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# taz.de -- Debatte Altersversorgung: Eine Minipizza für die Pflege
> Pflege ist die teuerste Dienstleistung, die es gibt. Aber Verbesserungen
> wären finanzierbar – wenn die Koalition in spe mutiger wäre.
Bild: Man sollte Gebrechlichkeit als Lebensphase akzeptieren
Immer dann, wenn bei einem Thema die Empörung besonders hochkocht, ist die
Gefahr groß, dass sich so schnell nichts ändert. Durch Emotionalisierung
wird politischer Handlungsdruck auch ausgeleitet und abgeschwächt. So läuft
es beim Pflegethema, wo vom „Pflegenotstand“ die Rede ist, aber trotzdem
wenig passiert. Die Große Koalition in spe hat nur kleine Schritte
zugesagt. Dabei wären wirkliche Verbesserungen möglich, wenn die Politik
keine Angst hätte vor ehrlichen Rechnungen.
Für die Pflege gilt eine Wahrheit, vor der man nicht kapitulieren darf: die
Rund-um-Pflege eines hochgebrechlichen Menschen ist die teuerste
Dienstleistung, die es gibt. Diese Wahrheit blieb lange verborgen, weil
Hunderttausende von Töchtern und Schwiegertöchtern zu Hause unbezahlte
Pflege leisteten.
Doch diese Zeiten gehen zu Ende, Frauen sind erwerbstätig und verdienen
Geld. Und wir müssen uns entscheiden: Soll es das ganz persönliche Risiko
sein, zum Pflegefall zu werden? Oder können wir dieses Risiko solidarischer
schultern? Mehr Solidarität ist möglich, doch dazu braucht es politischen
Mut.
780.000 Menschen leben in Pflegeheimen. Ein Aufenthalt dort kann inklusive
Pflege, Unterkunft und Essen beispielsweise 3.400 Euro im Monat kosten,
wovon die Angehörigen fast 1.700 Euro im Monat bezahlen. Bei einem
hochgebrechlichen, verwirrten Bewohner mit Pflegegrad 4 veranschlagt ein
Heim beispielsweise 77 Euro am Tag für die Pflegekosten, um ein Beispiel
der Deutschen Stiftung Patientenschutz zu übernehmen.
## Es kommt zu Missständen
Doch von diesem Pflegesatz werden Sachkosten, Verwaltung, Urlaub,
Fortbildung, Krankheit, Dokumentationszeiten, Übergaben,
Medikamentenverabreichung und die Arbeitgeber-Sozialversicherungsbeiträge
des Pflegepersonals bezahlt. Am Ende bleiben pro Tag Lohnkosten von 25 Euro
brutto für die Zeit der direkten Körperpflege eines hochgebrechlichen,
leicht dementen Patienten.
Pflegeheime können bei dieser Kalkulation kaum das Nötigste leisten. Es
kommt zu Missständen. Mancherorts lässt man alte Menschen lange in vollen
Windeln liegen. Demente bekommen starke Medikamente, damit sie nicht
herumlaufen und stürzen. Gebrechliche schließt man an Magensonden an, weil
nicht genug Zeit da ist, um sie beim Essen zu unterstützen.
Bei konkreten Zeitmessungen in Heimen vor einigen Jahren kam der
Pflegewissenschaftler Klaus Wingenfeld zu dem Schluss,
dassHeimbewohnerInnen in der Pflegestufe 2 im Schnitt am Tag nur 66 Minuten
an direkter Körperpflege bekommen. Patienten aus dieser Pflegestufe
befinden sich heute im Pflegegrad 3 oder 4.
Aber wie könnte man die Lebens- und Arbeitsbedingungen verbessern? Ein
Stück weit muss man die Gebrechlichkeit als Lebensphase akzeptieren und den
Hochbetagten ihre Autonomie dabei lassen. Ein erhöhtes Sturzrisiko muss man
in Kauf nehmen, unter Einsatz von Hilfsmitteln, wie zum Beispiel
gepolsterten Hüfthosen. Das ist besser, als die Bewohner mit Tabletten
stillzulegen. Auch muss man bis zu einem gewissen Grad akzeptieren, dass
alte Menschen nicht mehr so viel essen und trinken wollen und sie deswegen
noch lange nicht an eine Magensonde anschließen. Stundenlang hilflos in der
vollen Windel zu liegen, ist hingegen nicht hinnehmbar.
## Wer soll das finanzieren?
Wir brauchen mehr Personal und eine bessere Bezahlung, auch damit überhaupt
noch Leute in die Altenpflege gehen. Im Koalitionsvertrag versprechen Union
und SPD [1][8.000 Kräfte] mehr für die medizinische Pflege in Heimen, aber
das reicht nicht. Die Gewerkschaft Verdi hat in einem Gutachten einen
Personalbedarf von jährlich 38.000 zusätzlichen Stellen in der Altenpflege
konstatiert. Wären die Hälfte davon Fachkräfte, käme man auf einen
jährlichen Mehraufwand von 1,2 bis 1,4 Milliarden Euro in der Pflege.
Bisher arbeiten 730.000 Beschäftigte in rund 13.000 Heimen, die meisten
davon in Teilzeit. Etwas mehr als die Hälfte der Heime sind in
gemeinnütziger Trägerschaft.
Doch wer soll den Mehraufwand finanzieren? Kinder von Pflegebedürftigen
sollen laut Koalitionsvertrag künftig nichts mehr für den Heimaufenthalt
der Eltern bezahlen müssen, wenn das Jahreseinkommen nicht höher liegt als
100.000 Euro. EhepartnerInnen können nach wie vor in Armut stürzen, wenn
der Mann oder die Frau ins Heim müssen und der größte Teil der Rente und
das Vermögen dafür draufgehen.
Am solidarischsten wäre es, würde man die Aufstockungen durch die
Pflegeversicherung, also durch alle BeitagszahlerInnen, finanzieren. Hierzu
eine schematische Rechnung: Müsste die Pflegeversicherung 1,2 Milliarden
Euro zusätzlich aufbringen, so wäre dies ein höherer Beitragssatz von etwa
0,1 Prozent vom Brutto. Die Hälfte davon zahlt der Arbeitgeber. Das macht
bei einem Erwerbstätigen mit einem Einkommen von 3.000 Euro brutto im Monat
1,50 Euro mehr an Abgaben. Das ist nicht mal eine Minipizza.
Die Große Koalition müsste sich allerdings von fahrlässigen Versprechungen
trennen, Sozialversicherungsbeiträge zu senken. Diese Entlastungsrhetorik
ist Gift für die Pflege. In Deutschland gibt man nur 1,6 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts für Langzeitpflege aus. In den Niederlanden sind es
4,3 Prozent. Wir müssen unsere Maßstäbe ändern.
Es kann jedem passieren, die Kontrolle über die Ausscheidungen, den
Gehapparat, den Verstand zu verlieren. Wir fürchten unsere Vergänglichkeit
und Verletzlichkeit. Auch deswegen ist die Pflegedebatte emotional so
aufgeladen. Aber Empörung ist billig. Verbesserungen sind teuer. Wenn wir
die kollektive Absicherung nicht ausbauen, entwickelt es sich zum schweren
Schicksalsschlag, zum Pflegefall zu werden und den Aufenthalt im Heim
aushalten zu müssen. Die gute Nachricht lautet: Das muss nicht sein. Es
braucht nur politischen Mut, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.
15 Feb 2018
## LINKS
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## AUTOREN
Barbara Dribbusch
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