| # taz.de -- Über die Suche nach Trost: Ein Licht im Wind | |
| > Trostbedürftig zu sein ist salonfähig geworden, das ist wenigstens ein | |
| > Gewinn der Pandemie. Aber wo man findet man Trost? Der Ethikrat ist | |
| > abgelenkt. | |
| Bild: Nicht einmal die Glückskekse lösen ein, was sie an Trost versprechen | |
| Kürzlich kaufte ich einen Glückskeks in der Hoffnung, dass er mir | |
| Wunderbares prophezeien würde. „Das Leben ist ein Licht im Winde“ stand auf | |
| dem Zettel, der in ihm steckte und ich fand nur wenig Trost darin. Als ich | |
| das Lokal verließ, stieß ich auf den Ethikrat. Der Rat, das sind drei | |
| ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich [1][Handreichungen | |
| in Sachen praktischer Ethik] geben. Sie legen Wert auf ihr Äußeres und | |
| heute trugen sie Fliegen mit Tiermotiven, der Vorsitzende hatte einen | |
| Flamingo gewählt, die beiden anderen Mitglieder einen Hirsch und eine Eule. | |
| „Eigentlich müsste das Geschäft mit Glückskeksen zu Pandemiezeiten | |
| florieren“, sagte ich zum Rat, um ein wenig Zeit zu gewinnen. Der Rat fragt | |
| mich üblicherweise nach einem philosophischen Problem aus meinem Alltag und | |
| in der Regel sind ihm meine Fragen zu banal. Der Vorsitzende stellte eine | |
| unförmige Tasche neben sich ab und betrachtete die Speisekarte im | |
| Schaukasten des nepalesischen Lokals, während eines der beiden | |
| Ratsmitglieder, die meist schweigen, es war das mit der Eulenfliege, | |
| plötzlich sagte: „Wer sucht, wird nichts finden, wer nicht sucht, wird auch | |
| nichts finden.“ | |
| Der Ratsvorsitzende betrachtete seinen Kollegen wohlwollend. „Das erinnert | |
| mich an meinen Glückskeks“, sagte ich, „der war auch eher düster.“ | |
| „Eigentlich“, fuhr ich fort, „erscheinen mir alle gerade trostbedürftig … | |
| man könnte sagen, dass es einer der wenigen Errungenschaften der Pandemie | |
| ist, dass Trostbedürftigkeit nichts mehr ist, was man verbergen müsste.“ | |
| „Einigen gehört die ganze Welt, anderen nur ein Teil davon“, sagte das | |
| Ratsmitglied mit der Hirschfliege. „Neulich dachte ich darüber nach, woran | |
| man merkt, dass man alt wird“, sagte ich, „und mir scheint, man wird nicht | |
| nur körperlich anfälliger, sondern auch seelisch.“ „Können Sie das | |
| konkretisieren?“, fragte der Ratsvorsitzende, der kein Freund waberiger | |
| Befindlichkeitserzählungen ist. „Man kann sich der Traurigkeit schlechter | |
| entziehen“, sagte ich. „Man weint über Kinderbücher. Man vermisst die Tot… | |
| wie ein Kind, das in den Ferien auf seine Freunde wartet. Aber es gibt kein | |
| Ferienende“. | |
| ## Pathos unerwünscht | |
| Ich stoppte. Der Ethikrat verlangt nicht nach Pathos, sondern nach einem | |
| philosophischen Problem, zumindest nach etwas, das man mit gutem Willen als | |
| Frage betrachten konnte. „Ist es nicht ungerecht, dass man im Alter mehr | |
| Trost braucht, aber im Zweifelsfall ist niemand mehr da, der ihn geben | |
| würde?“, fragte ich. „Eine Sekunde nach der Geburt, eine Sekunde vor dem | |
| Tod. Was siehst du?“, fragte das Ethikratmitglied mit der Eule, ohne sich | |
| dabei an jemand Bestimmten zu wenden. | |
| „Was sehen Sie denn?“, fragte ich zurück. „Nun“, sagte der Ratsvorsitz… | |
| und machte sich eine Notiz in einen kleinen Block, „ich sehe, dass Sie | |
| annehmen, dass der Trost von außen kommen muss. Worauf gründen Sie diese | |
| Ansicht?“ Er machte eine Pause und fügte hinzu: „Der Weg zur Erkenntnis ist | |
| lang, sie selber ist kurz, erfrischend und irreversibel.“ | |
| „Könnte man den Trost in sich selbst finden, gäbe es kein Problem“, sagte | |
| ich. „Wie soll man sich denn über die Einsamkeit hinwegtrösten, die kommt, | |
| wenn die, mit denen man jung war, sterben? Und wer, bitteschön, soll einem | |
| die Angst vor dem Tod nehmen, wenn er näher kommt?“ Der Rat schien | |
| unbeeindruckt von der Traurigkeit meines Problems. „Mein Leben ist wie ein | |
| Schachspiel, der Gegner ist gut“, sagte das Ratsmitglied mit der | |
| Eulenfliege und lächelte zufrieden. | |
| „Das war es“, meinte der Ratsvorsitzende und nickte dem Eulen-Mitglied zu. | |
| „Drei in zehn Minuten, damit haben Sie gewonnen“. „Was gewonnen?“, | |
| unterbrach ich ihn misstrauisch. „Unseren jährlichen Koan-Wettbewerb“, | |
| sagte der Ratsvorsitzende. „Wer die meisten Koans in einem Gespräch von | |
| zehn Minuten Dauer unterbringt, gewinnt einen Präsentkorb der | |
| philosophischen Fakultät.“ Er wandte sich zu der unförmigen Tasche und | |
| entnahm ihr einen Strohkorb mit roter Schleife, auf der stand: „Mit | |
| herzlichen Glückwünschen der Koan-AG“. | |
| Ich war Schlechtes vom Ethikrat gewohnt, aber das war auch für seine | |
| Verhältnisse bemerkenswert. „Ergreife mich auf den Spitzen der hundert | |
| Gräser, und erkenne den Kaiser auf dem geschäftigen Marktplatz“, sagte ich | |
| in Richtung Rat und ging. | |
| 28 Mar 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Friederike Gräff | |
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