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# taz.de -- Pflegegesetz mit Nebenwirkungen: Angehörige im Ausnahmezustand
> Paradox: Wegen des Pflegestärkungsgesetzes wandern Fachkräfte von
> ambulanten Diensten ab. Familien müssen zu Hause vermehrt einspringen.
Bild: Familie Behrendt: Sohn Jascha braucht immer jemanden an seiner Seite – …
Berlin taz | Die Anrufe kommen manchmal nur eine Stunde vorher: „Tut uns
leid, aber für die nächste Schicht können wir leider niemanden schicken“,
teilt der Pflegedienst dann mit. Was bedeutet, dass Markus Behrendt oder
seine Frau Christine einspringen müssen.
Vor 13 Jahren hatte Sohn Jascha einen Fahrradunfall und brach sich den
obersten Halswirbel. Der heute 18-Jährige muss seitdem rund um die Uhr
versorgt werden: Das Beatmungsgerät muss überwacht, der Schleim abgesaugt
werden und er muss korrekt umgelagert werden. Fallen seine Pflegerinnen
wegen Krankheit oder Urlaub aus, gibt es keinen Ersatz und die Eltern
müssen die intensivmedizinische Versorgung alleine leisten. Die
Grundpflege, Waschen, Ernährung, Kommunikation, das machen sie ohnehin.
„Es wird von Jahr zu Jahr schwieriger, Fachkräfte für die ambulante
Intensivpflege zu finden“, sagt Markus Behrendt. Der Ingenieur ist auch
Vorsitzender des Vereins [1][IntensivLeben] in Kassel. „Das Überleben von
schwer erkrankten Kindern und Jugendlichen ist durch Pflegekräftemangel
zunehmend gefährdet“, warnt Behrendt und findet: Das von
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) eingeführte
[2][Pflegepersonal-Stärkungsgesetz] habe die Situation verschärft. Es ist
eine Nebenwirkung, die so politisch wohl nicht intendiert war.
## Examinierte wechseln in Kliniken und Heime
Das Gesetz erlaubt es Krankenhäusern und Pflegeheimen, zusätzlich
medizinisches Pflegepersonal einzustellen, das von den Kassen refinanziert
wird. Doch das verschärft die Konkurrrenz um knappes Pflegepersonal. Und
zwar zulasten ambulanter Dienste, die sich etwa um Menschen wie Jascha
Behrendt kümmern.
„Das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz bevorteilt die Akutkrankenhäuser bei
der Anwerbung von Pflegefachkräften“, sagt Bernd Tews, Geschäftsführer des
Bundesverbands privater Anbieter sozialer Dienste (bpa). „Die Krankenhäuser
werden durch das Gesetz in die Lage versetzt, jede gewünschte Pflegekraft
einzustellen und sofort tariflich zu entlohnen.“ Krankenhäuser bezahlen
häufiger nach Tarif als ambulante Dienste. Das bestätigt auch Thorsten
Weilguny, Referent bei der Bundesarbeitsgemeinschaft Hauskrankenpflege
(B.A.H): „Im ambulanten Bereich haben wir keine so hohe Tarifbindung“.
Im stationären Bereich könnten Fachkräfte, die eine dreijährige Ausbildung
absolviert haben, bis zu 1.000 Euro mehr im Monat verdienen als bei den
ambulanten Diensten, sagt Behrendt. Die Folge: Fachkräfte wandern ab. Auch
einige von Jaschas Pflegerinnen kündigten und wechselten in den stationären
Bereich.
## Familien werden zum Sozialfall
Wer einen schwer pflegebedürftigen Angehörigen zu Hause versorgt und dafür
intensivpflegerische Hilfe etwa bei der Beatmung benötigt, muss einen
Pflegedienst finden, der die nötigen Fachkräfte beschäftigt und überdies
bereit ist, mit den Krankenkassen mühselig einen Vertrag über die
Versorgung auszuhandeln. Behrendt und sein Verein fordern eine eigene
Rahmenvereinbarung für die Pflege intensivpflichtig erkrankter junger
Menschen. Damit entfielen die im Einzelfall zermürbenden Verhandlungen mit
den Kassen.
Offizielle Zahlen gibt es nicht, aber der Verein geht von rund 2.000
Familien aus, die Intensivpflegefälle zu Hause versorgen. Und dabei an
Grenzen und darüber hinaus gehen.
Behrendt selbst hat nach Jaschas Unfall seine Arbeitszeit halbiert,
inzwischen arbeitet er auf einer 90-Prozent-Stelle. Seine Frau gab ihren
Beruf als Krankenschwester in der Palliativmedizin auf und ist jetzt in
Teilzeit Beraterin im Verein. Er kenne viele Familien mit
intensivpflegebedürftigen Kindern, denen es schlechter gehe, sagt Behrendt.
Eine Familie, die schlichtweg keinen Pflegedienst mit den erforderlichen
Fachkräften fand, habe die Pflege aus Not vollständig selbst übernommen.
„Das ist eine Überforderung“, sagt Behrendt. In einer anderen Familie seien
die Geschwisterkinder zu den Großeltern gezogen, weil die Eltern völlig mit
der Pflege des schwerkranken Kindes beschäftigt sind. In einem weiteren
Fall konnten die Eltern den Familienbetrieb nicht aufrechterhalten, weil
die Pflege alle Kraft brauchte. Die Familie wurde zu einem Fall für die
Grundsicherung.
## Pflegegehälter auch für Angehörige
Solche Fälle thematisiert auch Arnold Schnittger, der erste Vorsitzende des
Vereins Nicos Farm. Schnittger betreut seinen schwerstbehinderten Sohn
Nico, heute 24, alleine. Nico braucht keine apparategestützte
Intensivpflege, ist aber geistig und körperlich schwerstbehindert und muss
rund um die Uhr versorgt werden.
Schnittger rief jetzt die Facebook-Gruppe [3][„Pflegerebellen“] ins Leben.
Viele der über 1.300 Mitglieder haben pflegebedürftige Kinder. In der
Gruppe schildern Eltern von Autisten, Spastikern und anderen Kindern mit
schweren Behinderungen ihren Alltag, ihre Kämpfe mit Krankenkassen,
Behörden, Pflegediensten. „Die meisten von ihnen pflegen unter
katastrophalen Bedingungen“, sagt Schnittger.
Schnittger, selbst im Rentenalter, möchte unter anderem erreichen, dass die
Pflege von Angehörigen nicht zu Armut führt. „Es kann nicht sein, dass man
in Hartz IV landet, weil man pflegt“, sagt er. Er fordert ein Grundgehalt
von 1.200 bis 1.400 Euro im Monat für alle pflegenden Angehörigen. Am 13.
August wollen die Pflegerebellen bundesweit für ihre Forderungen
demonstrieren.
25 Jul 2019
## LINKS
[1] http://www.intensivleben-kassel.de/IntensivLeben/Startseite.html
[2] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/sofortprogramm-pflege.html#c131…
[3] https://www.facebook.com/search/top/?q=Pflegerebellen&epa=SEARCH_BOX
## AUTOREN
Barbara Dribbusch
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