“ wird da überhaupt | |
ausgegangen? | |
Die Quote bezieht sich auf den Anteil der Pflegefachkräfte an allen | |
beschäftigten Pflegekräften. Heute haben sie eine länderspezifisch variable | |
Quote für den aktuellen Personaleinsatz. Da ist die Minimalanforderung, | |
zumindest üblicherweise: Es muss eine Fachkraft im Haus sein, auch nachts. | |
Die 50-Prozent-Fachkraft-Quote gilt in der Regel für das beschäftigte | |
Personal, also nicht für den eben genannten aktuellen Personaleinsatz. | |
Bedeutet das, es kann durchaus auch Tage oder im schlimmsten Falle sogar | |
Nächte geben, in denen keine Fachkraft da ist? | |
Gar keine Fachkraft darf es nicht geben, aber es bedeutet eben auch nicht, | |
dass in jedem Moment von zehn Leuten in einer Einrichtung fünf Leute | |
Fachkräfte sein müssen. Meiner Meinung nach muss das aber kein Zeichen für | |
einen qualitativen Makel sein. | |
Richtet sich der MitarbeiterInnen-Stamm nach Anzahl und Pflegegrad der | |
BewohnerInnen? | |
Im Prinzip ja. Sie haben als Einrichtung so und so viele Bewohner mit dem | |
und dem Pflegegrad – also das, was früher Pflegestufe hieß – und zu jedem | |
Bewohner bekommen Sie einen gewissen Personalanteil zugerechnet. Den können | |
Sie dann in Ihren Vergütungsverhandlungen auch refinanziert kriegen. | |
Müssen Sie dann auch entsprechend Personal einstellen? | |
Das müssen sie nicht, es ist nicht vorgeschrieben, ob Sie Personal | |
einstellen oder etwa über Zeitarbeitsfirmen beschäftigen. Sie müssen jedoch | |
dafür sorgen, dass der reguläre Betrieb ordnungsgemäß läuft und aufrecht | |
erhalten bleibt. Das Ordnungsrecht greift hier recht stark, weil die | |
Heimaufsichten und der medizinische Dienst der Krankenkassen Kontrollmacht | |
haben. Wenn beispielsweise der Fachkräfteanteil unter 50 Prozent sinkt, | |
wird ein Belegungsstopp verhängt. | |
Was wird sich durch das Verfahren ändern, das Sie und Ihre KollegInnen an | |
der Uni Bremen entwickeln? | |
Es steht jetzt im Sozialgesetzbuch XI, dass es sich hierbei um ein | |
Verfahren handeln soll, das bundeseinheitlich einsetzbar ist. Das bedeutet | |
aber nicht zwangsläufig, dass es in jedem Bundesland völlig gleich | |
angewendet werden muss. Es bietet aber zumindest ein Hintergrundverfahren, | |
das eine gewisse Anwendbarkeit in allen Bundesländern ermöglichen soll. Was | |
genau später dabei herauskommt, ob es Richtwerte werden oder | |
Verhandlungsgrundlagen, steht noch nicht fest. Das zu klären ist auch nicht | |
unser Auftrag, sondern späteren politischen Entscheidungen vorbehalten. | |
Welche Erkenntnisse haben Sie bereits gewonnen – wie sind die Bedarfe und | |
wie bilden sich die in der Realität ab? | |
So weit sind wir bisher noch nicht, wir befinden uns noch in der ersten | |
Projektphase. | |
Wie hat sich in den vergangenen Jahren die Pflegebedürftigkeit verändert? | |
Das Zweite Pflegestärkungsgesetz hat einen neuen | |
Pflegebedürftigkeitsbegriff sozialrechtlich verankert. Die | |
Leistungsanbieter werden dementsprechend gefordert sein, ein anderes | |
Leistungsverständnis zu entwickeln, das mehr auf einen ressourcen- und | |
teilhabeorientierteren Pflegebegriff abzielt. | |
Wird darauf reagiert, dass alte Menschen immer später in Einrichtungen | |
gehen, also dann, wenn sie schwer demenziell oder körperlich erkrankt sind? | |
Eine solche Veränderung ist empirisch nicht nachweisbar. Allerdings hat | |
sich der Anteil der Menschen, die eine demenzielle Veränderung aufweisen, | |
tendenziell erhöht. Darauf wurde unter anderem reagiert, indem | |
Einschränkungen durch kognitive Beeinträchtigungen in den neuen | |
Pflegebedürftigkeitsbegriff aufgenommen wurden. Insgesamt glaube ich auch | |
nicht, dass auf die veränderten Strukturen personell nicht reagiert worden | |
ist. Mit dem Pflegestärkungsgesetz sind zusätzliche Betreuungskräfte | |
angestellt worden, deren Anzahl im Laufe der letzten zehn Jahre | |
kontinuierlich erhöht wurde. | |
Und was ist mit Fachkräften? Ist die jetzt in Bremen geltende | |
Fachkraftquote von eins zu 40 im Nachtdienst ausreichend? | |
Sie ist im Vergleich mit anderen Bundesländern nicht die schlechteste, | |
sondern wohl eher gutes Mittelfeld. Leitungskräfte in anderen Bundesländern | |
sagen, das ist ausreichend. Ob das tatsächlich so ist, kommt darauf an, | |
welche Leistungen in der Nacht erbracht werden müssen. Das hat mit der | |
Bewohnerstruktur zu tun, aber auch damit, was nachts sonst noch Arbeitszeit | |
binden könnte, nämlich Lagerarbeiten oder Verwaltungsaufgaben. Ein Problem | |
ist dann da, wenn Sie einen Notfall haben. Ich selber habe in letzter Zeit | |
an den Personalquoten eher wenig Kritik gehört. | |
Wie erklärt sich dann der gravierende Mangel an Fachkräften? | |
Einerseits steigt die Anzahl der Pflegebedürftigen und damit das zur Pflege | |
benötigte Personal dramatisch. Selbst bei einem gleichbleibenden | |
Personalstamm entsteht somit eine riesige Lücke. Hinzu kommt aber | |
verschärfend, dass der Beruf nicht gerade durch seine Rahmenbedingungen | |
besticht, er hat schlechte Arbeitszeiten, einen hohen Anteil nicht | |
gewünschter Teilzeitbeschäftigung und eine eher niedrige Bezahlung. Das | |
macht es nicht einfach, diese Lücke zu schließen. | |
Was müsste getan werden? | |
Bezahlung ist natürlich ein Punkt, aber der wirkt sich nicht wirklich auf | |
die Arbeitsbedingungen und den Zugang zum Beruf aus. Ansatzpunkte hierzu | |
sind vor allem Rekrutierungsprogramme, die Förderung von Berufsrückkehr und | |
die Erhöhung der Verweildauer im Beruf, etwa durch altersgerechte | |
Arbeitsplätze. | |
Besteht durch die geplante generalistische Ausbildung, bei der angehende | |
Kranken-, Kinderkranken- und AltenpflegerInnen gemeinsam lernen, die | |
Gefahr, dass sich die Auszubildenden für die Fachrichtung entscheiden, in | |
der besser bezahlt wird? | |
Diese Sorge besteht und so eine Entwicklung kann erwartet werden. Eine | |
einfache Lösung wäre hier sicherlich, dass gesagt wird: Ihr habt die | |
gleiche Ausbildung, also werdet Ihr auch gleich oder zumindest ähnlich | |
bezahlt. | |
Wie wäre das zu finanzieren? | |
Es ist ja jetzt wieder eine recht breite Akzeptanz kollektiver, also etwa | |
tarifvertraglicher Regelungen da, wie es sie schon einmal gegeben hat. Und | |
da gilt: Tarifvertragliche Regelungen werden refinanziert. Wenn das Geld | |
dann auch für das Personal ausgegeben wird, also wenn das in der | |
Vergütungspraxis der Einrichtungen dann auch so umgesetzt wird, sehe ich | |
mit der Finanzierung eigentlich kein allzu großes Problem. | |
Was ist mit dem Eigenanteil der BewohnerInnen? | |
Der steigt dann natürlich auch. Wir haben ein Pflegeversicherungssystem in | |
Deutschland, das mit absoluten Leistungsbeträgen arbeitet. Es handelt sich | |
um keine Vollversicherung. Je nach Pflegegrad bekomme ich 770 bis 2.005 | |
Euro zu meinen pflegebedingten Kosten hinzu. Das ist ein Zuschuss und | |
bedeutet: Wenn Einrichtungen mehr Personal oder Personal zu höheren | |
Gehältern in ihre Vergütungsverhandlungen einbringen, erhöhen sich die | |
Pflegesätze, die Beträge der Versicherung bleiben aber gleich. Jede | |
kostenrelevante Verbesserung im Personal wird also aktuell vollständig von | |
den Bewohnern getragen. | |
Wie ließe sich das ändern? | |
Strukturell durch einen sogenannten Sockel-Spitze-Tausch im Sozialsystem. | |
Durch diesen wären konstante Eigenanteile der Bewohner zu erbringen, | |
während Kostensteigerungen durch die Pflegeversicherung abgefangen würden. | |
Der Eigenanteil muss für Menschen, die das Geld selbst nicht haben, von den | |
Sozialkassen getragen werden. Besteht die Gefahr, dass diese Menschen in | |
schlechtere Einrichtungen kommen, damit die Sozialkassen nicht weiter | |
belastet werden? | |
Grundsätzlich müssen Pflegeeinrichtungen einen Vertrag mit den | |
Sozialhilfeträgern schließen, um mit ihnen abrechnen zu können. So können | |
natürlich sehr exklusive Einrichtungen ausgeschlossen werden. Für die | |
allermeisten Einrichtungen trifft das allerdings nicht zu. Zumindest meines | |
Wissens nach besteht auch keinerlei Steuerungsmöglichkeit, Menschen gezielt | |
in billigeren Heimen unterzubringen, um Geld zu sparen. Darüber hinaus | |
sollte auch immer mitbedacht werden, dass schlechte Pflege nur bedingt mit | |
dem Preisniveau einer Einrichtung in Verbindung gebracht werden kann. | |
5 Mar 2018 | |
## AUTOREN | |
Simone Schnase | |
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