| # taz.de -- Der Ethikrat: Die frühen Arbeiter im Weinberg | |
| > Was tun, wenn die Coronasolidarität bröckelt und der Blick auf die | |
| > anderen bitter wird? Die Antwort findet der Ethikrat in einem Gleichnis. | |
| Bild: Helena sollte die Schildkröte heißen, wegen der schönen Bänderung ihr… | |
| Kürzlich traf ich den Ethikrat am Ausgang eines Geschäfts für Tierbedarf. | |
| Eigentlich vermeide ich es, dorthin zu gehen, weil es dort lebende | |
| Heuschrecken zu kaufen gibt, die sich in kleinen Plastikdosen drängen. Ihr | |
| Schicksal hat meine Kinder empört, aber noch immer habe ich nicht beim | |
| Tierschutzbund angerufen und gefragt, ob der Tierschutz auch das Wohl der | |
| Heuschrecken bedacht und irgendwelche Regelungen für sie getroffen hat. Um | |
| den Heuschrecken nicht zu begegnen, bog ich vor der Terrarienabteilung in | |
| die Katzenfutterabteilung ab und dachte, dass das Leben als Beutegreifer | |
| schöner sein muss als das als Beutetier. | |
| Als ich das Katzenfutter bezahlte, entdeckte ich den Ethikrat, dessen | |
| Vorsitzender eine Schildkröte auf dem Arm hielt. Der Ethikrat, das sind | |
| drei ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich | |
| [1][Handreichungen in Sachen praktischer Ethik] geben. Zu Coronazeiten sind | |
| unsere Treffen rar geworden, dabei ist mein Beratungsbedarf groß. | |
| „Haben Sie schon einen Namen?“, fragte ich den Ratsvorsitzenden. „Helena�… | |
| sagte der Vorsitzende und strich sachte über den Schildkrötenpanzer. „Sehen | |
| Sie die Schönheit der Bänderung?“ Ich sah schwarze Flecken und urzeitlich | |
| schuppige Beine, aber nie und nie sollte man die Schönheit von Kindern und | |
| Haustieren hinterfragen. | |
| „Darf ich Sie mit einer praktischen Frage behelligen?“, sagte ich | |
| stattdessen. „Ich stelle an mir eine Coronadeformation fest, einen | |
| zunehmend finsteren Blick auf meine Umwelt.“ „Was genau meinen Sie damit?�… | |
| fragte der Ratsvorsitzende und setzte die Schildkröte ab. Seine | |
| Ratskollegen knieten sich auf den Boden, um ihr unheimlich aussehende | |
| knöcherne Futterbrocken vorzuhalten, doch Helena zog verstockt den Kopf | |
| ein. | |
| „Meine Kinder sind jetzt seit Monaten zu Hause und wenn ich an der Kita | |
| oder Schule vorübergehe, betrachte ich unfroh die Kinder dort“, sagte ich. | |
| „Bei manchen weiß ich, dass die Eltern eh zu Hause …“ „Was wollen Sie … | |
| sagen?“, unterbrach mich der Vorsitzende. „Dass ich mich frage, ob mein | |
| Beitrag zum Gemeinwohl irgendwann irrelevant wird, weil die Kita ohnehin | |
| voll ist“, sagte ich. | |
| ## Kita-Scham und Betreuungsneid | |
| Kürzlich hatte ich den Artikel einer Journalistinnenmutter über ihre | |
| Kita-Scham gelesen, das ungute Gefühl, Betreuung in Anspruch zu nehmen, | |
| obwohl sie ihre Arbeit zumindest nicht neun Stunden am Stück als | |
| systemrelevant empfand. Dann habe ich wohl Betreuungsneid, dachte ich und | |
| las einen Leserkommentar zum Artikel, in dem jemand hämisch anmerkte, dass | |
| sich die Autorin völlig zu Recht schäme. | |
| Du bist nicht mein Geistesverwandter, dachte ich in Richtung | |
| Kommentarschreiber, oder du solltest es nicht sein, und hatte dabei das | |
| Gefühl, in einen zu gut beleuchteten Spiegel zu sehen, in dem man | |
| Unebenheiten des eigenen Gesichts findet, die man gar nicht kennenlernen | |
| wollte. Aber dann hörte ich ein Interview, in dem eine kluge Frau über das | |
| begrenzte Gut Solidarität sprach. Ja, dachte ich, man soll die Willigen | |
| nicht überstrapazieren durch die Tranigkeit der weniger Willigen und | |
| schickte finstere Gedanken Richtung Kita. | |
| Eines der Ratsmitglieder klopfte Helena auf den Panzer, um ihr Interesse | |
| für die Brocken zu wecken. „Nicht doch“, sagte der Ethikratsvorsitzende, | |
| „wir müssen ihre Grenzen wahren.“ „Hört, hört“, dachte ich und fand … | |
| eigenen ungewürdigt, aber ich schwieg. Der Ratsvorsitzende seufzte und | |
| wandte sich mir zu. | |
| „Vielleicht ist Ihnen das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg ein | |
| Begriff.“ Natürlich war mir das Gleichnis ein Begriff. Mich hatte schon | |
| immer geärgert, dass die Arbeiter, die später angeheuert worden waren, | |
| genauso viel Lohn bekommen sollten wie diejenigen, die früh begonnen | |
| hatten. | |
| Am meisten hatte mich der herablassende Ton des Gutsbesitzers verstimmt: Es | |
| nimmt euch doch nichts, hatte er die Ärgerlichen abgewehrt: Euer Lohn | |
| bleibt gleich. Und zwischen den Zeilen: „Ihr Kleingeister“. Konnte man das | |
| Gesamtgefüge nicht trotzdem ungerecht finden? „Ich kenne das Gleichnis“, | |
| sagte ich mürrisch. | |
| „Dann lesen Sie’s noch mal“, sagte der Vorsitzende und holte ein gelbes | |
| Geschirr hervor, in das er Helena einschnallte. Langsam und grußlos gingen | |
| sie davon. | |
| 28 Feb 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Friederike Gräff | |
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