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# taz.de -- Kommentar Altenpflege in Deutschland: Schafft die Pflegeversicherun…
> Die Pflegeversicherung ist für viele Probleme in Deutschlands Altenhilfe
> verantwortlich. Investoren sichern sich damit traumhafte Renditen.
Bild: Nicht der Staat gibt Geld für die Altenpflege aus – sondern Investoren…
Nachmittags in einem Altenheim nördlich der schwedischen Großstadt
Göteborg: Wie jeden Dienstag steht heute Musik auf dem Programm. Bewohner,
die noch auf den Beinen sind, wiegen sich behutsam zu einem alten
Volkslied, Rollstuhlfahrer tanzen gemeinsam mit Pflegerinnen, ein Mann
spielt Gitarre. Die Stimmung ist entspannt, niemand sieht auf die Uhr, die
Musik spielt so lange, wie die Beteiligten Spaß daran haben.
Die Schweden haben – anders als die Deutschen – Zeit für ihre alten
Menschen, weil es in ihrem Land keine Pflegeversicherung gibt. Pflegekräfte
sind dort Angestellte der Kommune, bezahlt aus Steuergeldern. In
Deutschland sind die Verhältnisse andere. Wobei es an dieser Stelle nicht
nottut, zum x-ten Mal detailliert die menschenunwürdigen Zustände in
Deutschlands Altenpflege zu beschreiben. Wir alle lesen ständig darüber,
und fast keine Woche vergeht, in der das Thema nicht in irgendeinem
Polittalk diskutiert wird.
Stattdessen geht es in diesem Text um die Ursache des ganzen Elends, die
Pflegeversicherung. Nur wenn wir sie abschaffen, lassen sich die vielerorts
menschenunwürdigen Verhältnisse beenden, nur dann werden Pflegekräfte auch
bei uns Zeit haben für eine liebevolle, zugewandte Betreuung. Denn die
Pflegeversicherung ist mit ihrem planwirtschaftlichen System fehlgeleiteter
Zuteilung für fast alle Probleme in Deutschlands Altenhilfe verantwortlich.
Das gilt zunächst für unsere Heime. Die Zustände in der stationären
Altenpflege – und als Folge davon ihr Image – sind so verheerend, dass nur
8 Prozent der Deutschen freiwillig in ein Pflegeheim ziehen würden.
Trotzdem werden Jahr für Jahr etwa 300 zusätzliche Häuser gebaut. Und das
Ende dieses Booms ist längst nicht erreicht. „Es gibt aktuell noch viel zu
wenig Heime (…), hier muss noch sehr viel gebaut werden in den nächsten
Jahren“, sagt zum Beispiel Holger Wittmann, Partner der auf
Pflegeimmobilien spezialisierten Beratungsfirma MFG GmbH.
Er könnte Recht behalten, jedenfalls wenn sich an den Verhältnissen nichts
ändert: Nach einer (eher konservativen) Schätzung des Statistischen
Bundesamts steigt die Anzahl der Pflegebedürftigen bis 2050 von heute 2,9
auf 4,5 Millionen. Werden davon dann genauso viele stationär versorgt wie
heute, bräuchte Deutschland mindestens 5.000 zusätzliche Heime.
## Renditen von bis zu 7 Prozent
Auf diese Zukunft wetten unzählige Investoren. Allein im zweiten Halbjahr
2017 wurden drei große deutsche Altenheimketten von Hedgefonds übernommen.
Für eine davon – Alloheim – war es seit 2008 bereits der dritte
Eigentümerwechsel.
Lukrativ sind solche Investitionen deshalb, weil sich – der
Pflegeversicherung sei Dank – sowohl mit dem Bau als auch mit dem Betrieb
von Pflegeheimen viel Geld verdienen lässt. So viel, dass Privatanlegern –
auch sie können in Heime investieren – Renditen von bis zu 7 Prozent
versprochen werden.
Denn auf dem Markt der Pflegeangebote müssen Gewinne nicht gegen harte
Konkurrenz erkämpft werden, sondern der Staat teilt sie planwirtschaftlich
und pünktlich am ersten des Monats zu.
Die Erbauer von Pflegeheimen werben auf der Suche nach Investoren ganz
offen mit dieser lukrativen Zuteilung, der Satz „Mieteinnahmen staatlich
garantiert“ fehlt in fast keinem Prospekt. Und Geldanleger, die in eine
Pflegeimmobilie investieren, bekommen ihre Rendite sogar dann, wenn einige
Zimmer des Heims vorübergehend leer stehen.
Möglich wird das durch eine trickreiche Konstruktion: Investor und Erbauer
auf der einen und Betreiber des Heims auf der anderen Seite sind zwei
unterschiedliche Firmen. 40 Prozent aller Heime in Deutschland werden nach
diesem Investorenmodell betrieben. Der Betreiber zahlt dem Erbauer eine
pauschale monatliche Pacht, die unabhängig ist von der Belegung des Heims.
Das Geld für diese Pacht stammt zum Großteil aus der Pflegeversicherung.
## Die Bedürfnisse der Menschen werden ignoriert
Die bezahlt so reichlich, dass beide, also Erbauer und Betreiber, an diesem
Modell verdienen. Und hat der Betreiber wegen Leerständen doch mal eine
Durststrecke, kann er mit Arbeitszeitverdichtung und Sparmaßnahmen darauf
reagieren. Ausbaden müssen solche Probleme am Ende also immer Bewohner und
Pflegekräfte, nicht die Investoren.
Es stellt sich die Frage, ob es Zweck einer Sozialversicherung ist,
internationalen Investoren und privaten Geldanlegern traumhafte Renditen
fast ohne Risiko zu bescheren, während jene, zu deren Wohl die Versicherung
einst erfunden wurde – die Heimbewohner – manchmal mit Einwegfeuchttüchern
gewaschen und mit Kissenbezügen abgetrocknet werden müssen, weil das Geld
für Waschlappen und Handtücher fehlt.
Hilfreich aus Sicht der Heimbetreiber ist auch, dass seit Erfindung der
Pflegeversicherung – und ihrer Trennung von der Krankenversicherung – viele
Menschen gegen ihren Willen ins Heim gezwungen werden, die unter anderen
Umständen noch jahrelang in der eigenen Wohnung leben könnten.
Wer zum Beispiel stürzt und sich den Oberschenkelhals bricht, der beantragt
eine stationäre Rehabilitation auf Kosten der Krankenversicherung, also
eine Kur, um wieder auf die Beine zu kommen und nicht ins Heim zu müssen.
Dadurch lässt sich auch eine Menge Geld sparen – allerdings nur das der
Pflegeversicherung. „Für Krankenversicherer zahlt es sich nicht aus, hier
zu investieren“, formulierte die Deutsche Ärztekammer einmal freimütig.
Und deshalb tun sie es auch nicht, sondern sie lehnen solche Rehamaßnahmen
fast immer ab – ohne Rücksicht auf die Konsequenzen. Unser Sozialsystem ist
zu einem Verschiebebahnhof mutiert, der die Bedürfnisse der Menschen
konsequent ignoriert.
## Perfekt organisiertes Versagen
Und in der ambulanten Pflege? Laut Bundeskriminalamt wird hier seit Jahren
von bandenmäßig agierenden Pflegediensten, Ärzten, Apothekern und
Sanitätshäusern betrogen. Die bescheinigen sich gegenseitig Leistungen, die
nie erbracht wurden, und rechnen sie ab. Die Schadenssumme geht in die
Milliarden.
Möglich ist das, weil die allermeisten Pflegebedürftigen ihre Betreuung
nicht bar bezahlen, sondern nur auf einem (für sie kryptischen) Formular
quittieren müssen. Die Bezahlung übernimmt dann ein dritter Akteur: die
Pflegeversicherung. Fast überall dort, wo solche Dreiecksgeschäfte
ablaufen, wird betrogen, weil die Kontrolle versagt.
Unser Pflegesystem sei leider „ein kompliziertes Konstrukt, das kaum jemand
versteht“, wie Eugen Brysch, der Chef der Deutschen Stiftung
Patientenschutz, es einmal ausrückte. Die organisierte Kriminalität nutze
diesen Dschungel für ihre Machenschaften.
All diese Probleme (und noch einige mehr), das ganze perfekt organisierte
Versagen verdanken wir der Pflegeversicherung.
All diese Probleme haben skandinavische Länder nicht, in denen die Kommunen
die Pflege organisieren und aus Steuermitteln bezahlen. Genau diesen Weg
sollten wir auch in Deutschland gehen.
Oder besser gesagt: Wir müssen. Weil die Pflegeversicherung gerade dabei
ist, sich schrittweise selbst abzuschaffen. Im vergangenen Jahr produzierte
sie – trotz Beitragserhöhung Anfang 2017 – einen Verlust von 2,4 Milliarden
Euro. Die noch vorhandene Beitragsreserve beläuft sich auf 6,92 Milliarden,
das heißt, sie wird nicht mehr lange reichen, zumal die Kosten in den
kommenden Jahren weiter drastisch steigen.
Die Politik gibt vor, von den Verlusten überrascht worden zu sein. Nachdem
der vorherige Gesundheitsminister Hermann Gröhe noch Anfang 2017
versprochen hatte, den Beitrag bis 2022 stabil zu halten, kündigte sein
Nachfolger Jens Spahn nur anderthalb Jahre später an, den Satz schon 2019
erneut anzuheben, zum vierten Mal in sieben Jahren.
## Radikaler Systemwechsel nötig
Dabei wären die von der Bundesregierung aktuell beschlossenen Wohltaten
noch gar nicht eingepreist. Sie sind davon auch nicht zu bezahlen. Deshalb
hat der Minister angekündigt, die versprochenen 13.000 zusätzlichen
Pflegekräfte für Heime nicht aus Mitteln der Pflegeversicherung, sondern
aus Überschüssen der Krankenversicherung bezahlen zu wollen.
Ein klareres Eingeständnis, dass die Versicherung gescheitert ist, gibt es
nicht. Es lautet: Wir haben zwar eine Pflegeversicherung, aber deren Mittel
reichen nur für Minutenpflege und Vernachlässigung. Wenn wir darüber hinaus
eine bessere Versorgung und mehr Personal wollen, dann muss das Geld dafür
woanders herkommen.
Außerdem sind 13.000 zusätzliche PflegerInnen der berühmte Tropfen auf den
heißen Stein. Es gibt in Deutschland aktuell fast 13.000 Heime, jede
Einrichtung bekäme also statistisch eine zusätzliche Kraft.
Wohlgemerkt, bekäme. Denn schon die 13.000 gesuchten PflegerInnen werden
wir nicht finden, weil den Job unten den herrschenden Bedingungen fast
niemand machen will. Ändern ließe sich auch das nur durch einen radikalen
Systemwechsel. Gegner eines solchen Wechsels wenden vor allem ein, ohne
Pflegeversicherung, ohne ihr Zeitdiktat und ihre „Leistungskomplexe“ würde
die Pflege deutlich teurer als bisher.
Sie haben Recht. Aber teurer wird sie auch mit Pflegeversicherung. Erst
recht, wenn wir uns mit den herrschenden Verhältnissen nicht mehr abfinden
wollen. Wir sollten endlich bereit sein, für die Pflege mehr Geld in die
Hand zu nehmen. Schweden und Dänemark geben hier – relativ – wesentlich
mehr aus als Deutschland: Geld, das bei den alten Menschen ankommt.
Auch eine Steuererhöhung zugunsten der Pflege – beziehungsweise der
Verzicht auf Steuersenkungen – darf kein Tabu sein. Und sie wäre
vermittelbar, zumal wir alle durch den Wegfall des
Pflegeversicherungsbeitrags zugleich entlastet würden.
30 Jun 2018
## AUTOREN
Christoph Lixenfeld
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