| # taz.de -- Über erzwungene Experimente: Großmut im Test | |
| > Gibt man dem Bettler mehr, wenn man dabei beobachtet wird? Der Ethikrat | |
| > ist interessiert an Forschung zur Frage, vielleicht sogar zu | |
| > interessiert. | |
| Bild: Die Frage ist: Gibt man dem Drehorgelspieler mehr, wenn man dabei beobach… | |
| Kürzlich lief ich durch die Fußgängerzone und dachte darüber nach, warum | |
| ich die Zeit, in der ich nicht einkaufen konnte, nicht für Sinnvolles | |
| genutzt habe, als ich auf den Vorsitzenden des Ethikrats traf. Der | |
| Ethikrat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir | |
| [1][gelegentlich Handreichungen in Sachen praktischer Ethik] geben. | |
| „Guten Tag“, sagte ich, „sind Sie heute allein?“, denn üblicherweise i… | |
| der Ethikrat nur zu dritt anzutreffen. „Meine Kollegen sind heute leider | |
| verhindert“, sagte der Vorsitzende, „aber sie lassen Sie herzlich grüßen�… | |
| „Vielen Dank“, sagte ich, „grüßen Sie bitte zurück“, und sah aus dem | |
| Augenwinkel zwei Jungen, die zur Gitarre ein vage trauriges Lied sangen. | |
| Der Ethikratsvorsitzende zog ein großes braunes Lederportemonnaie aus | |
| seiner Tasche und legte einen Schein in den Gitarrenkoffer vor ihnen. Ich | |
| war bankrott und hatte noch vier Euro, die ich für einen Kaffee vorgesehen | |
| hatte, also legte ich 50 Cent dazu. | |
| „Handelt es sich um ein Arbeitstreffen?“, fragte ich, und dabei fiel mir | |
| auf, dass der Ethikrat mit sonderbarer Zufälligkeit meinen Weg kreuzte. | |
| „Nun“, begann der Vorsitzende, aber dann brach er ab, um einem Punk, der | |
| mit einer Angel auf einem Fenstervorsprung saß, einen Schein in den daran | |
| hängenden Eimer zu legen. Ich hatte Sorge um meinen Kaffee, deshalb kramte | |
| ich nach Münzen von eher geringem Wert in der Hoffnung, dass der | |
| Ratsvorsitzende es nicht sehen würde. „Da hast du wohl ’ne Kupfermine am | |
| Start“, sagte der Punk heiter und ich gab ihm unfroh meinen vorletzten | |
| Euro. | |
| Da fiel mir ein Versuch mit Theologiestudenten ein, von dem ich einmal | |
| gehört hatte. „Kennen Sie das Experiment mit Theologiestudenten, die man | |
| eine Predigt über den barmherzigen Samariter hören ließ“, wandte ich mich | |
| an den Ratsvorsitzenden, „und dann an einem Bettler vorbeischickte? Die | |
| meisten haben ihm nichts gegeben“. | |
| „Ich hörte davon“, sagte der Vorsitzende. „Wie deuten Sie das Ergebnis?�… | |
| fragte ich, aber da wandte sich der Vorsitzende ab, um einer Gestalt, die | |
| von einem Schal verhüllt am Boden kauerte, einen Schein hinzuhalten. Doch | |
| ein Windstoß wehte ihn davon und als sich die Gestalt erhob, um ihn zu | |
| erhaschen, fiel der Umhang von ihr ab. Darunter kam eines der | |
| Ratsmitglieder, die üblicherweise nichts sagen, zum Vorschein. Es wirkte | |
| verlegen. | |
| ## Teil einer Versuchsanordnung sein | |
| „Was tun Sie da?“, fragte ich. „Ich bin Teil eines Versuchs“, antwortete | |
| das Ratsmitglied. „Was für eines Versuchs?“, fragte ich. „Nun“, räusp… | |
| sich der Ratsvorsitzende und auch er schien gegen seine Gewohnheit | |
| unbehaglich. „Wir beschäftigen uns gerade mit der Auswirkung von sozialer | |
| Kontrolle auf das Spendenverhalten. Kurz gefasst lautet die Frage: Spenden | |
| Probanden mehr, wenn Menschen aus ihrem Umfeld sie dabei beobachten?“ | |
| „Welche Probanden?“, fragte ich und sah, wie der Drehorgelspieler auf der | |
| gegenüberliegenden Seite seine Sonnenbrille und den übergroßen Hut abnahm | |
| und sich uns langsam näherte. Natürlich war es das dritte Ratsmitglied. | |
| Plötzlich dämmerte es mir. „Sie wollen mir nicht sagen, dass ich gerade | |
| Teil eines Ihrer Versuche bin“, rief ich, „weil Sie herausfinden wollen, ob | |
| ich genauso heuchlerisch bin wie die Theologiestudenten.“ | |
| Der Vorsitzende hob mit einer Geste, die möglicherweise Bedauern ausdrücken | |
| sollte, die Hände. „Dabei haben Sie mir nicht mal eine Predigt mit auf den | |
| Weg gegeben“, rief ich und geriet allmählich in Wut. „Sparen Sie an allem, | |
| Theologie, Respekt, Ehrlichkeit?“ „Frau Gräff“, sagte der Ratsvorsitzend… | |
| „ich möchte Ihnen versichern, dass wir diese Studie ergebnisoffen führen. | |
| Und verfügten wir über die finanziellen Mittel, hätten wir bezahlte | |
| Probanden gewählt.“ | |
| Ich schwieg. Die trübe Wahrheit war, dass ich den Rat dringender brauchte | |
| als er mich. „Können Sie mir zusichern, dass ich nicht wieder Teil eines | |
| Versuchs sein werde?“, fragte ich den Vorsitzenden. Er nickte und der Wind | |
| ließ den Schein vor seinen Füßen hochwirbeln, zehn Euro von der | |
| Kinderpost-Druckerei. | |
| 6 Jun 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Ueber-Eingriffe-ins-Jagdwesen/!5767748 | |
| ## AUTOREN | |
| Friederike Gräff | |
| ## TAGS | |
| Kolumne Ethikrat | |
| Theologie | |
| Experiment | |
| Kolumne Ethikrat | |
| SUV | |
| Kolumne Ethikrat | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Über Umwege und Sackgassen: Mit Philosophen im Anhänger | |
| Auch auf den Spuren großer Metaphysiker verliert der Ethikrat die Vorzüge | |
| schnellen Vorankommens nicht aus dem Blick. | |
| Über die Annäherung an den Gegner: Wie man SUV-Fahrer:innen anspricht | |
| Da fasst man endlich den Mut, eine SUV-Fahrerin nach der Wahl ihres | |
| Fahrzeugs zu befragen, aber dann stellen sich doch Zweifel am Vorgehen ein. | |
| Über die Schwierigkeit, sich zu wehren: Übergriff im Graubereich | |
| Auch beim Kinderarzt kann Wehrhaftigkeit plötzlich gefragt sein – und doch | |
| fehlen. Der Ethikrat hat zumindest deutliche Worte. |