| # taz.de -- Prozess in Hamburg nach G20-Protesten: Angriff auf die Versammlungs… | |
| > Der G20-Prozess gegen Fabio V. zeigt, wie ein Grundrecht angegriffen | |
| > wird. Das haben auch ein Doktorand und ein Student erfahren. | |
| Bild: Sippenhaft für Demonstranten, nur weil einige randalieren? | |
| Hamburg taz | Auf die Frage, wann Demonstranten zu Straftätern werden, | |
| haben Polizei und Justiz in Hamburg eine einmütige Antwort: Auch wer | |
| gewaltfrei an [1][einem Protestmarsch teilnimmt], kann sein Grundrecht auf | |
| Versammlungsfreiheit schnell verwirken. Es genügt demnach schon, an einem | |
| Protestmarsch teilzunehmen, aus dem heraus einige wenige Personen | |
| Gegenstände werfen. Dann hat man die Gewalttäter [2][durch seine bloße | |
| Anwesenheit] „unterstützt“ und macht sich des schweren Landfriedensbruchs | |
| schuldig. Strafmaß: bis zu zehn Jahre Haft. Eine solche „Anwesenheit“ liegt | |
| auch gegen den Italiener Fabio V. vor. | |
| Beweise für darüber hinaus gehende Straftaten des 19-Jährigen konnte die | |
| Hamburger Staatsanwaltschaft in dem Prozess, der fast schon ein halbes Jahr | |
| dauert, nicht liefern. Gewiss ist nur, dass der Angeklagte sich am frühen | |
| Morgen des 7. Juli 2017 einer Gruppe Demonstranten anschloss, die gegen die | |
| Politik der G20-Staaten protestieren wollten. Die Staatsanwaltschaft | |
| unterstellt der Gruppe einen „gemeinsamen Willen zur Gewalt“. Den könne man | |
| daran erkennen, dass die Teilnehmer überwiegend dunkel gekleidet und viele | |
| von ihnen „vermummt“ gewesen seien. Fabio trug beige Hose und ein | |
| schwarz-weißes Palästinensertuch. | |
| Auf dem Weg in die Innenstadt, in der Straße „Rondenbarg“, wurde die etwa | |
| 200 Personen starke Gruppe von der Polizei gewaltsam aufgelöst. Einige im | |
| vorderen Bereich marschierende Demonstranten schleuderten Steine und | |
| Rauchtöpfe in Richtung der herannahenden Beamten, ohne diese zu treffen. | |
| Die Staatsanwaltschaft zählte 14 Steine und 4 „pyrotechnische Gegenstände�… | |
| Wer geworfen hat, ist unklar. Dass der Angeklagte Fabio V. Gewalt ausübte, | |
| ist äußerst unwahrscheinlich, weil er im hinteren Teil des Protestmarsches | |
| unterwegs war. Das Urteil sollte eigentlich heute (Dienstag) gesprochen | |
| werden. Aber dazu kommt es nicht, weil sich die vorsitzende Amtsrichterin | |
| [3][krank gemeldet hat]. Sie ist hochschwanger. Ob der Prozess vor einem | |
| anderen Richter neu aufgerollt wird, ist unklar. | |
| Aber auch ohne Urteil im Fall Fabio ist der „Rondenbarg-Komplex“ keineswegs | |
| erledigt. Mehr als 70 weitere Beschuldigte, die auch an der Demonstration | |
| teilgenommen haben und deren Lage mit der von Fabio V. vergleichbar ist, | |
| warten auf ihre Anklage. Das Führungspersonal der Hamburger Polizei hält | |
| sie alle des Landfriedensbruchs für schuldig. „Es handelte sich um einen in | |
| seiner Gesamtheit gewalttätig handelnden Mob.“ So charakterisierte der | |
| Leiter der SoKo „Schwarzer Block“, Jan Hieber, die Demonstration auf einer | |
| Pressekonferenz im Dezember. „Es reicht eben, wenn man sich in so einer | |
| Gruppe bewegt,“ erläuterte sein Vorgesetzter, der Hamburger | |
| Polizeipräsident Ralf Martin Meyer gegenüber dem NDR. Polizeipräsident und | |
| Hanseatisches Oberlandesgericht verweisen auf eine höchstrichterliche | |
| Entscheidung zum Landfriedensbruch. | |
| ## „Psychische Beihilfe“ gibt's eigentlich nur im Fussball | |
| Im Mai 2017 hatte der Bundesgerichtshof (BGH) Teilnehmer einer | |
| Hooligan-Formation am Rande eines Fußballspiels für schuldig befunden, die | |
| nicht selbst geprügelt, sondern durch „ostentatives Mitmarschieren“ den | |
| Schlägern „psychische Beihilfe“ geleistet hätten. Der BGH macht in seiner | |
| Entscheidung aber deutlich, dass dieser Fall sich von politischen | |
| Demonstrationen unterscheide, bei denen von einigen Teilnehmern, nicht aber | |
| von allen, Gewalttätigkeiten begangen werden. | |
| Dass der Protestzug am Rondenbarg genau eine solche verfassungsrechtlich | |
| geschützte Demonstration war, meinen Experten nach Ansicht des vorhandenen | |
| Videomaterials. „Aus meiner Sicht spricht eigentlich alles dafür, dass es | |
| sich hier um eine Versammlung handelt,“ sagt der Kriminologe Tobias | |
| Singelnstein. Auf die Nachfrage von Panorama 3 und der taz, warum er den | |
| „Hooligan-Fall“ trotzdem auf die Anti-G20-Demonstration in Hamburg | |
| übertrage, antwortete Polizeipräsident Meyer nur: „Man sollte nicht | |
| versuchen, sich auf dem Gebiet der Juristerei zu tummeln.“ | |
| Polizei und Gerichtsbarkeit in Hamburg vertreten die Ansicht, dass jener | |
| Protestzug vor dem G20-Gipfel keine Versammlung im Sinne des Grundgesetzes | |
| war. Den Teilnehmern der Demonstration sprechen sie politische Anliegen ab. | |
| Keine Demonstranten eben, sondern Kriminelle. Kriminell ist demnach auch | |
| Simon Ernst, einer der mehr als 70 Beschuldigten, die auf derselben | |
| Demonstration wie Fabio V. waren. Auf mehreren Polizeivideos ist der groß | |
| gewachsene Mann zu erkennen, wie er, mit einer roten Jacke bekleidet, im | |
| Strahl eines Wasserwerfers steht und eine Frau beschützt. | |
| Dem 32-jährigen Bonner politische Anliegen abzusprechen, scheint vermessen. | |
| Seit mehr als 10 Jahren ist er in der Gewerkschaft Verdi engagiert. | |
| Mehrfach meldete Ernst Demonstrationen gegen Rechtsradikale an. Am frühen | |
| Morgen des 5. Dezember klopft es bei ihm an der Wohnungstür. „Polizei! | |
| Machen Sie auf!“. Einen Augenblick später tummeln sich zehn Beamte in | |
| seiner 2-Zimmer-Wohnung. Ein Polizist bugsiert den splitternackten | |
| Promotionsstudenten auf das Wohnzimmersofa und hält ihm einen | |
| Durchsuchungsbeschluss aus Hamburg unter die Nase, Vorwurf | |
| „Landfriedensbruch“. | |
| ## Doktortitel nur gegen private Daten? | |
| Ernst ist da einer von 22 Teilnehmern der Demonstration am „Rondenbarg“, | |
| deren Wohnungen in [4][einer bundesweiten Razzia] zeitgleich durchsucht | |
| werden. Die Beamten beschlagnahmen Computer, Festplatten und USB-Sticks. | |
| Auf den Datenträgern befindet sich die fast fertige Doktorarbeit von Simon | |
| Ernst. „Das ist meine Arbeitsgrundlage, meine Lebensgrundlage“, sagt der | |
| Promovent fast drei Monate später, entgeistert. Am 31.12.2017 war | |
| Abgabetermin. Den konnte er nicht einhalten, weil die Datenträger in der | |
| Asservatenkammer der Soko „Schwarzer Block“ liegen. Sie handelt von der | |
| Erdölindustrie in Venezuela. | |
| Ob die Kenntnis des Inhalts helfen wird, den dringenden Tatverdacht gegen | |
| Simon Ernst zu erhärten? Sein Doktorvater ist sauer. „Sind Sie sich über | |
| die Konsequenzen im Klaren?“ schreibt Michael Zeuske, Professor am | |
| Historischen Seminar der Universität zu Köln an die Hamburger | |
| Staatsanwaltschaft. Wegen der Beschlagnahmung könne „Herr Ernst sein | |
| Dissertationsvorhaben nicht wie geplant umsetzen. Die fortdauernde | |
| Konfiszierung entzieht Herrn Ernst damit auch die Möglichkeit seines | |
| angestrebten Berufsabschlusses.“ | |
| Seit dem Tag der Beschlagnahmung verlangt der Promotionsstipendiat die | |
| Herausgabe wenigstens einer Kopie, bislang ohne Erfolg. Die Ermittler | |
| fordern von Ernst, als Bedingung für die Rückgabe, Zugangscodes zur | |
| Festplatte seines Rechners mitzuteilen. Für Ernst ein Erpressungsversuch. | |
| „Die wollen an meine Emails, an mein Privatleben. Das lasse ich nicht zu,“ | |
| sagt er. Die Hamburger Staatsanwaltschaft erklärt auf Anfrage, dass dem | |
| Beschuldigten nun eine Kopie seiner Doktorarbeit „übersandt“ worden sei. | |
| Der Verfassungsrechtler Bernd Hartmann von der Universität Osnabrück zeigt | |
| sich irritiert darüber, wie weit der Verfolgungseifer der Hamburger Polizei | |
| und Staatsanwaltschaft geht. „Wenn eine Doktorarbeit beschlagnahmt wird, | |
| weil der Verfasser an einer Demonstration teilgenommen hat, dann ist das | |
| nicht nur ein Eingriff in die Versammlungsfreiheit, sondern auch in die | |
| Freiheit der Wissenschaft, Artikel 5, Absatz 3 Grundgesetz,“ sagt der | |
| Juraprofessor. | |
| ## Anti-Intellektuelle Tendenz bei Hamburgs Polizei | |
| Kenner der Materie bescheinigen der Hamburger Polizei seit den Tagen des | |
| rechtsradikalen Innensenators Ronald Schill „eine gewisse | |
| anti-intellektuelle Tendenz“. Das mag dazu beitragen, dass es nicht sofort | |
| auffällt, wenn die Schranken des Grundgesetzes eingerissen werden. So wie | |
| bei der Öffentlichkeitsfahndung. Am 18. Dezember 2017 hat Ulrich (Name | |
| geändert) sein Foto im Fernsehen und im Internet gesehen: unter einem | |
| öffentlichen Fahndungsaufruf der Hamburger Polizei. Der Student ist einer | |
| von 26 Demonstranten, die am „Rondenbarg“ fotografiert, aber nicht | |
| identifiziert wurden. Die Ermittler hoffen, dass die Gesuchten nun von | |
| Bekannten oder Nachbarn verraten werden. Sie verweisen darauf, dass es für | |
| die Öffentlichkeitsfahndung eine Genehmigung vom Amtsgericht gab. | |
| „Erschrocken“ sei er daüber, sagt Ulrich. „Natürlich wird das Leute | |
| einschüchtern.“ Bislang konnten die Beamten den Gesuchten nicht ausfindig | |
| machen. Panorama 3 und die taz haben ihn getroffen. „Das war eine legitime | |
| Demonstration mit Megafondurchsagen, Redebeiträgen und Transparenten,“ sagt | |
| er. „In was für einer Gesellschaft leben wir eigentlich, wenn Angst gemacht | |
| wird, im Alltag Denunziationen ausgesetzt zu sein. Da steht nicht nur meine | |
| persönliche Freiheit in Frage, sondern auch die Freiheit der Gesellschaft | |
| und einzelner politischer Gruppen.“ | |
| Verfassungsrechtler Hartmann kritisiert die Öffentlichkeitsfahndung nach | |
| Demonstrationsteilnehmern. Sie greife in die Versammlungsfreiheit ein: | |
| „Solche Abschreckungseffekte soll es nach dem Grundgesetz nicht geben, weil | |
| die Versammlungsfreiheit ein besonders bedeutendes Grundrecht für den | |
| Einzelnen ist wie für die Demokratie.“ Der 1. Februar ist ein besonderer | |
| Verhandlungstag im Prozess gegen den Angeklagten Fabio V. vor dem | |
| Jugendschöffengericht in Hamburg-Altona. Promotionsstipendiat Simon Ernst | |
| und die Krankenschwester Julia Kaufmann, ebenfalls aktives Verdi-Mitglied | |
| in Bonn, sagen als Zeugen aus. | |
| Sie schildern den frühen Morgen des 7. Juli 2017, wie er sich aus ihrer | |
| Sicht zugetragen hat. Beide bezeugen ihre politische Motivation, gegen die | |
| Mächtigsten der Welt zu demonstrieren. Beide bekräftigen, dass Gewalt gegen | |
| Personen oder Sachen nicht zu ihrem Demo-Repertoire gehörten und dass sie | |
| solches auch an jenem Morgen nicht beabsichtigt hätten. Beide Zeugen | |
| schildern, dass sie die Momente am „Rondenbarg“ als gewaltsame Auflösung | |
| einer Demonstration erlebt hätten. „Ich habe nicht mitbekommen, dass einige | |
| Protestteilnehmer etwas in Richtung der Polizisten geworfen haben,“ sagt | |
| Simon Ernst. „Das habe ich zum ersten Mal auf den Videos gesehen.“ | |
| ## Gewalt gab es – durch die Polizei | |
| Der Promovent gibt zu Protokoll, dass ein Beamter nach der Auflösung des | |
| Protests eine Frau in seiner unmittelbaren Nähe mit der Hand ins Gesicht | |
| geschlagen habe. Die Szene ist in einem der Videos festgehalten. Auch Julia | |
| Kaufmann wird mit ihren Freundinnen der Verdi-Jugend Bonn von den Beamten | |
| zu Boden gebracht. Laut Hamburger Staatsanwaltschaft seien im Zusammenhang | |
| mit dem Einsatz gegen sieben Polizeibeamte interne Ermittlungen eingeleitet | |
| worden. Drei Verfahren seien an die Staatsanwaltschaft abgegeben worden. | |
| Davon sei eines mangels Tatverdachts eingestellt worden. | |
| Wie die Polizei ermittelt, auch gegen eigene Beamte, darauf lässt der | |
| „Nachbereitungsstab“ der Hamburger Polizei schließen. Nach Recherchen von | |
| Panorama 3 und der taz wird dieser vom Chef des Vorbereitungsstabes und | |
| Einsatzleiters beim G20, Hartmut Dudde, geleitet. Als ein Aufgabenfeld des | |
| Nachbereitungsstabes werden laut einem Senatsdokument „absehbare | |
| Strafanzeigen“ gegen die Polizei genannt. Den Recherchen zufolge | |
| entscheidet Dudde als Chef des Nachbereitungsstabes, welches Beweismaterial | |
| rund um die G20-Ereignisse an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet wird | |
| und welches nicht. | |
| Auf Anfrage bestätigte ein Polizeisprecher gegenüber Panorama und der taz, | |
| dass der Nachbereitungsstab von Dudde geleitet werde und die Soko | |
| „Schwarzer Block“ dem Nachbereitungsstab unterstellt sei. Der Sprecher | |
| bestritt allerdings, dass der Nachbereitungsstab in die Weitergabe oder | |
| Zurückhaltung von Beweismitteln eingreife. „Auf das operative Geschäft der | |
| Soko, zu dem auch der Umgang mit Beweismitteln gehört, hat diese | |
| organisatorische Anbindung hingegen keine Auswirkungen,“ heißt es in der | |
| Stellungnahme. Der Sprecher fügte hinzu, dass die Soko „Schwarzer Block“ ab | |
| dem 1. März direkt dem Polizeipräsidenten unterstellt werde. Hartmut Dudde | |
| werde dann die Führung der neuen Organisationseinheit „Schutzpolizei“ | |
| übernehmen. | |
| Der Prozess gegen Fabio V. sollte aus Sicht der Strafverfolger eine Art | |
| Musterverfahren für den „Rondenbarg-Komplex“ sein. Eine Verurteilung hätte | |
| den Tatbestand des Landfriedensbruchs spürbar erweitert und damit die | |
| Demonstrationsfreiheit eingeschränkt. Wird das vorläufige Aus dieses | |
| Prozesses bei den Hamburger Entscheidungsträgern zu einem Umdenken führen? | |
| Oder wird man die anderen Mitglieder des „gewalttätigen Mobs“ auch | |
| anklagen? Ein Blick zurück ins Jahr 1970 könnte helfen. Damals wurden | |
| hunderte Verfahren wegen „Landfriedensbruch“ eingestellt. Der Bundestag | |
| hatte ein „Straffreiheitsgesetz“ beschlossen. Der Grund: die Praxis der | |
| Gerichte in Sachen Versammlungsfreiheit hatte sich zu weit von Artikel 8 | |
| des Grundgesetzes entfernt. | |
| 27 Feb 2018 | |
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