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# taz.de -- Der Ethikrat: Zeitgenossin sein
> Wie zeitgemäß muss man sein? Und ist ein Gremium aus drei alten Männern
> die richtige Adresse für die Frage? Der Ethikrat hat dazu eine klare
> Position.
Bild: Sogar der Kater schien angeödet von der Dürftigkeit meiner Argumentation
Kürzlich traf ich den Ethikrat in unserem Badezimmer, wo er den Kater
betrachtete, der sich am Badewannenrand entlanghangelte. „Schön, dass Sie
mal wieder vorbeischauen“, sagte ich erleichtert, denn ich hatte bereits
befürchtet, dass der Rat mich als aussichtslos aufgegeben hätte. Der Rat
besteht aus drei älteren Männern von geringer Größe, die mich
[1][gelegentlich aufsuchen], um mir Handreichungen im Bereich praktischer
Ethik zu geben.
„Haben Sie eine Frage an uns?“, wandte sich der Sprecher des Rates an mich.
„Ja“, sagte ich. „Wie viel zeitgenossenschaftliches Interesse muss ich
aufbringen?“ „Können Sie das präzisieren?“, sagte der Sprecher, der wie
üblich das Wort führte, während seine Kollegen den Kater mit einem
Spazierstock ärgerten. „Kürzlich erzählte ein Freund, sein Sohn habe drei
James-Bond-Filme gebinged“, sagte ich. „Ich habe das Wort noch nie gehört,
aber es scheint Allgemeingut zu sein.“
„Dann fragen Sie doch nach“, sagte der Ethikratsprecher. „Es geht nicht
ums Nachfragen“, meinte ich mürrisch. „Es geht um ganze Welten: Twitter,
Facebook, Instagram, jener Diskurs, dieser Diskurs – es ist eine ganze
Welt, von der ich nur dann etwas mitbekomme, wenn es sich auch für Eremiten
nicht vermeiden lässt.“ Der Kater biss das zweite Ethikratmitglied. „Tss�…
sagte der Ethikratvorsitzende und kniff dem Kater ins Ohr, „das muss doch
nicht sein.“
„Meine Tante hat ‚Harry Potter‘ gelesen, als sie weit über 70 war“, sa…
ich, „nur weil sie es wichtig fand zu erfahren, was alle daran faszinierte.
Ich bin nicht weit über 70, aber mein Interesse an dem, was den Rest
beschäftigt, ist minimal.“ Niemand schien mir zuzuhören. „Ich meine“, s…
ich, „nach dieser Logik müsste ich einen SUV probefahren, ich müsste einen
Porno angucken und Steuern hinterziehen. Nur um zu erfahren, was die
Mehrheit umtreibt.“
## Ein Argument, das keine Antwort verdient
„Hach“, seufzte der Ethikratvorsitzende – und natürlich hatte er recht: …
war kein Argument, das eine Antwort verdiente, es war nicht mal ein
schlechtes. Aber was half mir ein Ethikrat, dem meine Fragen zu läppisch
waren. „Kürzlich fragte mich jemand, ob ein Ethikrat, der mit drei alten
Männern besetzt ist, zeitgemäß sei“, sagte ich ins Unbestimmte des
Badezimmers. „Haben Sie vielleicht eine Meinung dazu?“
Es herrschte kurz Stille. „Wer möchte antworten?“, fragte der
Ethikratvorsitzende seine beiden Kollegen. „Wollen Sie?“, wandte sich
derjenige, der ein Einstecktuch in seiner Anzugjacke trug, an den anderen,
der eine kleine Aktentasche neben sich liegen hatte. „Gern“, sagte der
Aktentaschen-Rat und räusperte sich kurz. „Das Problem der Repräsentanz
beschäftigt uns seit einer Weile. Deshalb haben wir unseren Sitz im
Internationalen Komitee ehrenamtlich tätiger Ethikräte frei gemacht für
neue Kräfte.“
Er hielt inne und holte aus seiner Tasche ein eng bedrucktes Papier. „Dies
ist unsere Erklärung dazu. Außerdem nutzen wir die Einnahmen aus unserem
Youtube-Kanal für Stipendien für philosophischen Nachwuchs aus
nicht-akademischen Elternhäusern.“ „Sie haben einen Youtube-Kanal?“, sag…
ich lahm. „Natürlich haben wir einen Youtube-Kanal“, sagte der
Ethikratvorsitzende, „wir sind Teil der Gegenwart.“ Der Kater sprang auf
und setzte sich auf den Schoß des Ratsvorsitzenden. Ich ging aus dem
Badezimmer.
Kürzlich habe ich einen Text geschrieben, in dem der Begriff „Mädchen für
alles“ auftauchte. Die Kollegin, die ihn redigierte, machte mich darauf
aufmerksam, dass er frauenfeindlich sei. „Aber er trifft doch den
gesellschaftlich zugemessenen Charakter der Tätigkeit“, sagte ich unfroh.
„Aber meinetwegen, ändere es.“ Ich fragte meinen Freund, der mir schlüssig
erklärte, warum die Kollegin recht hatte. Ich rief sie noch einmal an, um
es zuzugeben, und fühlte mich noch älter als sonst.
Vielleicht muss mich der Ethikrat noch engmaschiger betreuen, dachte ich
und ging zurück ins Badezimmer. Aber es war leer.
25 Oct 2020
## LINKS
[1] /Der-Ethikrat/!5707912&s=friederike+gr%C3%A4ff+ethikrat/
## AUTOREN
Friederike Gräff
## TAGS
Kolumne Ethikrat
Patriarchat
Ethik
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Popkultur
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Fremd und befremdlich
Sozialer Zusammenhalt
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