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# taz.de -- Der Ethikrat: Der Radler
> Hat man Erziehungspflichten im öffentlichen Raum? Ich legte die Frage dem
> Ethikrat vor, der mich neuerdings betreut. Die Antwort war
> unbefriedigend.
Bild: Der Radler war hipp, aber seine Sicht der Dinge korrekturbedürftig
Vor ein paar Tagen fand ich den Ethikrat auf meinem Bett vor. Drei kleine
ältliche Männer, die mir gerade mal bis zur Brust reichten. Sie trugen
Anzug und Hemd und es war ein sonderbarer Anblick, sie auf meinem schlecht
gemachten Bett sitzen zu sehen. „Guten Abend“, sagte ich. „Was machen Sie
hier?“ „Wir sind der Ethikrat“, sagte der Älteste von ihnen, der einen
Spazierstock mit Entenkopf neben sich liegen hatte. „Wir glauben, dass
Ihnen Hinweise für Ihren ethischen Alltag gut täten.“
Mein ethischer Alltag liegt schon lange im Argen, ich hatte jedoch
angenommen, dass das nur mir und meinem engeren Umfeld bewusst war. „Haben
Sie einen Fall, den Sie mit uns diskutieren wollen?“, fragte der Älteste,
während seine Kollegen ihre Ledertaschen öffneten und einen Bücherturm
aufbauten. „Nikomaische Ethik“ konnte ich erkennen, „Grundlage zur
Metaphysik der Sitten“.
Ich kramte in meinem Kopf nach einer bedeutsamen Frage, aber mir fiel nur
Banales ein und so erzählte ich vom hippen Radler. Der hatte einen
Lastwagenfahrer beschimpft, der harmlos vor ihm abgebogen war, dafür aber
einen dicken SUV, der den Radweg blockierte, gewähren lassen. Er wirkte
überrascht, als eine so schlecht frisierte Frau wie ich ihn darauf
ansprach. „Warum sagen Sie mir das?“ war nahezu alles, was ihm dazu
einfiel.
„Ist es meine Aufgabe, hippen Radlern auf die Sprünge zu helfen?“, fragte
ich den Ethikrat, der eingeschlafen zu sein schien. Der Sprecher schreckte
auf. „Wenn Sie es können“, sagte er. Herrlich, dachte ich ärgerlich, der
Rat spricht in Kuons oder wie diese Zen-Rätsel heißen mögen.
Ich selbst bin ein paar Mal ermahnt worden und immer zurecht. Lange ging
mir hinterher, als mich eine Kellnerin zurechtwies, weil ich ihr beim
Bestellen nicht ins Gesicht sah. Dennoch scheint mir insgesamt wenig
pädagogische Arbeit im öffentlichen Raum stattzufinden und ich könnte nicht
sagen, ob es daran liegt, dass die Leute sie nicht als ihre Aufgabe
empfinden oder ob sie Angst vor den Folgen haben.
„Darf ich an den jungen Menschen im Zug ohne Mundschutz erinnern“, sagte
der Älteste des Ethikrats, während die anderen zustimmend nickten.
Natürlich erinnerte ich mich. Ich hatte zehn Minuten überlegt, ihn
anzusprechen, aber ich tat es nicht, weil ich Angst hatte. Er schien nur
darauf zu warten, den ersten, der ihn anmeckerte, ordentlich zu hauen.
„Es sind Koans, an die Sie denken“, korrigierte mich der Ethikrat, während
ich meiner Feigheit nachhing, und das brachte mich zusätzlich auf, denn an
jeder Ecke stolpere ich über Überlegenheit aller Arten, der politischen
Überzeugung, der Ernährung, der Inneneinrichtung und Kindererziehung.
Das moralische Überlegenheitsgefühl geht in allen möglichen Sparten wie ein
Hefepilz auf. Vielleicht gedeiht der Pilz so gut, weil sich die Menschen in
immer homogeneren Milieus bewegen, wo alle Algen essen oder niemand Algen
isst, wo alle Impfgegner sind oder niemand. Vielleicht ist die Absenz
öffentlicher Erziehung ein Zeichen dafür, dass die Leute sich als
gleichberechtigt und mündig empfinden, jede Intervention ist ein Übergriff.
Ihre Bildung ist abgeschlossen und die der Kinder dem engsten Familienkreis
und ausgewähltem Fachpersonal anvertraut.
Die stummen Mitglieder des Ethikrats verstauten ihre Bücher. Meine Fragen
schienen zu banal, als dass man Literatur dazu hätte bemühen müssen. „Wo
ziehen Sie die Grenze zwischen dem Gefühl moralischer Überlegenheit und dem
Bedürfnis, eine Norm, die Sie billigen, durchzusetzen?“, fragte der
Sprecher des Ethikrats beiläufig, während er die Kommode mit den Spielen
durchforstete. Keine Ahnung, dachte ich und schwieg und dachte an die Norm,
zu fragen, bevor man etwas ausleiht.
„Augenscheinlich bleiben Lücken in der Erziehung, wer immer dafür zuständig
sein mag“, sagte ich und blickte fragend auf den Ethikrat, der begonnen
hatte, Halma auf meinem Bett zu spielen. „Wie soll man sich dazu
verhalten?“ Niemand antwortete. „Ist meine Frage zu banal?“, fragte ich
böse. „Nein“, sagte der Sprecher begütigend und tat einen Zug, der seine
Mitspieler vernichtete. „Und wie lautet die Antwort?“ Aber der Ethikrat war
zu vertieft ins Spiel, um zu antworten.
13 Sep 2020
## AUTOREN
Friederike Gräff
## TAGS
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Kolumne Ethikrat
Ethik
Kolumne Ethikrat
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