# taz.de -- Der Ethikrat: Status-Scham | |
> Darf man sich wegen der Rumpeligkeit der Wohnung schämen, wenn einen | |
> erfolgreichere Menschen besuchen? Der Ethikrat findet schon die Frage | |
> abwegig. | |
Bild: Die Wohnungssuche endet sobald klar wird, dass wir ohnehin keine höhere … | |
Vor ein paar Wochen habe ich wieder begonnen, nach einer Wohnung zu suchen. | |
Die Suche verläuft in Wellen, die kommen, wenn ich mich an die Beschwerden | |
der Nachbarn über die Lautstärke der Kinder oder meiner Trompete erinnere. | |
Sie gehen, wenn zu offensichtlich ist, dass wir keine höhere Miete zahlen | |
können. An einem Abend, als ich durchs Treppenhaus geschlichen war in der | |
Hoffnung, niemandem zu begegnen, fand ich den Ethikrat am Küchentisch vor. | |
[1][Der Rat besucht mich seit ein paar Wochen unaufgefordert], um mir in | |
meinem ethischen Alltag auf die Sprünge zu helfen. Er besteht aus drei | |
alten Männern von geringer Größe, die auch diesmal Anzug trugen, und es war | |
mir unangenehm, dass es schlecht aus der Spülmaschine roch und allzu lange | |
niemand den Boden gefegt hatte. „Guten Abend“, sagte ich. „Kann ich Ihnen | |
etwas anbieten?“ „Nein danke“, sagte der Ethikrat und zum ersten Mal, seit | |
ich ihn kannte, sprachen alle seine Mitglieder zugleich. | |
„Warum haben Sie sich geschämt, als der Besuch, der in großzügigeren | |
Verhältnissen lebt, vergeblich nach einem Wohnzimmer bei Ihnen suchte?“, | |
fragte das älteste Mitglied, das der Ratssprecher zu sein scheint, | |
unvermittelt. „Warum wohl“, sagte ich mürrisch. „Weil ich es zu nichts | |
gebracht habe.“ „Und wie verhielt es sich beim Besuch der | |
Kaufinteressenten?“, fragte der Sprecher weiter. | |
Es hatte sich so verhalten, dass Männer in teuren Wollmänteln durch das | |
Haus gegangen waren und sich auch unsere Wohnung besahen. Ich saß mit den | |
Kindern auf dem Küchenboden und versuchte, durch die Schönheit meiner | |
Sprache die Schäbigkeit des Drumherums zu umnebeln. | |
## Ist es üblich, Makler zu bestechen? | |
„Sind das die richtigen Gründe für Scham?“, fragte der Ethikrat und gab | |
sich keine Mühe, so zu tun, als sei das tatsächlich eine Frage. „Scham ist | |
ein sozial geprägtes Gefühl“, sagte ich. „Wie soll ich mich als ökonomis… | |
erfolgloses Mitglied der Mittelschicht nicht dafür schämen, dass ich den | |
Standard meiner Peer-Group verfehle?“ Der Sprecher des Ethikrats richtete | |
sich auf dem Küchenstuhl, der eigentlich zu groß für ihn war, auf und sah | |
mich befremdet an. „Das meinen Sie sicherlich nicht ernst, gute Frau“, | |
sagte er. „Es muss der erste Anspruch an uns sein, uns von falschen | |
Wertvorstellungen zu lösen.“ | |
„Und wenn es nicht gelingt?“, fragte ich. „Wenn man nicht über die | |
notwendige Souveränität verfügt?“ „Dann arbeitet man an sich“, sagte d… | |
Sprecher verstimmt. Er nickte den anderen Ratsmitgliedern zu, sie rutschten | |
von meinen Küchenstühlen, ohne dabei etwas an Würde und Zorn einzubüßen, | |
und gingen. Ich blieb beschämt zurück, diesmal vielleicht zu Recht. | |
Kürzlich trug mich eine neue Wohnungssuchwelle davon, ich schickte einer | |
unwilligen Maklerin alle Unterlagen noch vor dem Besichtigungstermin. | |
Nachdem ich ihr unsere finanzielle Grenze genannt hatte, wurde sie | |
zögerlich und unser Gespräch verlief so, als sei ich ein Leibeigener des | |
18. Jahrhunderts, der seinem Herrn eine Heiratserlaubnis abringen will. | |
Danach fragte ich mich plötzlich, ob es nicht üblich ist, Makler zu | |
bestechen. Mir fiel eine Meldung ein, wonach in Berlin Eltern schon die | |
Kitas bestechen, um einen Platz zu bekommen. Es war, als öffnete sich eine | |
Klappe in meinem Leibeigenen-Karton, aus der heraus ich sehen konnte, | |
welchen Gesetzen die Welt tatsächlich folgt. Ich vermied es, darüber | |
nachzudenken, ob ich selbst aktives Mitglied der Bestecherszene würde, wenn | |
ich die Mittel dazu hätte. | |
Der Ethikrat ist eine Weile nicht vorbeigekommen und ich habe Sorge, dass | |
er mich als Schülerin aufgegeben hat. Aber er hat eine Visitenkarte auf dem | |
Flurregal hinterlassen. Ethikrat, Postfach 7334, steht da auf | |
Büttenpapier. | |
Ich schrieb ihm eine Postkarte: „Am Montag glaube ich, die Maklerin ist | |
korrupt, nur weil meine Stimmung grau ist wie der Regen. Und am Dienstag | |
glaube ich, das Maklerwesen ist grundgut, nur weil mich der Busfahrer | |
angelächelt hat.“ Ich bräuchte ein stabileres Weltbild, schrieb ich, gerade | |
als jemand, der im Bereich praktische Ethik dringend um Fortschritte bemüht | |
sei. Noch habe ich keine Antwort. | |
9 Oct 2020 | |
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## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
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