# taz.de -- Katalonien und andere Separatisten: Reiche wollen unter sich bleiben | |
> Unabhängigkeitsbewegungen gibt es derzeit in vielen europäischen Staaten, | |
> es drohen neue Konflikte. Viel anzubieten haben sie aber nicht. | |
Bild: Gereizt vom Rest des Landes | |
Die [1][aktuelle Situation in Katalonien] könnte im Zusammenspiel mit | |
anderen Entwicklungen in Europa bald eine bedrohliche Dynamik entfalten. So | |
hat das Brexit-Referendum vom Juni 2016 separatistischen Bewegungen | |
Auftrieb gegeben: Die schottische Regionalregierung sowie die in Nordirland | |
mitregierende Sinn Féin wollen die anstehenden [2][Brexit-Verhandlungen] | |
dazu nutzen, sich vom Vereinigten Königreich zu trennen. In weiteren 15 | |
EU-Mitgliedstaaten sind Regionalparteien auf Unabhängigkeitskurs und | |
bekunden ihre Solidarität mit der katalanischen Regionalregierung. | |
Interessant sind deshalb folgende Fragen: Wie groß ist die Gefahr des | |
Separatismus innerhalb der EU derzeit einzuschätzen? Was bedeutet sie für | |
den europäischen Integrationsprozess? Und welche Lösungskonzepte haben die | |
Mitgliedstaaten und die Brüsseler Institutionen derzeit anzubieten? | |
Blickt man auf Katalonien, scheint es auf eine Konfrontation | |
hinauszulaufen: Wie schon beim ersten Abstimmungsversuch im Herbst 2014 | |
will sich Barcelona über die verfassungsmäßige Ordnung Spaniens | |
hinwegsetzen. Seine Ankündigung einer Unabhängigkeitserklärung für den | |
kommenden Montag [3][provozierte ein erneutes Einschreiten] des spanischen | |
Verfassungsgerichts. Auf Antrag der katalanischen Sozialisten, die zusammen | |
mit Konservativen und Ciudadanos in der Opposition sind, hat es die Sitzung | |
des Regionalparlaments verboten. | |
Äußerst relevant ist das Phänomen, dass sich gerade wirtschaftlich potente | |
Regionen von ihrem Nationalstaat lösen wollen. Ob Katalonien, Schottland, | |
Flandern oder Südtirol, die Argumente für einen unabhängigen Staat ähneln | |
sich: Im Vordergrund steht die Behauptung, der Zentralstaat sorge für eine | |
Umverteilung der materiellen Ressourcen auf nationaler Ebene, die | |
ungerecht sei. Während sich die schwachen Regionen auf diesem | |
Finanzausgleich ausruhten, müssten die reicheren immer mehr finanzielle | |
Verpflichtungen schultern. | |
## Katalonien ist nicht alleine | |
Seit 2008 hat sich die Staatsverschuldung Spaniens auf 100 Prozent des | |
Bruttoinlandsprodukts (BIP) verdoppelt und 1,1 Billionen Euro erreicht. | |
Diese Krise belastet die Beziehungen zwischen Zentral- und | |
Regionalregierung. Obwohl die Katalanen 16 Prozent der Bevölkerung Spaniens | |
ausmachen, erwirtschaften sie rund 23 Prozent des spanischen BIP. Der | |
katalanische Finanzminister Oriol Junqueras erklärt den Erfolg unter | |
anderem damit, dass die Katalanen mit Geld umzugehen verstünden. Diesen | |
Erfolg möchte er nicht mehr mit anderen Regionen teilen: Es sei „die Zeit | |
gekommen, dass die Katalanen selbst über ihre Zukunft entscheiden“. | |
Zugleich aber ist Katalonien zusammen mit Valencia die spanische Region mit | |
den höchsten Schulden, gemessen an ihrer Wirtschaftsleistung wie auch pro | |
Kopf der Bevölkerung. Im Jahr 2012 musste Madrid eigens einen nationalen | |
Liquiditätsfonds auflegen und sich zusätzlich bei der Europäischen | |
Zentralbank verschulden, um Katalonien, Valencia und Murcia vor dem | |
Bankrott zu bewahren. So ist es kein Zufall, dass der katalanische | |
Ministerpräsident Charles Puigdemont das Referendum auf den 1. Oktober 2017 | |
legte, nachdem sich seine Regierung mit einem US-amerikanischen Investor | |
getroffen hatte. | |
Katalonien steht mit seinen separatistischen Forderungen nicht allein. Der | |
Vorreiter für eine Loslösung von Spanien ist das Baskenland. Für dieses | |
Ziel führte die Terrororganisation ETA bis zum Jahre 2011 einen bewaffneten | |
Kampf. Doch auch etablierte baskische Parteien haben den unabhängigen | |
baskischen Staat auf ihrer Agenda, z. B. die Baskische Nationalistische | |
Partei (EAJ/PNV). Sie stellte bis 2009 den Ministerpräsidenten und konnte | |
deshalb Madrid einen Plan zur Erlangung der Unabhängigkeit vorlegen. Dieser | |
sogenannte Plan Ibarretxe fand zwar eine Mehrheit im Regionalparlament, | |
nicht jedoch im spanischen Abgeordnetenhaus. Aus Furcht vor einem solchen | |
Misserfolg lehnt die katalanische Regionalregierung die Dialogangebote der | |
Zentralregierung über einen Ausbau ihrer Autonomierechte ab. | |
Bereits im Sommer warnte der ehemalige spanische Innenminister Jaime Mayor | |
Oreja vor der Gefahr einer gewaltsamen Eskalation in Katalonien. Selbst | |
baskischer Herkunft, hatte er im Jahre 1996 mit der ETA Verhandlungen über | |
einen Waffenstillstand geführt. Umso schwerer wiegt seine Einschätzung, | |
dass man diese Terrororganisation [4][zwar schwächen konnte], nicht aber | |
ihr politisches Projekt, Spanien mithilfe der nationalistischen Ideologie | |
aufzuteilen. Heute sei sie nicht nur im Baskenland, sondern auch in Navarra | |
und Katalonien präsent. | |
## Auch die Katalanen sind auf Expansion aus | |
Noch im April 2016 gingen in Bilbao Zehntausende für eine Amnestie von 260 | |
inhaftierten ETA-Terroristen auf die Straße. Dabei schauen sie auf | |
Nordirland, wo die britische Regierung allen ehemaligen Kämpfern der | |
Irisch-Republikanischen Armee (IRA) Straffreiheit zugesichert hat. Dennoch | |
erweist sich das nordirische Friedensabkommen von 1998 bis heute als | |
brüchig. In den letzten Jahren ist es immer wieder zu gewaltsamen | |
Ausschreitungen gekommen. Es bedarf nur eines geringen Anlasses, und die | |
alten Wunden reißen wieder auf. | |
Zu einem solchen Stolperstein könnten die Brexit-Verhandlungen werden. Denn | |
Sinn Féin, der politische Arm der IRA, sieht darin eine Chance, der | |
Vereinigung mit der Republik Irland ein Stück näher zu kommen. Sie fordert | |
für Nordirland einen Sonderstatus innerhalb der EU, was einem Austritt aus | |
dem Vereinigten Königreich gleichkommt. Seit Anfang 2017 boykottiert sie | |
die Bildung der Regionalregierung, an der sie als stärkste Kraft im | |
irisch-republikanischen Lager beteiligt werden muss. | |
Die separatistischen Regionalparteien bekennen sich zur europäischen | |
Integration und sehen darin ein Kriterium, das ihren regionalen | |
Nationalismus von dem auf zentralstaatlicher Ebene unterscheidet. Dokumente | |
der regierenden Republikanischen Linken Kataloniens (ERC) zeigen jedoch, | |
dass auch sie auf Expansion aus sind. | |
Bereits in ihrer „Ideologischen Deklaration“ von 1993 ist von einer | |
„imperialen Aufteilung“ der katalanischen Nation die Rede. Danach wird | |
Andorra der katalanischen Region Alt Pirineu i Aran zugeschlagen, ein Teil | |
der französischen Pyrenäen als „Nordatalonien“ bezeichnet und werden die | |
beiden spanischen Provinzen Valencia und die Balearen zum historischen | |
Katalonien gerechnet. Die Unabhängigkeit Kataloniens würde also | |
Territorialkonflikte nach sich ziehen. | |
## Der regionale Separatismus ist ein Rückschlag für die EU | |
Deshalb wird eine Reihe von EU-Mitgliedstaaten ein Veto gegen die | |
Anerkennung eines unabhängigen Katalonien einbringen. Für diesen Fall hat | |
die in Katalonien mitregierende ERC im Bündnis mit anderen | |
sezessionistischen Regionalparteien der Europäischen Freien Allianz (EFA) | |
bereits eine Strategie entwickelt. Unter dem Motto „innere EU-Erweiterung“ | |
schlagen sie einen Mechanismus vor, nach dem abtrünnige Regionen als neue | |
Mitglieder in der EU verbleiben. | |
So könnte vermieden werden, dass zum Beispiel Katalonien oder Schottland | |
mit Ausrufung ihrer Unabhängigkeit auch die EU verlassen müssen. Sie hoffen | |
auf Unterstützung durch EU-Institutionen und darauf, dass in einer sich | |
zuspitzenden Krisensituation beispielsweise der Europäische Rat per | |
Mehrheitsbeschluss ihre Eigenstaatlichkeit anerkennt. Doch das würde einen | |
noch größeren Riss durch die Gemeinschaft ziehen als derzeit die | |
Migrationspolitik. | |
Ein erster Präzedenzfall könnte bereits im Zuge der Brexit-Verhandlungen | |
geschaffen werden, nämlich mit Nordirland. Denn nur wenige Tage nach den | |
jüngsten britischen Parlamentswahlen wurde Simon Coveney zum neuen irischen | |
Außenminister nominiert. Während sich der scheidende Charlie Flanagan als | |
Vermittler in die Nordirland-Verhandlungen um eine Regierungsbildung | |
einbrachte, ergreift sein Nachfolger Partei für Sinn Féin: Seine erste | |
Auslandsreise führte ihn nach Luxemburg, wo er mit dem Chefunterhändler | |
der EU-Kommission für die Brexit-Verhandlungen, dem Franzosen Michel | |
Barnier, zusammentraf. Nach seinem Treffen gab er bekannt, dass Nordirland | |
nun einen Sonderstatus innerhalb der EU brauche. Damit hat er faktisch den | |
Vorschlag von Sinn Féin aufgegriffen. | |
Die europäische Integration lebte bisher von ihrem Nimbus als | |
Friedensprojekt. Dies setzt stabile Staaten und deren Staatsgrenzen voraus. | |
Ziel der EU ist eine immer enger werdende Zusammenarbeit. Dabei sollen die | |
Grenzen durchlässiger und möglicherweise überwunden werden. Aus diesem | |
Blickwinkel betrachtet, bedeuten der regionale Separatismus und seine | |
nationalistische Ideologie einen Rückschlag. Sie diskreditieren die | |
verschiedenen Modelle von Regionalautonomien als Sprungbrett in die | |
Eigenstaatlichkeit und blenden Alternativen wie föderale Modelle aus. Doch | |
gerade darüber diskutieren die Spanier seit geraumer Zeit. | |
## Für die Bürger nur eine Reise ins Ungewisse | |
Der Separatismus bringt die von der Finanzkrise gebeutelten Nationalstaaten | |
nun auch auf politischer Ebene existenziell in Bedrängnis. Dabei sind die | |
EU-Mitgliedstaaten bis heute die tragenden Säulen der europäischen | |
Integration, die allen Defiziten zum Trotz den Unionsbürgern | |
Rechtssicherheit und Demokratie garantieren. Dagegen haben die europäischen | |
Institutionen wie EU-Parlament oder EU-Kommission noch einen Weg der | |
Demokratisierung vor sich. Dazu könnte gehören, den Europäischen Ausschuss | |
der Regionen mit mehr Kompetenzen auszustatten. Separatistische Kräfte | |
dagegen bieten ihren Bürgern und der EU nur eine Reise ins Ungewisse an. | |
6 Oct 2017 | |
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## AUTOREN | |
Sabine Riedel | |
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