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# taz.de -- Debatte Pflegenotstand: Von Schweden lernen
> Die Pflege in Deutschland ist in einem katastrophalen Zustand. Für eine
> Verbesserung sollte sich die Regierung an Skandinavien orientieren.
Bild: In Berlin demonstrieren Pflegekräfte für bessere Arbeitsbedingungen
Der Pflegenotstand in Deutschland beherrscht nicht nur mediale Schlagzeilen
und Talkshows, sondern auch den Alltag von immer mehr pflegebedürftigen und
pflegenden Menschen. Die Koalitionsvereinbarung der GroKo Neuauflage
enthält eine Fülle von Einzelvorschlägen auch für die Gewinnung von
Pflegekräften. Allerdings beschränken diese sich eher auf ein
[1][Herumkurieren an Symptomen]. Die Wurzeln des Pflegenotstands können sie
kaum anpacken.
Die Aufstockung der Vollzeitstellen für Pflegekräfte als Sofortprogramm ist
ein Tropfen auf den heißen Stein, ebenso die von Bundesgesundheitsminister
Jens Spahn verkündete Verbesserung der Entlohnung, auch durch die
Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge. Vielmehr bedarf es einer
[2][grundsätzlichen Reform des Pflegesystems], wie es insbesondere in
Schweden schon seit Jahren praktiziert wird.
Dort besteht seit vielen Jahren eine Vollversorgung in der Kranken- und
Altenpflege, die durch die Kommunen bürgernah organisiert und aus Steuern
finanziert wird. Die beitragspflichtige Pflegeversicherung in Deutschland
ist hingegen nur eine Teilversicherung auf Bundesebene. Entsprechend
geringer sind in Deutschland die finanziellen Ressourcen und damit auch die
Pflegeleistungen. Gemessen am Bruttosozialprodukt sind die Ausgaben für die
öffentliche Pflege in Schweden etwa dreimal so hoch. Dafür machen die
privaten Kosten nur wenige Prozente aus, während sie in Deutschland etwa
die Hälfte betragen und nach wie vor ein großer Teil der Pflege in den
Familien selbst – und damit vor allem von Frauen – erbracht wird.
Besonders eklatant ist der hohe Anteil kommerzieller Pflegeeinrichtungen in
Deutschland – mit den bekannten gravierenden Nachteilen für
Pflegebedürftige und Pflegekräfte. Dagegen sind in Schweden, wie in den
übrigen skandinavischen Ländern, die Altenpflegeeinrichtungen in
öffentlicher Verantwortung. Der Personalschlüssel – nur der Hälfte der
Pflegebedürftigen auf eine Pflegekraft – ist erheblich günstiger. Das ist
eine wesentliche Voraussetzung sowohl für die Qualität der Pflege als auch
die Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte.
## Fachliches Potential der Migranten
Besondere Herausforderungen ergeben sich in Schweden wie in Deutschland bei
der Integration von MigrantInnen einschließlich AsylbewerberInnen in die
Gesundheits- und Pflegeberufe. Trotz höherer Geburtenrate steigt auch in
Schweden der Bedarf an Pflegeleistungen schon allein durch die Erhöhung der
Lebenserwartung. Zudem gibt es auch hier den „Brain Drain“ durch
Abwanderung von Fachkräften in andere skandinavische Länder mit besseren
Löhnen und Arbeitsbedingungen, insbesondere Norwegen.
Dabei ist Schweden anderen Ländern bereits einige Jahre voraus in der
Ausschöpfung der fachlichen Potenziale von MigrantInnen, vor allem was den
Erwerb sprachlicher Voraussetzungen und der erforderlichen Qualifikationen
beziehungsweise deren Anerkennung betrifft.
Allerdings ist auch hierbei in Schweden nicht alles Gold, was glänzt. So
ist die Arbeitslosigkeit unter MigrantInnen und AsylbewerberInnen nach wie
vor hoch und die Eingliederung in die Pflegeberufe auf Grund sprachlicher
und kultureller Defizite gering.
Gravierende Unterschiede gibt es auch in der Aus- und Weiterbildung, in
Deutschland eine besondere Schwachstelle. Die durch das kürzlich
verabschiedete Pflegeberufereformgesetz eingeleiteten Verbesserungen sind
erste Schritte, vor allem zu größerer Transparenz, Gemeinsamkeit und
öffentlicher Finanzierung, ändern jedoch wenig an der „scharfen Kante“ der
Abgrenzung zwischen praktischer und akademischer Ausbildung. Während die
Ausbildung in Deutschland für die Gesundheits- und Pflegeberufe weitgehend
unterhalb einer akademischen Bildung erfolgt, ist dies in Schweden
umgekehrt. So liegt gerade ein Schwerpunkt der akademischen Bildung – mit
Bachelorabschlüssen, Masterprogrammen sowie weiterführenden Studiengängen
bis zur Habilitation – darauf, hoch qualifizierte Arbeitskräfte für die
Pflegeberufe zu gewinnen.
Das Berufsfeld Pflege ist also durchlässiger als in Deutschland und
weitgehend ohne Altersbeschränkung. Dies erhöht nicht nur die Attraktivität
und die Arbeitsbedingungen dieser Berufe, sondern ermöglicht auch eine
höhere Qualität der Pflegeleistungen. Der Aufstieg von einfacher
Krankenpflege oder Hebammentätigkeit bis zu Top-Positionen in Management,
Wissenschaft und Forschung ist für zumeist Frauen über 50 oder auch 60
Jahren keine Seltenheit. Ein hohes Maß an durchlässiger lebenslanger
Qualifizierung gibt es aber auch für die Helfertätigkeiten.
Einen wichtigen Beitrag zur Gewinnung und Beschäftigung von Arbeits- und
Fachkräften für die Pflege leistet auch die in Schweden bei Weitem bessere
öffentliche Kinderbetreuung. Dies dürfte auch dazu beitragen, dass deutlich
mehr Pflegekräfte in Vollzeit oder Teilzeit mit höherer Stundenzahl
arbeiten und länger in ihrem Beruf verbleiben. So beträgt die überwiegende
Mehrzahl der Teilzeitarbeit in den Pflegeberufen in Schweden zwischen 25
und 34 Stunden. Gravierend sind die Unterschiede vor allem für eine
Stundenzahl unter 20 Stunden in der Woche: Während in Deutschland viele
Helfertätigkeiten in diesen Minijobs organisiert sind, betrifft Teilzeit
mit unter 20 Stunden in Schweden lediglich eine Minderheit und wird vor
allem als Einstieg oder Ausstieg eingesetzt.
Die Bundesregierung wäre also gut beraten, an Stelle eines wenig
überschaubaren Aktionismus in Gesetzgebung und Praxis nachhaltige Lösungen
zu suchen, wie sie in Schweden bereits gang und gäbe sind. Damit würde sie
die Tarifpolitik der Gewerkschaften für bessere Löhne, Arbeitsbedingungen
und Ausbildung wirksam unterstützen. Und dies ist die beste Strategie zur
Bekämpfung des Pflegenotstandes.
20 May 2018
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## AUTOREN
Ursula Engelen-Kefer
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