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# taz.de -- Sozialverbände drohen mit Ausstieg: Streit um Pflege-Finanzierung
> Die Sozialverbände Diakonie und AWO in Niedersachsen wollen mehr Geld für
> die ambulante Pflege von den Kassen. Sie drohen, andernfalls aus der
> Pflege auszusteigen.
Bild: Schlecht bezahlt und unter Zeitdruck: Pflegerin beim Hausbesuch
Hamburg taz | Die Diakonie und die Arbeiterwohlfahrt (AWO) drohen an, sich
aus der ambulanten Pflege in Niedersachsen zurückziehen. Als Grund nennen
sie die mangelhafte Finanzierung von Pflegeleistungen durch die Kassen.
Wenn sich dieser Zustand nicht ändere, „dann müssen wir unseren
Mitgliedseinrichtungen empfehlen, ihre Arbeit in der ambulanten Pflege
einzustellen“, sagt Rüdiger Becker, Vorstandsvorsitzender des Diakonischen
Dienstgeberverbands Niedersachsen (DDN) dem NDR-Magazin „Hallo
Niedersachsen“. Landesweit würde ein Ausstieg 16.000 Pflegebedürftige und
5.000 Pfleger*innen betreffen. Das könnte den Pflegenotstand noch
verstärken.
Im Gegensatz zu anderen Anbietern von ambulanter Pflege sind AWO und
Diakonie tarifgebunden. Das berücksichtigen die Kassen in ihren Augen
jedoch nicht genug. Die Pflegedienste berufen sich auf die Bilanzen der
AWO, Diakonie, Caritas und kommunaler Anbieter von 2016: Von 87
repräsentativen Pflegediensten schreiben demnach 63 Dienste – also fast
drei Viertel – rote Zahlen. Hans-Joachim Lenke vom Diakonischen Werk in
Niedersachsen sagt: „Ohne eine vernünftige Refinanzierung ist der Grundsatz
‚ambulant vor stationär‘ nicht umsetzbar.“
Wenn die beiden großen Pflegeanbieter wirklich Ernst machen, könnte die
Zukunft der Pflege düster aussehen. „Das wäre die Katastrophe schlechthin�…
sagt Stefan Görres, Pflegeforscher an der Uni Bremen. Er zweifelt jedoch an
ernsten Ausstiegsabsichten von AWO und Diakonie: „Sie haben gute Karten
jetzt Druck zu machen.“ Druck könne dabei sowohl auf die Pflegekassen als
auch auf die Politik ausgeübt werden.
Pia Zimmermann, Sprecherin für Pflegepolitik der Linken im Deutschen
Bundestag, moniert, dass von den Pflegekassen nicht einmal Tariflöhne
finanziert würden. „Der Pflegenotstand wird so von etlichen Akteuren
bewusst verschärft“, sagt Zimmermann. Sie betont, dass in der ambulanten
Pflege eine Lohnlücke von etwa 900 Euro zu Beschäftigten in Krankenhäusern
bestehe. „Da ist es kein Wunder, dass viele Pflegedienste aufgeben.“
Auch Stefan Görres von der Uni Bremen sorgt sich wegen der schlechten
Finanzierung der Pflege. „Das führt schon jetzt dazu, dass ambulante
Pflegedienste Anfragen von Pflegebedürftigen gar nicht mehr annehmen
können“, sagt er. Bereits 2018 hatten Pflegeverbände genau vor diesem
Szenario gewarnt und teils sogar bestehende Pflegeverträge gekündigt.
Der Verband der Ersatzkassen (VDEK) wehrt sich gegen die Vorwürfe von AWO
und Diakonie. In einer Stellungnahme an den NDR schreibt er: „Die Kassen
verhandeln die Preise in der Altenpflege nicht im eigenen finanziellen
Interesse.“ Vielmehr stünden die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen im
Mittelpunkt. Eine Preiserhöhung würde unmittelbar dazu führen, „dass
Pflegebedürftige weniger Pflege in Anspruch nehmen können oder aber sie
oder ihre Angehörigen mehr dazuzahlen müssen“.
## Externe Berater
Der VDEK kritisiert zudem, dass die Verbände viel Geld für externe Berater
ausgäben, um „völlig überzogene Forderungen“ zu entwickeln. Das löse ei…
unrealistische Erwartungshaltung bei den Pflegediensten aus. Den
Pflegeanbietern wirft er vor, „mit den Ängsten der Menschen zu spielen“.
Das sieht die Diakonie anders. „Mit dem neuen Kalkulationsschema können wir
unsere Kosten lückenlos belegen“, kontert Lenke. Eine externe Beratung habe
die Diakonie hinzugezogen, „weil seit Jahren der ambulante Dienst
unterfinanziert ist“.
Der Kassenzuschuss für Pflegeleistungen ist je nach Pflegegrad einer Person
gedeckelt, für den Rest müssen die Pflegebedürftigen oder ihre Angehörigen
selbst zahlen. Görres hält es wie der VDEK zumindest für möglich, dass auch
der Eigenanteil steigt, wenn die Pflegedienste insgesamt besser finanziert
werden.
Für ihn stellt die Drohung von AWO und Diakonie aber einen „Angriff auf das
Gesamtsystem der Pflege“ dar. Eine Lösung wäre für ihn, den Eigenanteil von
Pflegebedürftigen zu deckeln und die Kassen verstärkt für Leistungen in die
Pflicht zu nehmen. Langfristig müsse die Pflege durch Steuern finanziert
werden. Diese Idee wird aufgrund einer Initiative des Hamburger rot-grünen
Senats zurzeit auch im Bundesrat diskutiert.
## Schiedsgericht angerufen
Ein weiterer Streitpunkt zwischen Kassen und Pflegeanbietern ist die
Übernahme von Wegekosten, die bisher nur zur Hälfte übernommen werden.
Problematisch ist Hans-Joachim Lenke vom Diakonischen Werk zufolge zudem
ein ständiger Zeitdruck. „Wir brauchen mehr Zeit in der Pflege“, sagt er.
Deshalb fordert er eine Weiterentwicklung der Zeitvergütung.
Das ist insofern bemerkenswert, da 2017 noch eine Minutenpflege in der
Branche als tabu galt. Der Pflegeforscher Stefan Görres bezeichnet die
Zeitvergütung als ehrlicher. „Pflegekräfte bleiben in der Praxis ja doch
oft länger“, sagt er. Das müsse auch bezahlt werden.
Ob sich doch noch ein Kompromiss zwischen Pflegeanbietern und Kassen
findet, soll ein Schiedsgericht bei einem Termin am Donnerstag und im April
klären.
19 Mar 2019
## AUTOREN
Jana Eggemann
## TAGS
Pflegekräftemangel
Krankenkassen
Diakonie
Pflege
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