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# taz.de -- Arbeit in der 24-Stunden-Pflege: In der Grauzone
> 24-Stunden-Pflege zu Hause: Eine rechtliche Regulierung muss eine
> Sensibilität für Rechte und Pflichten auf allen Seiten herstellen.
Bild: um legales Handeln bemühte Familien scheitern an der derzeitigen Rechtsl…
Derzeit kommt Bewegung in die Frage, wie zukünftig rechtlich mit der
sogenannten [1][24-Stunden-Pflege] umzugehen ist. Hierbei handelt es sich
um Betreuungsarbeiten in Privathaushalten älterer und hochaltriger
Menschen, die durch zumeist Frauen aus den osteuropäischen Mitgliedstaaten
erbracht werden.
Weil in dieser Form der häuslichen Betreuung in der Regel
Höchstarbeitsgrenzen überschritten werden und eine explizite rechtliche
Regelung fehlt, ist sie sehr umstritten. Die öffentliche Debatte war
allerdings in den letzten Jahren vor allem von Empörung gezeichnet –
weniger von Gestaltungsoptionen. Eine politische Regulierung verspricht nun
erstmalig und schwarz auf weiß der Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien.
Es ist eine schwierige Balance: Einerseits fürchten manche, dass zu stark
in diesen Wohlfahrtsmarkt eingegriffen wird (die Beteiligten könnten wieder
auf den Schwarzmarkt abwandern). Andererseits muss Rechtssicherheit für
statusrechtliche Verbesserungen geschaffen werden. Welche rechtliche
Antwort auch gefunden wird, sie sollte bedenken, dass geschaffenes Recht
nicht immer eins zu eins von den Betroffenen umgesetzt wird.
Bisher sieht die Realität in den Haushalten oftmals so aus, dass die
pflegebedürftigen Personen beziehungsweise deren Familien von einer
durchgängigen Einsatzbereitschaft der [2][Betreuungskraft] ausgehen und
eher selten bewusst Arbeitsunterbrechungen schaffen. Vielmehr betonen sie,
dass der Alltag im Pflegesetting an sich schon viel Freizeit böte –
herangezogen werden dann „gemeinsame Fernsehabende“ oder das „Rumsitzen�…
Letztlich also Kategorien, die das Arbeitsrecht nicht kennt. Oft scheint es
sogar so, als würde jegliches bekannte Wissen über das Arbeitsrecht an der
Türschwelle abgelegt und würden im Privathaushalt andere Maßstäbe angewandt
– und verteidigt (Ausnahmen bestätigen die Regel). Wird dann doch mal über
notwendige Pausenzeiten verhandelt, wird dies nicht selten mit eigenen
Erfahrungen der Angehörigen begründet (im Sinne von: „Ja, mir wäre das auch
zu viel“) oder als Kurzurlaub idealisiert („Dann kann die Dame mal mit dem
Rad an den See fahren“).
Ähnlich sieht es mit den Erwartungshaltungen in den Haushalten aus: Viele
Pflegebedürftige oder deren Angehörige gehen davon aus, die Betreuungskraft
allein hätte sich anzupassen. Sicher stimmt dies in der Tendenz, denn die
abhängige pflegebedürftige Person braucht für ihre Lebensführung externe
Hilfe. Aber ob die Anpassung gänzlich einseitig sein muss?
In einem Beispiel meiner Forschung äußert ein pflegender Angehöriger, dass
die Betreuungskräfte gut acht Wochen bräuchten, bis diese sich in das
Know-how ihres persönlichen Alltags eingearbeitet hätten, denn das Niveau
des „polnischen Dorfhaushaltes“ reiche nicht aus. Hier wird die
Betreuungskraft und deren Herkunft pauschal abgewertet. Es sind solche und
zahllose weitere Annahmen, die dazu führen, dass den Betreuungskräften das
Leben in den Privathaushalten oft sehr schwer gemacht wird.
Hier kann auch eine rechtliche Regulierung kaum korrigieren, solange die
Betroffenen selbst davon ausgehen, nichts zu einem gelingenden, gegenseitig
wertschätzenden Arbeitsverhältnis beitragen zu müssen. Zwar kann per Gesetz
die Prekarität der Live-in-Arbeit behoben, nicht aber zwingend auch auf die
Sichtweise der Einzelpersonen eingewirkt werden.
Diese ist aber für die alltäglichen Interaktionen in den Haushalten, die
zwischenmenschliche Ebene, enorm wichtig. Es existieren auch positive
Gegenbeispiele: Familien, die einen Achtstundentag strikt umsetzen, die
selbst viel vor Ort sind und sehr wertschätzend mit den Arbeitskräften
umgehen. Gegen diese individuellen Erfolgsgeschichten ist gar nichts
einzuwenden; bis auf den Umstand, dass Sympathie und Dank weder
Rechtssicherheit und geregelte Arbeitszeiten noch gute Löhne ersetzen
können.
Und auch um legales Handeln bemühte Familien scheitern an der derzeitigen
Rechtslage, denn oftmals unterliegen die komplexen Vertragswerke
europäischen Regelungen. Beispielhaft im Falle der komplexen
[3][Arbeitnehmerentsendung]: Ist eine Betreuungskraft entsandt, verbleiben
der Arbeitgeber und das Weisungsrecht formal im Heimatland.
Die Pflegebedürftigen oder deren Angehörigen vor Ort dürfen selbst keine
arbeitsrechtlichen Weisungen erteilen. So telefonieren die Familien dann
nach Polen, Kroatien oder Bulgarien, um dem dortigen Entsendeunternehmen
mitzuteilen, die Betreuungskraft (die mitunter absurderweise gerade neben
ihnen steht) möge fortan das Frühstück eine halbe Stunde später anrichten.
Solche Stilblüten bringt es mit sich, wenn die Familien die Rechtslage der
innereuropäischen Arbeitskräftemobilität ernst nehmen.
Immer wieder wird diskutiert, ob in Deutschland nicht eine Regelung
eingeführt werden könnte, welche den Betreuungskräften den Rechtsrahmen
einer Selbständigkeit anbietet. Doch die Erfahrungen aus Österreich, wo
dieses Modell dominiert, zeigen, dass damit weiterhin das Risiko auf den
Schultern der einzelnen Pflegekraft bleibt.
Bis dato profitiert dieser Schattenarbeitsmarkt besonders von den
unbekannten Schaltstellen; von intransparenten Geldflüssen, Arbeitgebern im
Ausland, ineffizienten Kontrollen und von der Abwesenheit neutraler
Kontaktstellen für die Klärung alltäglicher Belange und Probleme. Dies sind
nur einige der Symptome, die ein unregulierter grauer Arbeitsmarkt
hervorbringt, vor dem die Politik bisher die Augen verschlossen hielt.
Um aber die an einem Live-in-Setting beteiligten Parteien –
Betreuungskraft, Pflegebedürftige und Angehörige – und die zu verrichtende
Arbeit juristisch greifbar zu machen, geht kein Weg daran vorbei, das
Setting als Angestelltenarbeitsverhältnis festzuschreiben. Live-ins sollten
künftig Arbeitnehmer*innen und Haushalte Arbeitgeber werden – mit
allen Rechten und Pflichten.
23 Dec 2021
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## AUTOREN
Verena Rossow
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