| # taz.de -- Über die Schwierigkeit, sich zu wehren: Übergriff im Graubereich | |
| > Auch beim Kinderarzt kann Wehrhaftigkeit plötzlich gefragt sein – und | |
| > doch fehlen. Der Ethikrat hat zumindest deutliche Worte. | |
| Bild: Die Idylle trügt: auch in der Kinderarztpraxis sind zweifelhafte Mensche… | |
| Kürzlich war ich mit dem kleinen Kind in der Notfallsprechstunde. Es war | |
| kein dramatischer Notfall, eher etwas Verschlepptes, aber die Aussicht, ein | |
| krankes Kind durchs Wochenende zu schleppen, ließ mich zum Krankenhaus | |
| radeln. | |
| Der Arzt war mittelalt und auf eine demonstrative Art jovial. Er sprach nur | |
| mit dem Kind, auf eine Art, die durchscheinen ließ, dass es hier um | |
| Pädagogik auf Augenhöhe ging. Das Kind zog seine Gummistiefel vor der | |
| Untersuchungsliege aus, wurde untersucht, dann kam eine Arzthelferin mit | |
| dem Ergebnis des Urintests. | |
| „Können Sie die ’rübertragen“, sagte der Arzt mit Blick auf die | |
| Gummistiefel zu ihr, er selbst stand unmittelbar daneben. Tatsächlich trug | |
| sie die Stiefel die zwei Meter zu den Stühlen, wo das Kind und ich saßen. | |
| „Was für ein Idiot“, dachte ich. Und schwieg. | |
| Der Arzt wandte sich jetzt mir zu. Das Kind hatte vermutlich eine | |
| Vulvovaginitis und keine Blasenentzündung, das war die gute Nachricht. Der | |
| Arzt war redselig, er erzählte von seinen zahlreichen Kindern, die trotz | |
| regelmäßigen Waschens Vulvovaginitis gehabt hatten, er erzählte von dem | |
| üblen Geruch, der damit einhergehe – wie bei den alten Frauen, die sich | |
| nicht mehr jeden Tag wüschen. Er kenne das aus seiner Zeit auf der | |
| Gynäkologie. | |
| ## „Was für ein Idiot“ | |
| „Was für ein Idiot“, dachte ich zum zweiten Mal. Und schwieg. Ich fand, | |
| dass es respektlos war, wie er über die alten Frauen sprach. Aber es war | |
| schwierig, es an etwas festzumachen, so wie es schwierig war, zu sagen, | |
| warum seine Mit-Kind-auf-Augenhöhe-Art aufgesetzt wirkte. Nicht schwierig | |
| war es, in seinem Gummistiefel-Auftrag eine Gutsherren-Art zu finden. Aber | |
| war es an mir, die Arzthelferin zu verteidigen oder an ihr selbst? | |
| Während ich dem Arzt und seinen Ausführungen zu Kamillebädern zuhörte, | |
| legte er plötzlich seine Hand auf mein Knie. „Das kann doch nicht wahr | |
| sein“, dachte ich. „Ich bin zu alt dafür. Doppelt zu alt: Ich passe nicht | |
| mehr ins Beuteschema und ich kann den Mund aufmachen.“ Aber ich machte den | |
| Mund nicht auf. Ich wollte diesen Arzt nicht gegen mich aufbringen, denn | |
| ich wollte, dass er das Kind ordentlich zu Ende untersuchte. Und die Hand | |
| hatte nur kurz auf meinem Knie gelegen. | |
| Als wir das Krankenhaus verließen, stand neben dem Fahrradständer der | |
| Ethikrat. Der Rat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir | |
| [1][gelegentlich Handreichungen in Sachen praktischer Ethik] geben. Sie | |
| waren noch nie unmittelbar nach einem ethischen Dilemma aufgetaucht, aber | |
| ich war zu verwirrt, um mich über ihr Erscheinen zu wundern. | |
| „Wissen Sie“, sagte ich einleitungslos zum Rat, „ich dachte, das passiert | |
| mir nicht mehr. Ich hatte das zweimal: einmal ein Uniprofessor, in dessen | |
| Sekretariat ich Aushilfe war, und einmal ein schratiger Künstler, den ich | |
| interviewte. Sie hatten mich gefragt, ob sie mich umarmen dürften und ich | |
| war so überrumpelt, dass ich ja gesagt habe. Man kommt sich albern vor, das | |
| überhaupt zu erzählen, es klingt so pillepalle. Aber vor allem dachte ich, | |
| dass ich es nicht mehr hinnehmen würde.“ | |
| ## Übergriffig, aber nicht dramatisch | |
| Der Ethikrat schwieg. „Ich habe jetzt erst begriffen, dass es diese | |
| Graubereiche sind, die es schwierig machen, sich zu wehren. Etwas, das | |
| übergriffig ist, aber in keinster Weise dramatisch“, fuhr ich fort. „Und | |
| ist es nicht absurd: dass man auf sich selbst fast zorniger ist als auf den | |
| Übergriffigen? Hätte ich etwas sagen müssen?“ | |
| Der Ratsvorsitzende räusperte sich. „Was wir hier sagen können, auch wenn | |
| wir den Ausdruck sparsam verwenden: Der Arzt ist ein Idiot. Vielleicht | |
| gelingt es Ihnen, Ihren Ärger in eine angemessene Reaktion umzusetzen.“ | |
| Eines der Ratsmitglieder bot dem Kind, das geduldig Kreise in den Sand | |
| gemalt hatte, einen Lolli an. „Darf ich auch einen haben?“, fragte ich und | |
| dachte, dass auch die Lollis etwas sein sollten, aus dem ich | |
| herausgewachsen war. In der nächsten Woche versuchte ich, die | |
| E-Mail-Adresse des Arztes herauszufinden. Aber er hat keine eigene Praxis. | |
| Vielleicht schreibe ich einen Brief. Vielleicht. | |
| 25 Apr 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Ueber-das-Interesse-am-Seelenheil-anderer/!5759242 | |
| ## AUTOREN | |
| Friederike Gräff | |
| ## TAGS | |
| Kolumne Ethikrat | |
| Kinderarzt | |
| Schwerpunkt #metoo | |
| Kolumne Ethikrat | |
| Kolumne Ethikrat | |
| Kolumne Ethikrat | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Über erzwungene Experimente: Großmut im Test | |
| Gibt man dem Bettler mehr, wenn man dabei beobachtet wird? Der Ethikrat ist | |
| interessiert an Forschung zur Frage, vielleicht sogar zu interessiert. | |
| Über Eingriffe ins Jagdwesen: Vom Leben der Prädatoren | |
| Ist es richtig, dem eigenen Kater tatenlos beim Töten zuzusehen? Der | |
| Ethikrat ist der Frage gegenüber aufgeschlossen, aber an der Antwort | |
| gehindert. | |
| Über die Suche nach Trost: Ein Licht im Wind | |
| Trostbedürftig zu sein ist salonfähig geworden, das ist wenigstens ein | |
| Gewinn der Pandemie. Aber wo man findet man Trost? Der Ethikrat ist | |
| abgelenkt. |