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# taz.de -- Ökonom über soziale Ungleichheit: „Das hat mich schockiert“
> Wir verspielen unsere Zukunft, warnt der Ökonom Marcel Fratzscher. Es sei
> dringend nötig, in Infrastruktur und Bildung zu investieren.
Bild: Gute Bildung und soziale Durchlässigkeit gehören zusammen
taz: Herr Fratzscher, Sie haben gerade ein viel beachtetes Buch über die
wachsende soziale Ungleichheit in Deutschland veröffentlicht. Haben Sie
persönliche Erfahrungen damit?
Marcel Fratzscher: Ich selbst hatte viel Glück und bin sehr privilegiert
aufgewachsen. Aber ich habe eine Zeit in Indonesien gelebt, wo es den
Menschen deutlich schlechter geht. Wahrscheinlich kam der entscheidende
Anstoß zu dem Buch aber aus Berlin: Dass hier einer von drei Jugendlichen
von Hartz IV lebt, hat mich schockiert.
Ihr Buch heißt „Verteilungskampf“. Ist das eine Warnung an die
Privilegierten?
Es ist eine Warnung und eine Realitätsbeschreibung. Viele sagen ja, es gibt
gar keinen Verteilungskampf. Wer kämpft denn?, werde ich gefragt. Aber in
der Politik ging es in den letzten Jahren eigentlich nur um einen
Verteilungskampf.
Zum Beispiel?
Die Rente mit 63, die Mütterrente.
Beides kommt nur einer kleinen Gruppe zugute.
Beides sind Beispiele dafür, dass eine Gruppe Privilegien und Gelder
bekommt. Andere müssen dafür zahlen. Meist ist das die jüngere Generation.
Es wird umverteilt – von unten in die Mitte oder von unten nach oben. Es
ging um Klientelpolitik.
Woran machen Sie zunehmende Ungleichheit fest?
Viele Ökonomen bezweifeln, dass es eine steigende Ungleichheit gibt. Sie
sagen: Seit 2005 ist die Ungleichheit beim verfügbaren Einkommen nicht
weiter gestiegen. Aber das ist eine selektive Wahrnehmung. Denn bei den
Löhnen ist die Schere deutlich auseinandergegangen. Ich habe zwei
Kernbotschaften. Erstens: Die Ungleichheit in Deutschland ist ein großes,
wirtschaftliches Problem. Sie macht den Wohlstand kleiner. Zweitens: Mehr
Umverteilung ist nicht die Lösung.
Sondern?
Weniger umverteilen, mehr Chancengleichheit.
Damit sitzen Sie zwischen allen Stühlen.
Den ersten Teil meiner Kernbotschaften hören Linke sehr gerne. Sie sagen:
Das haben wir schon immer gewusst. Sie hören den zweiten Teil nicht so
gern, weil sie die Lösung bei noch mehr Umverteilung sehen: Wir müssen oben
mehr wegnehmen, damit unten mehr ankommt. Liberale und Konservative hören
nur den zweiten Teil gerne. Sie sagen: Wir brauchen einen effizienten
Staat, nicht mehr Umverteilung. Dazu würde ich die meisten deutschen
Ökonomen zählen.
Warum haben beide unrecht?
Seit den siebziger Jahren ist die Ungleichheit massiv angestiegen, während
der Sozialstaat gleichzeitig größer geworden ist. Das Wachstum hat dagegen
deutlich abgenommen. Der Staat macht also immer mehr, aber die Ungleichheit
steigt trotzdem und das Wirtschaftswachstum schwächt sich ab. Der Schlüssel
ist die fehlende Chancengleichheit. Wir haben eine sehr geringe soziale
Mobilität. Jemand aus einem bildungsfernen, sozialschwachen Haushalt hat
viel schlechtere Chancen als jemand, der Eltern mit hoher Bildung oder
hohem Einkommen hat.
Das ist die Lieblingsphrase aller Politiker: Wir müssen mehr in Bildung
investieren.
Wieso machen sie es dann nicht? Wir brauchen erstens: den Ausbau der
frühkindlichen Bildung. In den ersten sechs Jahren des Lebens werden die
Weichen gestellt. Der Ausbau der Kitas ist richtig, die Qualität muss aber
deutlich verbessert werden, beim Betreuungsschlüssel etwa. Zweitens: Wir
brauchen ein Schulsystem, das viel mehr Wert auf Betreuung legt, viel mehr
Ganztagsschulen. Über 80 Prozent der Schulen sind keine wirklichen
Ganztagsschulen.
Brauchen wir die Gesamtschule?
Wir brauchen mehr Durchlässigkeit im Schulsystem, damit die Chancen der
Kinder, die sich spät entwickeln, nicht beschnitten werden.
Sie sind also für das dreigliedrige Schulsystem?
Da bin ich offen. Wenn ein dreigliedriges Schulsystem durchlässig ist, also
ein Kind, das sich spät entwickelt, den Übergang von der Hauptschule auf
die Realschule und aufs Gymnasium schaffen kann, dann ist es ok. Aber
momentan ist das System nicht durchlässig. Wenn die Eltern entscheiden, das
Kind auf die Hauptschule zu schicken, ist es vorbei.
Für den 40-jährigen Paketboten mit Mindestlohn kommt die bessere Bildung zu
spät. Muss er in seinem Job bleiben?
Fortbildungen sind für Menschen im wachsenden Alter eine Option. Das ist
natürlich in der Realität nicht einfach, weil die wichtigsten Grundlagen in
Kindheit und Jugend gelegt werden. 8,50 Euro verdienen heute vor allem
Menschen, die keinen Berufsabschluss haben, häufig noch nicht mal einen
Schulabschluss.
Wenn Sie dafür plädieren, nicht mehr umzuverteilen, bekommt der Paketbote
nur eine Armutsrente.
Sie verstehen mein Argument „weniger umverteilen“ falsch. Wenn Sie mehr
Menschen eine Chance geben, für sich selbst zu sorgen und ihre Talente voll
zu entwickeln, haben Sie viel weniger Menschen, die auf Sozialleistungen
angewiesen sind. Weniger Umverteilung heißt nicht, Sozialleistungen zu
kürzen, sondern mehr Menschen eine Chance zu geben, weniger vom Staat
abhängig zu sein. Man kann die Gelder dann dafür nutzen, denen zu helfen,
die sie wirklich brauchen. Letztlich brauchen wir eine zielgenauere
Umverteilung.
Sie sagen, es wird zu viel umverteilt zugunsten von Leuten, die es nicht
nötig haben. Welche Vergünstigungen für Besserverdienende sollten
wegfallen?
Zum Beispiel das Ehegattensplitting. Dadurch entgehen dem Staat 20
Milliarden Euro im Jahr. Das Ehegattensplitting ist interessant für Paare,
bei denen meist der Mann sehr viel Geld verdient und die Frau zum Schluss
kommt, wenn ich auch arbeite, rechnet sich das für mich nicht.
Sie wollen mehr Wohneigentum für die Deutschen. Ist das nicht genau das,
was in den USA zur Pleite von Lehman Brothers geführt hat: Man hat breiten
Schichten einen Kredit für ein Haus gegeben, den sie in der Krise nicht
abzahlen konnten.
Dass in den USA Banken mit Immobilienkrediten Missbrauch betrieben haben,
heißt ja nicht, dass die Idee prinzipiell falsch ist. Im Gegenteil: Wir
haben ein riesiges Vorsorgeproblem. Ein Eigenheim können Sie über viele
Jahre selbst nutzen und es immunisiert gegen Mietpreisschwankungen, das
gibt Sicherheit – vor allem im Alter. Darum geht es mir.
Das hört sich nach Riester 2.0 an. Alle, die ein zu geringes Einkommen
haben, können sich ein Eigenheim selbst bei staatlichen Zuschüssen nicht
leisten, weil die täglichen Ausgaben alles wegfressen.
Es werden sich nie 100 Prozent der Bürger ein Eigenheim leisten können.
Aber ich rede hier über die Mittelschicht. Wir haben in Deutschland eine
Immobilienquote von nur knapp 40 Prozent.
Die halten Sie für zu niedrig?
In fast allen anderen europäischen Ländern gibt es eine Quote von 70–90
Prozent. Bei uns haben die ärmsten 40 Prozent der Bürger praktisch kein
Vermögen. Rund 50 Prozent haben im Schnitt 51.000 Euro Nettovermögen. In
Italien sind es 170.000 Euro. Nun kann man sagen: Die anderen Europäer
machen das falsch. Oder man kann sagen: Schauen wir mal, wie es woanders
läuft und ob wir von unseren Nachbarn nicht auch mal etwas lernen können.
Vor einem Jahr haben Sie über den Ausgang der Griechenlandverhandlungen
geschrieben: „Der Bundesregierung, allen voran Angela Merkel und Wolfgang
Schäuble, gilt es Respekt zu zollen. Sie haben Größe und Weitsicht
bewiesen.“
Die Bundesregierung hat in der europäischen Krise einen kühlen Kopf bewahrt
und damit letztlich das Richtige getan. Ich würde den letzten beiden
Bundesregierungen ein gutes Zeugnis beim Krisenmanagement in Europa
ausstellen. Aber jetzt müssen wir vom Krisenmodus in Europa zu einer
Zukunftsvision umschalten: Wie soll Europa in 15, 20 Jahren aussehen?
Welche Reformen sind dafür notwendig?
Und – welche sind es?
Wir haben in Deutschland ein paar richtige Ideen. Wolfgang Schäuble will
einen europäischen Finanzminister. Wir brauchen mehr Integration. Das sehe
ich als den einzigen Weg für Europa.
Brauchen wir innerhalb Europas mehr Umverteilung? Zum Beispiel eine
gemeinsame europäische Sozialversicherung?
Ich halte nichts von einer Transfer-Union, in der Deutschland der
Zahlmeister Europas wird. Aber ich sehe Europa als eine Versicherungsunion,
in der man in schwierigen Zeiten füreinander einsteht. Wovon auch
Deutschland profitiert. Vor zehn Jahren war Deutschland der kranke Mann
Europas. Dann haben uns die anderen Europäer über die Abnahme deutscher
Exporte geholfen, aus unserer Krise herauszukommen.
Was ist mit der Austeritätspolitik?
Ich stehe zwischen der extrem konservativen fiskalischen Position
Deutschlands und der vielleicht etwas zu expansiven Position Italiens oder
Frankreichs. Das Problem der europäischen Fiskalpolitik war nicht, dass sie
zu restriktiv oder nicht restriktiv genug war, sondern dass sie die
falschen Prioritäten gesetzt hat.
Welche?
Sie hat die öffentlichen Investitionen zu stark zurückgefahren. Deshalb
kommt Europa heute nicht aus der Krise. Ohne Investitionen schaffen Sie
keine Beschäftigung. Ohne Beschäftigung schaffen Sie keine Einkommen, damit
keine Steuereinnahmen, keine Erträge für Unternehmen wie Banken, die dann
ihre faulen Kredite abbauen können. Deutschland hat hier mehr Fehler
gemacht als viele andere europäische Länder.
Inwiefern?
Wir haben die öffentlichen Investitionen zurückgefahren und stattdessen
Wahlgeschenke verteilt. Jeder sagt: Wir brauchen mehr Investitionen in
Infrastruktur und Bildung. Wieso machen wir es nicht?
Warum machen wir es nicht?
Uns geht es zu gut. Wir haben das Gefühl: Jetzt können wir uns mal richtig
was gönnen. Die Leute sind in Arbeit, weshalb sollen wir jetzt investieren?
Dabei hätten wir gerade heute die Chance, Weichen für die Zukunft zu
stellen. Aber wir sind dabei, sie zu verspielen.
14 Jun 2016
## AUTOREN
Anja Krüger
Martin Reeh
Marcel Fratzscher
## TAGS
DIW
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