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# taz.de -- Ökonomische Ungleichheit in Deutschland: Das Zauberwort heißt Umv…
> Für ein neues Armutsverständnis: Wer das Elend von Flüchtlingen zur
> Messlatte für Armut macht, verhindert eine Debatte über Ungleichheit.
Bild: Glaubt man dem Koalitionsvertrag, gibt es in Deutschland keine Armut. Ung…
Für manche Politiker, Wissenschaftler und Journalisten existiert Armut nur
dort, wo Menschen total verelenden oder wie Vieh auf den Straßen eines
sogenannten Dritte-Welt-Landes verenden. Sie würden den Begriff „Armut“ am
liebsten so eng fassen, dass in der Bundesrepublik davon kaum noch die Rede
sein könnte.
Dieser Haltung liefert die Flüchtlingsfrage nun zusätzliche Munition. Denn
im Zentrum des Armutsdiskurses steht nicht mehr der Hartz-IV-Bezug, sondern
das „Dritte-Welt-Elend“ der Geflüchteten.
Je krasser die Verteilungsschieflage bei Einkommen und Vermögen in einem
reichen Land wird, umso mehr wächst der Drang, dortige Armut auf krasse
Notlagen und Flüchtlingselend zu reduzieren. Das „importierte“ Elend darf
aber nicht zur Messlatte für Armut im Wohlstand gemacht werden.
Umgekehrt gilt: Je entwickelter eine Gesellschaft ist, desto weiter sollte
ihr Armutsverständnis sein. Ein hoher Lebensstandard fördert die soziale
Ausgrenzung von Menschen, deren Einkommen nicht reicht, um in
prestigeträchtigen Konsumbereichen „mitzuhalten“ und sich gleichberechtigt
am sozialen, kulturellen und politischen Leben zu beteiligen.
## Armutsdiskurse im Wandel
Jahrzehntelang war Armut in der Bundesrepublik ein Tabuthema, das die
Öffentlichkeit höchstens in der Vorweihnachtszeit bewegte. Als die (Angst
vor der) Armut durch Hartz IV bis zur Mitte der Gesellschaft vordrang und
sich dort zu verfestigen begann, avancierte Armut zu einem Modethema, das
in TV-Talkshows zerredet wurde.
Vor zwei Jahren warf die CSU rumänischen und bulgarischen
Arbeitsmigrant(inn)en mit ihrer Kampagne „Wer betrügt, der fliegt!“ vor,
rechtswidrig in „unsere Sozialsysteme“ einzuwandern und die Armut ihrer
Herkunftsländer einzuschleppen. Glaubt man dem Koalitionsvertrag von CDU,
CSU und SPD, gibt es in Deutschland sonst praktisch keine Armut.
Seit geraumer Zeit wird in Medien und politischer Öffentlichkeit nicht
zuletzt durch die monothematische Behandlung der „Flüchtlingskrise“
beständig Sozialneid geschürt. Statt die Probleme und damit auch die Armut
der Geflüchteten zu thematisieren, befassen sich Politiker und Publizisten
mit den Problemen, die Flüchtlinge und andere Migranten machen.
Dabei könnte in einer Zuwanderungsdebatte, die sich primär um die –
angebliche oder wirkliche – Mehrbelastung des Staatshaushalts durch
„Flüchtlingsströme“ dreht, endlich einmal die extreme Verteilungsschiefla…
in Deutschland skandalisiert werden.
## Klassische und neue Armutsbegriffe
Während viele Menschen im Begriff der Armut nur ein Synonym für Not und
Elend in den Herkunftsstaaten der Flüchtlinge sehen, erkennen andere darin
auch die beschämendste Ausprägung der sozialen Ungleichheit im eigenen
Land. Der „klassische“ Armutsbegriff, welcher von der Antike über das
christliche Mittelalter bis zur Neuzeit im Gebrauch war, bezog sich auf die
Frage, ob jemand mehr besaß, als er zum Überleben benötigte.
Wer dieses Kriterium heute noch anlegt, verschließt sich der Erkenntnis,
dass ein moderner Armutsbegriff differenzierter sein muss, weil er mit zu
berücksichtigen hat, in welcher Gesellschaft ein Mensch lebt und wie groß
der ihn umgebende Wohlstand ist.
Aufgrund der unterschiedlichen Rahmenbedingungen in sich entwickelnden und
in Wohlstandsgesellschaften sollte man zwischen absoluter, extremer oder
existenzieller Armut einerseits sowie relativer Armut andererseits
unterscheiden. Von absoluter Armut ist betroffen, wer seine
Grundbedürfnisse nicht zu befriedigen vermag, also die für sein Überleben
notwendigen Nahrungsmittel, sauberes Trinkwasser, eine den klimatischen
Bedingungen angemessene Kleidung, ein Dach über dem Kopf und eine
medizinische Basisversorgung entbehrt.
Von relativer Armut ist betroffen, wer zwar seine Grundbedürfnisse
befriedigen, sich aber mangels finanzieller Ressourcen nicht oder nicht in
ausreichendem Maße am gesellschaftlichen Leben beteiligen kann und den
üblichen Lebensstandard deutlich unterschreitet.
## Weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens
Lebt der Betroffene im zuerst genannten Fall am physischen Existenzminimum,
verfehlt er im zuletzt genannten Fall das soziokulturelle Existenzminimum,
was den Ausschluss von normalen sozialen, kulturellen und politischen
Aktivitäten bedeutet. Selbst das physische Existenzminimum und die Grenze
zur absoluten Armut sind nur schwer festzulegen, weil sie beispielsweise
davon abhängen, ob jemand in einem warmen oder einem kalten Land lebt: Wer
in Sibirien keinen Pullover besitzt, ist höchstwahrscheinlich arm; wer in
Sierra Leone keinen Pullover besitzt, ist es deshalb noch lange nicht.
Relative Armut hat weniger mit Not und Elend zu tun als mit Reichtum, der
sehr ungleich verteilt ist. Wer eine zu große soziale Ungleichheit in einer
Gesellschaft anerkennt und ihren Ausdruck in relativer Einkommensarmut
sieht, der akzeptiert damit zumindest implizit die Legitimität und
Notwendigkeit einer Umverteilung von oben nach unten. Hier dürfte ein Grund
dafür liegen, warum die Existenz relativer Armut oft gerade von denen
geleugnet wird, die zu den Privilegierten, Besserverdienenden und
Vermögenden gehören.
Laut einer EU-Konvention wird das Ausmaß der relativen Armut in den
Mitgliedstaaten bestimmt, indem man die Quote derer ermittelt, die weniger
als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben. Die
Armuts(gefährdungs)quote gibt an, wie weit der untere soziale Rand von der
Mitte, anders formuliert: von bürgerlicher Respektabilität, entfernt ist.
## Wohlstandszuwachs auch für Arme?
Nichts anderes bedeutet relative Armut. Absolute Geldbeträge wären für
einen Vergleich der sozialen Situation in den EU-Staaten ungeeignet, weil
die Lebenshaltungskosten stark differieren und man von 500 Euro
Monatseinkommen in dem einen Land gut leben, in dem anderen jedoch noch
nicht einmal ein Zimmer mieten kann. Dies unberücksichtigt zu lassen,
hieße, auf einen realistischen Armuts- und Reichtumsbegriff zu verzichten.
Weil der Armutsbegriff relativ ist und das 60-Prozent-Maß bei der
Einkommensarmut willkürlich, bieten sich Kritikern, die für soziale
Ungleichheit wenig sensibel sind, Angriffsflächen. Auch Arbeits- und
Sozialministerin Andrea Nahles mokierte sich zuletzt darüber, wie man in
der EU die Armuts(risiko)grenze bestimmt: „Angenommen, der Wohlstand in
unserem Land würde explodieren, dann bleibt nach dieser Definition das
Ausmaß an Armut gleich.“
Tatsächlich ist aber kaum anzunehmen, dass ein solcher Wohlstandszuwachs
auch den Armen zugutekäme. Würden sich die Einkommen aller Bewohner/innen
eines Landes verzehnfachen, wären die Armen vermutlich immer noch arm, weil
Preise und Lebenshaltungskosten im selben Maße steigen und einen realen
Wohlstandsgewinn verhindern würden.
Sie wären aber kaum weniger marginalisiert, weil sich ihre
Einkommensposition innerhalb der Gesellschaft eher verschlechtern würde:
Wer vorher 800 Euro im Monat verdient hat, käme jetzt auf 8.000 Euro; wer
vorher 8.000 Euro im Monat zur Verfügung hatte, käme jetzt auf 80.000 Euro.
Betrug die Differenz zwischen Gering- und Besserverdienenden in unserer
Beispielrechnung anfangs 7.200 Euro, so beträgt sie nachher satte 72.000
Euro.
## Die Große Koalition schafft Arme
Trotzdem favorisierte Nahles den absoluten Armutsbegriff und erwähnte in
diesem Zusammenhang illegale – genauer: illegalisierte – Einwanderer und
jüngere Erwerbsgeminderte, bei denen man es mit „wirklicher Armut“ zu tun
habe. Das passt zur Politik der Großen Koalition, die durch ihre
„Asylpakete“ und sukzessive Gesetzesverschärfungen mehr Ausweisungen und
Abschiebungsbescheide erzeugt. Dadurch erhöht sich die Zahl der
Migrant(inn)en ohne Aufenthaltsstatus, die untertauchen und ihren
Lebensunterhalt fortan ohne Sozialleistungen bestreiten müssen.
Dem nächsten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, den Nahles
für Ende 2016/Anfang 2017 ankündigte, wird laut ihren Worten ein
modifiziertes Begriffsverständnis zugrunde liegen. Wenn die
Armutsdefinition primär auf Existenzprobleme abstellt, was zu befürchten
ist, nützt den Betroffenen keine Umverteilung von oben nach unten. Diese
Forderung lässt sich als Propaganda von linken Parteien, Gewerkschaften,
Wohlfahrtsverbänden, Religionsgemeinschaften abtun.
Wer nach mehr sozialer Gerechtigkeit strebt, muss sich daher gegen die
Verengung des Begriffs „Armut“ auf Not und Elend ebenso zur Wehr setzen wie
gegen seine Verdrängung aus dem öffentlichen Diskurs.
13 Feb 2016
## AUTOREN
Christoph Butterwegge
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Schwerpunkt Armut
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