# taz.de -- Debatte Europäischer Separatismus: Im Namen des enttäuschten Volk… | |
> Die Erfolge der Separatisten und Nationalisten haben ökonomische | |
> Ursachen. Ob in Katalonien oder Tschechien – es wurde ein Versprechen | |
> gebrochen. | |
Bild: Hoppe, hoppe Reiterin – es geht um Wohlstand und Gewinn | |
Die katalanische Regierung will sich von Spanien abspalten, die Lombardei | |
und Venetien wünschen sich mehr Unabhängigkeit von Italien, die Wahl in | |
Tschechien gewinnen EU-skeptische Rechtspopulisten. Und auch Österreich | |
rutscht nach rechts, nachdem sich der Wahlkampf allein um Zuwanderung und | |
Flüchtlinge gedreht hat. | |
Diese Ereignisse der vergangenen zwei Wochen wirken zunächst sehr disparat: | |
Der Kampf um regionale Eigenständigkeit ist schließlich nicht das Gleiche | |
wie die Abwehr von Migranten. Zudem wollen die Katalanen explizit in der EU | |
bleiben, während die österreichische FPÖ einen Anti-EU-Wahlkampf hinter | |
sich hat. Trotzdem ist der Kern ähnlich: Es wird eine vermeintliche | |
Volksidentität behauptet und verteidigt. Viele Katalanen fühlen sich nicht | |
mehr als Spanier, für viele Tschechen und Österreicher muss die eigene | |
„Nation“ möglichst rein von „Fremden“ sein. | |
Alle eingangs beschriebenen Konflikte haben eine lange Tradition: Der | |
katalanisch-spanische Konflikt reicht bis ins späte Mittelalter zurück und | |
wurde zu Francos Zeiten mörderisch. Die mentalen und ökonomischen | |
Unterschiede zwischen Nord- und Süditalien lassen sich ebenfalls bis ins | |
Mittelalter zurückverfolgen – und vielleicht sogar bis ins antike Rom. Die | |
FPÖ wiederum kann nur deshalb so unverschämt völkisch sein, weil die | |
österreichischen Naziverstrickungen niemals aufgearbeitet wurden. Es ist | |
mehr als nur ein Bonmot, dass der Österreicher Adolf Hitler in Österreich | |
als Deutscher gilt. | |
Aber gerade weil es sich um historische Kontinuitäten handelt, können diese | |
nichts erklären. Ginge es nur um kulturelle Prägungen, wären die | |
separatistischen Bewegungen und die fremdenfeindlichen Parteien viel früher | |
überall erstarkt. Es muss einen Auslöser geben für diesen Traum von einer | |
eigenen, privilegierten Identität. | |
Was auffällt: Ob in Katalonien oder Tschechien – überall wurde das | |
Versprechen gebrochen, dass Europa Wohlstand bedeutet. Überall nehmen die | |
Verlierer zu, die um ihren Status fürchten und sich um ihre Hoffnungen | |
betrogen sehen. | |
## Spanien | |
Beispiel Katalonien: Einige überzeugte Separatisten gab es immer, aber zur | |
Massenerscheinung wurde die Unabhängigkeitsbewegung erst, als Spanien in | |
die Eurokrise rutschte. Die Arbeitslosenquote stieg auch in Katalonien | |
steil an und liegt noch immer bei 13 Prozent – offiziell. Die Dunkelziffer | |
ist weit höher. In dieser Not erschien es plötzlich vielen attraktiv, die | |
etwa 16 Milliarden Euro, die Katalonien jedes Jahr netto an den spanischen | |
Zentralstaat abführt, lieber zu behalten. | |
Die Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien ist ein Signal der | |
Hoffnungslosigkeit, was in Berlin und Brüssel nicht verstanden wird. Denn | |
dort hält man daran fest, dass Spanien jetzt wieder prosperiert! Das ist | |
nicht ganz falsch, Spaniens Wirtschaft wuchs in den vergangenen drei Jahren | |
mit jeweils etwa 3 Prozent. Für Berlin und Brüssel folgt daraus, dass der | |
drakonische Sparkurs richtig war, der allen Krisenländern in der Eurozone | |
aufgezwungen wurde. Doch dieses Selbstlob aus den Machtzentralen klingt vor | |
Ort nur zynisch, denn die Zahl der Arbeitslosen bleibt hoch, obwohl es | |
einen Aufschwung gibt. | |
## Italien | |
Beispiel Norditalien: Die Lombardei ist zwar die fünftreichste Region in | |
Europa, aber auch dort beträgt die Arbeitslosenquote etwa 12 Prozent. Die | |
Provinz kann sich nicht von der Rezession in Gesamtitalien entkoppeln. Seit | |
der Finanzkrise 2008 ist die italienische Wirtschaftsleistung um mehr als 6 | |
Prozent geschrumpft. Dies mag harmlos klingen, ist aber seit dem Zweiten | |
Weltkrieg in keinem anderen großen Industrieland vorgekommen. | |
Nur zum Vergleich: Die deutsche Wirtschaft ist in der gleichen Zeit, also | |
in den vergangenen zehn Jahren, um 12 Prozent gewachsen. Man stelle sich | |
einmal vor, dass die deutsche Wirtschaft genauso stark geschrumpft wäre wie | |
die in Italien und summiert 18 Prozentpunkte von der heutigen | |
Wirtschaftsleistung fehlen würden. Die AfD wäre da wohl längst stärkste | |
Partei in Deutschland. Es ist vor diesem Hintergrund erstaunlich, wie | |
politisch stabil Italien, das von außen gern als chronisch chaotisch | |
wahrgenommen wird, noch immer ist. | |
Deutsche vermuten häufig, dass die Italiener selbst schuld seien, wenn ihre | |
Wirtschaft leidet. Beliebt ist das Klischee, dass „die Südländer“ einfach | |
nicht mit Geld umgehen könnten. Geflissentlich wird übersehen, dass Italien | |
ein Opfer der falschen Europolitik war. | |
Der Beginn der Katastrophe lässt sich datieren: 21. Juli 2011. Damals wurde | |
bekannt, dass es einen Schuldenschnitt für das bankrotte Griechenland geben | |
sollte. Objektiv hat Griechenland nichts mit Italien zu tun. Aber das | |
interessierte die panischen Investoren nicht mehr. Sobald das erste | |
Euroland in die Insolvenz geschickt wurde, sahen sie sich nach dem nächsten | |
möglichen Kandidaten um, wo man Geld verlieren könnte. Italien fiel sofort | |
unangenehm auf, denn es schob Staatsschulden von knapp 120 Prozent der | |
Wirtschaftsleistung vor sich her. Nun spielte es keine Rolle mehr, dass | |
Italien diese Staatsschulden immer pünktlich bedient hatte. Panik ist | |
Panik. | |
Die Zinsen für italienische Staatsanleihen stiegen auf über 7 Prozent, das | |
Land drohte in die Pleite zu rutschen. Hektisch wurden die Staatsausgaben | |
reduziert, sodass eine schwere Rezession folgte. 2012 schrumpfte die | |
Wirtschaft um 2,8 Prozent, 2013 noch mal um 1,7 Prozent, und eigentlich hat | |
sich Italien bis heute nicht von dem Schock des 21. Juli 2011 erholt. Die | |
für dieses Fiasko Verantwortlichen saßen nicht in Rom, sondern in Berlin: | |
Kanzlerin Merkel und ihr Finanzminister Schäuble. Trotzdem erscheint es in | |
der Lombardei und in Venetien nun attraktiv, sich so weit als möglich vom | |
Gesamtstaat Italien auszugliedern. | |
## Österreich | |
Österreich hingegen wirkt ökonomisch sehr robust. Die offizielle | |
Arbeitslosenquote ist niedrig, und die soziale Absicherung scheint auch zu | |
funktionieren: Neuerdings gibt es sogar eine Mindestrente von 1.000 Euro. | |
Wer in seinen Arbeitszeiten nicht genug verdient hat, wird im Alter | |
bezuschusst. | |
Österreich mag wie ein Paradies wirken, doch dabei gerät aus dem Blick, | |
dass die Angestellten im Wesentlichen für sich selbst sorgen. Die | |
staatlichen Zuwendungen sind ein Kreisverkehr innerhalb der Unter- und | |
Mittelschicht, während die Reichen geschont werden. Es gibt keine | |
Erbschaft- und keine Vermögensteuer, und das steuersparende Stiftungswesen | |
ist so intransparent, dass selbst die österreichische Nationalbank nicht | |
weiß, wie viele Milliarden dort geparkt sind. Kürzlich sorgte eine | |
statistische Schätzung für Aufregung, dass das oberste eine Prozent, also | |
das reichste Hundertstel, in Österreich 40,5 Prozent des privaten Vermögens | |
besitzt. | |
Österreich ist eine extreme Klassengesellschaft, in der es permanent gärt, | |
und diese Frustration richtet sich dann gegen die „Fremden“. Die FPÖ und | |
die konservative ÖVP sind genial darin, das Thema Ausbeutung neu zu | |
definieren: In ihrer Weltsicht sind es nicht die Reichen, die den Rest der | |
Bevölkerung ausquetschen – sondern die Zuwanderer, also ausgerechnet die | |
Armen. | |
## Tschechien | |
In Tschechien war wiederum zu bestaunen, dass mit Andrej Babiš ein | |
korrupter Oligarch an die Macht gewählt wurde, obwohl jeder wusste, dass er | |
kommunistischer Spitzel war und jetzt wegen Subventionsbetrug verfolgt | |
wird. Aber er gerierte sich als ein Robin Hood, der von den Reichen nimmt | |
und den Armen gibt. | |
Auch Tschechien scheint eigentlich keine Probleme zu haben; in den | |
vergangenen vier Jahren lag dort das Wachstum im Durchschnitt bei rund 3 | |
Prozent. Aber den Tschechen geht es wie den Polen, die schon vor zwei | |
Jahren der nationalistischen Partei „Recht und Gerechtigkeit“ zur absoluten | |
Mehrheit verholfen haben. Sie erleben, dass „Wachstum“ ein relativer | |
Begriff ist: Wer arm startet, der bleibt arm, auch wenn es vorwärtsgeht. | |
Pro Kopf beträgt die jährliche Wirtschaftsleistung in Tschechien nur etwa | |
18.500 US-Dollar. | |
Allerdings lässt sich in Tschechien für den einzelnen Dollar deutlich mehr | |
kaufen als in den Vereinigten Staaten, weswegen der nominale | |
Dollarvergleich in die Irre führt. Real haben die Tschechen etwa 32.000 | |
Dollar in der Tasche, was immer noch relativ wenig ist: Die Deutschen | |
kommen pro Kopf auf 50.000 Dollar. | |
Tschechien wächst zwar, aber es kann den Abstand zu Kerneuropa nicht | |
aufholen. Diese stabile Ungleichheit passt jedoch nicht zu der europäischen | |
Erzählung, die auf „Kohäsion“ und „Konvergenz“ setzt. Es wurde verspr… | |
dass sich Europa untereinander angleicht. Doch jetzt müssen die | |
osteuropäischen Länder erkennen, dass sie abgehängt bleiben. Die Ungarn | |
haben sich als Erste radikalisiert, dann folgten die Polen, und nun kommen | |
die Tschechen. | |
Die EU hat stets den Eindruck erweckt, man müsse nur auf den „Markt“ | |
setzen, damit sich die ökonomischen Probleme von allein lösen und jeder | |
Bürger sein Auskommen hat. Diese Erzählung war immer falsch, wurde aber | |
europaweit von allen etablierten Parteien vertreten – auch von vielen | |
Sozialdemokraten. Die Steuern für die Reichen wurden überall gesenkt, es | |
wurde dereguliert und in den Eurokrisenländen drakonisch gespart. Viele | |
Wähler fühlen sich verraten, sodass sich nun die Rechtspopulisten und | |
Separatisten als die wahren Vertreter des Volkes inszenieren können. | |
29 Oct 2017 | |
## AUTOREN | |
Ulrike Herrmann | |
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