# taz.de -- Debatte Lohn und Kosten der Arbeit: Ein Projekt für Rot-Rot-Grün | |
> Deutschland muss die Löhne erhöhen, um die Eurozone zu stabilisieren. Die | |
> Sozialversicherungsbeiträge könnten neu aufgeteilt werden. | |
Bild: Her mit den höheren Löhnen! | |
Dass in Deutschland die Löhne stärker steigen sollten, darüber sind sich | |
alle einig. Oder fast alle: Die Arbeitgeber sehen das natürlich anders. | |
Aber sonst ist das Lager der Befürworter erstaunlich breit aufgestellt. | |
Schon vor zwei Jahren haben sowohl die Europäische Zentralbank als auch die | |
sonst super-konservative Bundesbank die Tarifparteien zu höheren | |
Abschlüssen aufgefordert. Denn die Eurozone krebst seit Längerem an der | |
gefährlichen Deflationslinie. Und ein zusätzlicher Wachstumsimpuls ist | |
weder von den zu Sparmaßnahmen verdonnerten Staaten noch vom ebenfalls | |
schwächelnden Ausland zu erwarten. | |
Bleibt die Hoffnung auf eine kräftige Zunahme der privaten Nachfrage, die | |
sich überwiegend aus den Arbeitnehmereinkommen speist. Aber weil in den | |
mediterranen Krisenländern die Löhne systematisch gedrückt werden, um die | |
berühmt-berüchtigte Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, kann eigentlich nur | |
im ökonomisch florierenden Deutschland eine solche Politik durchgeführt | |
werden. | |
Deshalb also die Forderungen, mit der Hoffnung, dass eine ordentliche | |
Lohnanhebung in Deutschland einen Wachstumsschub und endlich auch ein | |
bisschen Inflation bringen könnte. | |
## Exportierte Arbeitslosigkeit | |
Die deutschen Gewerkschaften waren nicht amüsiert. Reflexartig verwahrten | |
sie sich gegen die Einmischung in die Tarifautonomie. Und sind nach wie vor | |
ganz, ganz vorsichtig bei Lohnforderungen. Die könnten ja Arbeitsplätze | |
kosten. Dass es längst hohe Arbeitslosigkeit in der Eurozone gibt, sie aber | |
von Deutschland nach Spanien, Italien, Frankreich exportiert wurde, bleibt | |
lieber ungenannt. | |
Heiner Flassbeck, Staatssekretär unter dem damaligen Minister Oskar | |
Lafontaine, durchaus gewerkschaftsnah, aber eben auch Ökonom, formuliert | |
dagegen 2016 deutlich: „Ohne dass Deutschland auf den internationalen | |
Märkten wieder Anteile abgibt, die es sich in der Vergangenheit durch die | |
mit der relativen Lohnsenkung verbundene reale Abwertung erschlichen hat, | |
gibt es keine Lösung. Dafür müssen die deutschen Nominallöhne viele Jahre | |
weit stärker als im Moment steigen. “ | |
In der Umsetzung wird das schwierig, wenn die deutschen Gewerkschaften so | |
gar nicht einsehen wollen, dass sie durchaus eine Verantwortung für die | |
hohe Arbeitslosigkeit in vielen anderen Ländern der Eurozone mittragen. | |
Deshalb muss sich der Blick auch auf andere Akteure richten. Und hier kommt | |
der Staat ins Spiel. | |
Denn eigentlich hat er sich ja durchaus verpflichtet, den deutschen | |
Exportüberschuss, befeuert durch eine zu bescheidene Lohnentwicklung, | |
einzudämmen. In dem nach Beginn der Eurokrise durchgepeitschten | |
Maßnahmenkatalog wurde eben auch vereinbart, dass in keinem Land der | |
Exportüberschuss größer als 6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts sein darf. | |
Im Moment bewegt er sich in Deutschland um die 8 Prozent, Tendenz steigend. | |
## Keine gottgegebene Aufteilung | |
Was aber kann ein Staat überhaupt tun in einer solchen Situation? Direkt in | |
die Tarifpolitik einzugreifen ist ihm aus guten Gründen untersagt. Aber | |
diese Einsicht verdeckt, dass ein Gutteil des Lohns tatsächlich staatlich | |
bestimmt ist. Es handelt sich dabei um die gesetzlichen Beiträge zur | |
Sozialversicherung. | |
Man unterstellt dabei gern, dass hier eine hälftige Aufteilung zwischen | |
Arbeitgeber und Arbeitnehmer quasi gottgegeben sei. Das ist aber falsch. In | |
Sachsen zahlen die Arbeitnehmer relativ mehr in die Pflegeversicherung, | |
überall sonst, auch in der Krankenversicherung, zahlen allein die | |
Arbeitnehmer die Zusatzbeiträge, in der Knappschaftsrente dagegen die | |
Arbeitgeber mehr. | |
Wenn die Aufteilung im Prinzip flexibel ist, dann kann der Staat, genauer | |
das Parlament, hier auch eine Änderung anstreben. Der Vorschlag lautet | |
also: Zur Reduzierung des deutschen Exportüberschusses soll in jährlichen | |
Schritten der Arbeitnehmeranteil an den Sozialversicherungen reduziert | |
werden, der Arbeitgeberanteil entsprechend steigen. Jährliche Schritte | |
deshalb, um die Reaktion darauf zu beobachten und allen Beteiligten die | |
Gelegenheit zu geben, sich darauf einzustellen. | |
Sicher wird es daneben weiter Tarifverhandlungen und -abschlüsse geben. | |
Aber neben den üblich erzielten zwei Prozent dort wird es für die | |
Arbeitnehmer dann eben zusätzliche zwei oder drei Prozent durch die | |
Veränderung in der Beitragsaufteilung geben. | |
## Die Lohnseite stärken | |
Eine solche Lösung hätte noch einen weiteren Vorteil. Weil es eine | |
Bemessungsgrenze gibt, oberhalb derer keine Beiträge mehr zu zahlen sind, | |
begünstigte eine Senkung des Arbeitnehmeranteils ganz direkt die Gering- | |
und Normalverdiener. Und trüge so doppelt zur Korrektur der zunehmend | |
schiefen Einkommensverteilung bei. Es stärkte zum einen allgemein die Lohn- | |
gegenüber der Gewinnseite, zum anderen erhalten auf der Lohnseite die | |
unteren Einkommensgruppen relativ mehr als die oberen. Nicht weniger als | |
durchschnittlich 17 Prozent des Bruttoeinkommens könnten so insgesamt | |
umverteilt werden. | |
Wie lange sollte diese Verschiebung gehen? Bis aller Exportüberschuss | |
verschwunden ist? Nicht ganz. Ökonomisch gibt es für eine Zielgrenze zwei | |
vernünftige Präzisierungen. Einmal sollten nur die Exportüberschüsse in der | |
Eurozone berücksichtigt werden. Der Handel mit China, den USA und allen | |
anderen ist für die Stabilisierung der Eurozone irrelevant. Zum anderen | |
sollten davon die Investitionen in den Euroraum abgezogen werden. Denn es | |
ist durchaus sinnvoll, Kapitaltransfers zum Aufbau von | |
Produktionskapazitäten etwa in Spanien als gleichgewichtig anzusehen. | |
Freilich kann niemand garantieren, dass durch eine solche Politik trotz des | |
Wachstums nicht auch Arbeitsplätze in Gefahr gerieten. Aber genau hier wäre | |
wieder eine Gewerkschaftsaufgabe: ihre Tarifpolitik müsste darauf zielen, | |
eine gerechte Verteilung von vermutlich sinkenden Arbeitsstundenmengen auf | |
die Arbeitenden und Arbeitssuchenden zu erreichen. Umfragen zu | |
Arbeitszeitwünschen zeigen, dass dabei viel Platz nach unten besteht. | |
Selbst hier wäre also ein Gewinn für die Bevölkerung möglich: eine bessere | |
Zeitgestaltung ohne Einkommensverlust. Das wäre doch mal ein wirklich | |
schönes Projekt für Rot-Grün-Rot auch im Bund! | |
2 Oct 2016 | |
## AUTOREN | |
Gerd Grözinger | |
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