| # taz.de -- Steigende Löhne für PflegerInnen: Das Dilemma der Schwachen | |
| > Eine 89-Jährige kann ihre Pflege nicht mehr finanzieren, weil die | |
| > PflegerInnenlöhne gestiegen sind. Über die Folgen einer gut gemeinten | |
| > Initiative. | |
| Bild: Pflege zuhause: Für Angehörige von Pflegebedrüften teils kaum noch zu … | |
| Berlin taz | Es ist doch eigentlich eine gute Nachricht: Wer in der | |
| Sozialstation der Diakonie in Berlin als Pflegekraft arbeitet, bekommt mehr | |
| Geld. Von etwas über 13 Euro auf fast 16 Euro ist der Stundenlohn einer | |
| [1][Altenpflegehelferin in den Diakonie-Stationen seit 2019 gestiegen.] Von | |
| knapp 17 Euro auf fast 20 Euro kletterte das Bruttoentgelt einer | |
| examinierten Altenpflegerin. Das ist das, was alle immer wollen: eine | |
| bessere Bezahlung in der Pflege. Doch für die Berlinerin Brigitte Salbach, | |
| 89 Jahre, ist das Leben dadurch schwerer geworden. | |
| „Von ihrer Rente kann meine Schwiegermutter den höheren Eigenanteil für | |
| ihre ambulante Pflege nicht mehr bezahlen“, sagt Brigitte Salbachs | |
| Schwiegertochter Gise. „Ich unterstütze gute Tarife im Pflegedienst. Aber | |
| die Erhöhungen dürfen nicht nur an den Pflegebedürftigen hängen bleiben.“ | |
| Im Fall von Brigitte Salbach, die in Wirklichkeit anders heißt, ist der | |
| Eigenanteil um 400 Euro im Monat gestiegen. 650 Euro verlangt der ambulante | |
| Pflegedienst der Diakonie nun von der hochaltrigen Rentnerin als | |
| Eigenbeitrag. In einem Schreiben des Pflegedienstes heißt es: Nach | |
| „Abschluss einer Vergütungsvereinbarung mit den Kostenträgern“ werden die | |
| „Preise der Leistungskomplexe für 2021 um 20,94 Prozent gesteigert“. | |
| Das Beispiel von Brigitte Salbach zeigt, wie sich Lohnsteigerungen | |
| auswirken, wenn sie eins zu eins auf die Pflegebedürftigen übertragen | |
| werden. Wenn Schwache – nämlich die Gebrechlichen – von anderen Schwachen … | |
| den hoch belasteten und mäßig bezahlten Pflegekräften – abhängig sind und | |
| umgekehrt. Der Fall zeigt aber auch, wie teuer Pflege heute schon ist. Auch | |
| wenn man, wie Salbach, nicht bettlägerig ist, sondern nur etwas Hilfe beim | |
| Aufstehen und Waschen und bei den Mahlzeiten braucht. | |
| ## Jede Leistung jetzt teurer | |
| Die 89-Jährige hat den Pflegegrad 3. Am Morgen kommt eine PflegerIn der | |
| Diakonie-Station und macht bei Salbach die sogenannte Kleine Körperpflege. | |
| Dazu gehören Aus- und Ankleiden, Waschen des Oberkörpers und Intimbereichs, | |
| Zahnpflege, Kämmen. 14,70 Euro kostet die Dienstleistung jeden Morgen. Vor | |
| der Lohnerhöhung, noch im Januar, verlangte der Pflegedienst nur 11,70 Euro | |
| für diese Unterstützung. Die Pflegerin hilft der alten Dame auch beim | |
| Frühstück und kommt dann nochmal später und macht das Abendessen. Die | |
| Zubereitungen der „Kleinen Mahlzeiten“ am Morgen und am Abend kosten | |
| jeweils 6,40 Euro. Vor der Lohnerhöhung waren es 5,10 Euro. | |
| Die täglichen Anwesenheitszeiten der Pflegekräfte schwanken, hat die | |
| Schwiegertochter bei genauerer Beobachtung festgestellt. Im Schnitt | |
| verbringen die PflegerInnen zwischen 40 und 60 Minuten am Tag in der | |
| Wohnung von Brigitte Salbach, die alleine lebt. Es kann auch mal länger und | |
| mal kürzer sein. | |
| Mit der Hilfe zum Duschen einmal wöchentlich, dem Putzen der Wohnung | |
| zweimal wöchentlich, den An- und Abfahrten und einem zusätzlichen | |
| Abrechnungsposten von zweimal täglich „Betreuung 6 Minuten“ – ein | |
| Zeitfenster, das Gespräche oder Organisatorisches abdecken soll – und | |
| Einsatzpauschalen summiert sich der Aufwand auf 1.870 Euro an monatlichen | |
| Pflegekosten. | |
| Vor der Lohnerhöhung waren es 1.480 Euro gewesen. Die Pflegeversicherung | |
| trägt von den Kosten 1.298 Euro, dieser Satz ist nicht gestiegen. Salbach | |
| muss außerdem noch eine „Servicepauschale“ und „Investitionskosten“ | |
| bezahlen. | |
| ## Warum muss das so teuer sein? | |
| Monatlich fast 2.000 Euro kostet also die Pflege einer Hochaltrigen, die | |
| nur zweimal am Tag, vielleicht jeweils für eine halbe Stunde, etwas Hilfe | |
| braucht, plus ein paar Extraleistungen ab und an wie das Duschen und | |
| Putzen. | |
| Die Sozialstationen legen ihre Kalkulationen nicht offen, aber im Internet | |
| kann man Beispiele dazu nachlesen. Mit den Einnahmen von Brigitte Salbach | |
| bezahlt die Diakonie-Station die Bruttolöhne der PflegerInnen samt | |
| Arbeitgeberanteil der Sozialversicherungen und Wochenendzuschläge sowie | |
| Kranken- und Urlaubstage, Weiterbildungszeiten und Fahrtzeiten. Mit dem | |
| Pflegepreis müssen auch die Kosten für die Verwaltung und Logistik der | |
| Sozialstationen, Büromieten, Fahrzeuge und Investionen abgedeckt werden. | |
| Eine Einheit der besagten „Betreuung 6 Minuten“, Leistungskomplex 20, wird | |
| Brigitte Salbach laut Abrechnung jetzt mit 7 Euro in Rechnung gestellt. | |
| Eine Einsatzstunde vor Ort muss mit allen abgerechneten Leistungen rund 70 | |
| Euro bringen. Nur ein kleiner Teil des Geldes kommt bei den PflegerInnen | |
| als Stundenlohn an. Die Preissteigerungen für die Leistungen in Höhe von 20 | |
| Prozent sind höher ausgefallen als der Zuwachs bei den Tariflöhnen allein. | |
| Das sei „unverständlich“, rügt Gise Salbach. | |
| „Wir haben uns nach der Preissteigerung nach anderen Pflegediensten | |
| umgesehen“, erzählt die Schwiegertochter, die Wert darauf legt, dass sie | |
| mit der Qualität der Pflege durch die Diakonie-Station ansonsten zufrieden | |
| sei. „Es geht mir nur um die Kostensteigerungen.“ Es sei aber schwer, | |
| jemand anderen zu finden. Die alte Dame, eine Diabetikerin, bekommt von der | |
| Diakonie-Station auch noch krankenpflegerische Versorgung, die von der | |
| Krankenkasse bezahlt wird. Diese doppelte Versorgung kann nicht jeder | |
| Pflegedienst leisten. | |
| ## „Flexible“ Abrechnung | |
| Ein privater Pflegedienst, der niedrigere Preise für die Leistungen | |
| verlangte, forderte von Salbach, im Falle eines Vertragsabschlusses in die | |
| Abrechnung „tägliches Duschen“ aufzunehmen, damit sich die Anfahrt und der | |
| Aufwand für den Dienst überhaupt lohne. | |
| Letztlich fand sich eine Lösung mit der Diakonie-Station, die ein Licht | |
| wirft auf die flexiblen – man könnte auch sagen: nicht ganz transparenten – | |
| Abrechnungsmodalitäten der Pflegedienste. In der Abrechnung war von Anfang | |
| an [2][der Leistungskomplex (LK) 20 enthalten], mit den genannten täglich | |
| zweimal „Betreuung 6 Minuten“ – der für die soziale Zuwendung gedacht is… | |
| die von Pflegebedürftigen immer gewünscht wird. „Wir haben uns mit dem | |
| Pflegedienst geeinigt, den LK 20 einfach zu streichen“, sagt Gise Salbach. | |
| Damit schrumpfte der Eigenanteil schlagartig wieder auf das alte Maß. „Die | |
| PflegerInnen kommen aber nicht kürzer zu meiner Schwiegermutter, sie | |
| erbringen die alten Leistungen“, hat Gise Salbach festgestellt. Beim | |
| Pflegedienst sagte man ihr, dass der Abrechnungsposten LK 20 eine Art | |
| „Puffer“ gewesen sei. | |
| Verena Götze, Sprecherin des Diakonischen Werkes | |
| Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz (DWBO), sagte auf Anfrage: „Wir | |
| können nicht ausschließen, dass in Einzelfällen Pflegekundinnen und | |
| -kunden aufgrund des Eigenanteils die Leistungskomplexe verändert haben.“ | |
| Die Diakonie setze sich für eine Deckelung der Eigenanteile ein, auch in | |
| der ambulanten Pflege. | |
| Gise Salbach sagt, die ambulante Pflege werde „stiefmütterlich“ behandelt. | |
| Es sei ihr klar geworden, wie abhängig die Familie vom Pflegedienst sei. | |
| „Man kann den Anbieter ja nicht mal eben so wechseln. Die Pflegedienste | |
| führen Wartelisten.“ | |
| Aktualisiert am 31.05.2021 um 10:30 Uhr. d.R. | |
| 28 May 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.diakonie-portal.de/system/files/avr-dwbo_word-version_stand_202… | |
| [2] https://www.berlin.de/sen/soziales/service/vertraege/pflegeeinrichtungen/am… | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Dribbusch | |
| ## TAGS | |
| Sozialpolitik | |
| GNS | |
| Pflege | |
| Pflege | |
| Pflege | |
| Pflegekräftemangel | |
| Alten- und Pflegeheime | |
| Ausbildung | |
| Tarif | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Arbeit in der 24-Stunden-Pflege: In der Grauzone | |
| 24-Stunden-Pflege zu Hause: Eine rechtliche Regulierung muss eine | |
| Sensibilität für Rechte und Pflichten auf allen Seiten herstellen. | |
| Mindestlohn für Osteuropäer:innen: Praktikable Modelle gefragt | |
| Pfleger:innen steht der Mindestlohn auch für Bereitschaftszeiten zu – | |
| das könnte zu noch mehr Schwarzarbeit führen. Legale Arbeit wird teurer. | |
| Bundesarbeitsgericht zu Mindestlohn: Erfolg für bulgarische Pflegerin | |
| Das BAG spricht einer Pflegerin den Mindestlohn für Bereitschaftszeit zu. | |
| Der Fall mit potentiell weitreichenden Folgen wird neu aufgerollt. | |
| Kabinett einigt sich auf Pflegereform: Kritik an Spahns Pflegeplänen | |
| Die Bundesregierung will, dass alle Pflegekräfte nach Tarif bezahlt werden. | |
| Privaten Pflegeanbietern gehen die Pläne zu weit, Linken und Grünen nicht | |
| weit genug. | |
| Pflegeschüler in der Pandemie: „In manchen Bereichen Seelsorger“ | |
| Die Belastung im Krankenhaus war auch schon vor Corona hoch, sagt | |
| Pflegeschüler Leo Endlich. Er wünscht sich den Präsenzunterricht zurück. | |
| Tarifkampf in Berlins Kliniken: Pflegende, befreit die Chefetagen! | |
| Pflegekräfte fordern mehr Geld – das nützt dem gesamten Gesundheitssystem. | |
| Am Mittwoch trat die Berliner Krankenhausbewegung in den Tarifkampf ein. | |
| Internationaler Tag der Pflege: Den „Pflexit“ abwenden | |
| Die Bedingungen in der Pflege sind übel, viele Beschäftigte könnten nach | |
| der Pandemie aufgeben. Zum Tag der Pflege fordern sie eindringlich bessere | |
| Arbeitsverhältnisse. |