| # taz.de -- Erziehung zur Passivität: Das kommt davon | |
| > Wenn wir als Menschen noch eine Chance haben wollen, müssen wir uns | |
| > Auflehnen – auch gegen jene, die das Passiv-Bleiben für klug und geboten | |
| > halten. | |
| Bild: Oft eine Begleiterscheinung von „Das-kommt-davon-Sätzen“: erhobener … | |
| Das kommt davon, wenn man mit denen spielt. Das kommt davon, wenn man aufs | |
| Eis geht. Das kommt davon, wenn man sich keine Mütze aufsetzt. Das kommt | |
| davon, wenn man nicht aufpasst. Ich könnte noch hundert weitere dieser | |
| Sätze aufzählen, sie sind in mir eingebrannt, sie stammen aus meiner | |
| Kindheit. Wenn wir uns als Kinder wehtaten, wenn wir weinten und das | |
| vielleicht noch vor ihren Augen, dann waren dies die Antworten unserer | |
| Eltern, unserer Erzieherinnen, Lehrer, Kindergärtnerinnen und Hortnerinnen. | |
| Das kommt davon. | |
| Ich muss sagen, dass wir eigentlich sehr abgehärtete Kinder waren, die | |
| eigentlich kaum weinend nach Hause kamen und dass wir unsere Niederlagen | |
| auf dem Schlachtfeld der kindlichen, dörflichen Auseinandersetzungen gar | |
| nicht erst kommunizierten. Aus dem Grund, dass wir diesen Sätzen entgehen | |
| wollten, diesen „Das-kommt-davon-Sätzen“, und weil es uns nichts | |
| einbrachte, kein Mitgefühl und schon gar kein Lob. Mut war nichts, wofür | |
| man gelobt wurde, zu Hause sollte man bleiben, sich zurückhalten, sich | |
| allen Auseinandersetzungen entziehen. | |
| Die Zeit solcher Erziehung ist vorbei, die Sätze sind noch da. Sie | |
| verfolgen mich in mein reifes Erwachsenenleben, in Form einer Einstellung, | |
| die sich bösartig, hartnäckig öffentlich äußert. Ursache und Wirkung. Wenn | |
| du mit diesen Kindern spielst, werden sie dich schlagen. Wenn du aufs Eis | |
| gehst, wirst du hinfallen und dich verletzen. Wenn du demonstrieren gehst, | |
| wird dir die Polizei auf den Kopf hauen. Wenn du dich politisch engagierst, | |
| wird deine Familie angegriffen. Wenn du dich gegen Missstände zur Wehr | |
| setzt, wird dich jemand bedrohen. Wenn du dich gegen Ungerechtigkeit | |
| stellst, wirst du verfolgt und verleumdet werden. | |
| Schuld sind nicht die Hauenden, Angreifenden, Drohenden, Verfolgenden und | |
| Verleumdenden, sie sind nur Wirkung – schuld bist ja du. Du hättest ja | |
| nicht auf die Demonstration gehen müssen, dich nicht engagieren, dich nicht | |
| gegen das Unrecht zur Wehr setzen und dich nicht für jemanden einsetzen | |
| müssen. | |
| ## Düstere Aussichten | |
| Nun hast du bekommen, was du verdienst, weil du dich der Gefahr, die in | |
| einem direkten kausalen Zusammenhang zu deinem Engagement steht, ausgesetzt | |
| hast. Freiwillig. Das ist die Argumentation derer, die zu Hause bleiben. | |
| Die jeden Tag mit dem Auto zur Arbeit fahren, mittags ihren Salat mit | |
| Hähnchenbrust essen, zum Feierabend zurück nach Hause fahren, Abendbrot | |
| essen, Fernsehen gucken, schlafen gehen. Das ist die einzig anständige Art | |
| zu leben, in den Augen dieser Menschen. Die einzig richtige Art, sein Leben | |
| zu leben, ohne sich selbstverschuldet in Gefahr zu begeben. Niemand wird | |
| gezwungen, an einer Demonstration teilzunehmen, nicht wahr? | |
| In Hamburg wurde der erste von vielen Prozessen gegen fünf junge Menschen | |
| eröffnet, die beschuldigt sind, an einem „Aufmarsch“ teilgenommen zu haben. | |
| Ein „Aufmarsch“ ist nichts anderes, als ein Die-Straße-entlang-Laufen. | |
| Passiert ist das Ganze während der G20-Tage, und es wurden viele dieser | |
| jungen Menschen dieses „Aufmarsches“ am Rondenbarg von Polizist*innen | |
| schwer verletzt. | |
| Wer warf den ersten Stein und wurde überhaupt ein Stein geworfen? Das weiß | |
| ich nicht, und es wird auch niemals jemand wissen. Ich weiß, dass den | |
| jungen vor Gericht stehenden Menschen jetzt nichts vorgeworfen wird, als | |
| dabei gewesen zu sein. Wer schon einmal auf einer Demonstration war, weiß, | |
| wie schnell man dabei ist oder wie schwer es dann ist, nicht dabei zu sein. | |
| Und die, die zu Hause bleiben, können hämisch mit dem Zeigefinger wackeln, | |
| von ihrem Sofa aus: Ja, das kommt davon. | |
| Euch, die ihr zu Hause bleibt, will ich an dieser Stelle eines sagen: Euer | |
| Arsch wird fett, eure Arbeit sinnlos und eure Luft wird dünn werden, eines | |
| Tages, eure Kinder werden euch verjagen und eure Enkel sich für euch | |
| schämen. Denn die Welt ist nun mal nicht so, dass wir ungestraft zu Hause | |
| bleiben können, die Verteilung ist so ungerecht, die Aussichten sind so | |
| düster, dass wir alle täglich einen Aufmarsch veranstalten sollten, wenn | |
| wir als Menschen noch eine klitzekleine Chance haben wollen. | |
| 14 Oct 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Katrin Seddig | |
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