# taz.de -- Vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen: Wenn wir hier verkacken, dann … | |
> NRW war immer SPD-Stammland – jetzt will die AfD ran an die Arbeiter. | |
> Eine Milieu-Reportage aus Essen. | |
Bild: Früher SPD, jetzt AfD: der Essener Politiker Guido Reil am Stammtisch mi… | |
Essen taz | Die Kneipe Alt-Carnap liegt an einer vierspurigen Ausfallstraße | |
im Essener Norden. Draußen fliegt Müll umher, unter den Brücken kacken | |
Tauben die Bürgersteige voll. Drinnen, an einem Tisch hinten in der Ecke, | |
sitzt Guido Reil, der Direktkandidat der AfD, umringt von Leuten. Die | |
Ellbogen auf dem Tisch, das Polohemd bis zum letzten Knopf geöffnet. Vor | |
ihm ein Stauder Pils, hinter ihm eine vergilbte Wand, auf die Bauernhöfe | |
gemalt sind – Essen-Karnap vor der Industrialisierung. Am Tisch gegenüber | |
hat der örtliche SPD-Chef Platz genommen. | |
Nicole Pawelczyk betritt die Kneipe und setzt sich neben Reil. Sie hat ein | |
rundes Gesicht, in den Ohrläppchen stecken Kunstperlen. Plötzlich steht der | |
SPD-Mann am Tisch. Er umarmt die Frau, grüßt knapp in die Runde und geht | |
wieder. | |
Noch vor einem guten Jahr hätten sie im Alt-Carnap alle zusammengesessen. | |
Pawelczyk, 29, war fünf Jahre lang in der SPD, ein Jahr im Vorstand des | |
Ortsvereins. 2016 ist sie gemeinsam mit ihrem Freund ausgetreten. Wegen der | |
Flüchtlinge. Und wegen Reil. „Die SPD vertritt die Interessen der kleinen | |
Leute nicht mehr“, sagt sie. Bei der Landtagswahl will sie AfD wählen. | |
Das Alt-Carnap ist die letzte Kneipe im Stadtteil, zwei andere haben | |
geschlossen, wie so vieles im Norden des Ruhrgebiets. Die meisten Zechen | |
und Industrieanlagen haben vor Jahrzehnten dicht gemacht, danach kam nicht | |
mehr viel. Einige Straßenzüge erinnern an die trostlosen, | |
deindustrialisierten Zonen in Nordfrankreich. Viele, die früher Sozialisten | |
und Kommunisten wählten, sind zum Front National übergelaufen. In | |
Frankreich wählte die Hälfte aller Arbeiter im ersten Wahlgang Le Pen. | |
Genau das will die AfD bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen | |
wiederholen. | |
## Ein Malocher zum Vorzeigen | |
Sie inszeniert sich im Ruhrgebiet als neue Malocherpartei gegen die alte | |
SPD. Dafür hat sie hat eine Figur, die ein Geschenk für rechtspopulistische | |
Kampagnenplaner ist: Guido Reil. Er ist ein Malocher zum Vorzeigen, | |
arbeitet als Bergmann in der letzten Zeche in NRW, ist Gewerkschafter und | |
AWO-Mitglied. Und er war 26 Jahre lang in der SPD. | |
Die Rechtspopulisten hoffen, dass ihnen mit Reil ein Coup gelingt wie in | |
Sachsen-Anhalt. Dort wurden sie auf Anhieb zur stärksten Partei bei | |
Arbeitern und Arbeitslosen. Die AfD-Spitze glaubt, dass Reil im Wahlbezirk | |
Essen I der SPD sogar das Direktmandat abjagen kann. | |
Nicole Pawelczyk trat 2011 in die SPD ein. Sie wollte etwas für den | |
Stadtteil machen, Karnap sollte nicht ganz vor die Hunde gehen. „Da geht | |
man hier zur SPD“, sagt Pawelczyk, inzwischen hat die Wirtin ihr ein Bier | |
gebracht. Mit ihrem Freund organisierte sie ein Fest auf dem Marktplatz, | |
setzte sich für den Erhalt des einzigen Supermarkts ein, bekämpfte die | |
Tauben unter der Brücke. Dann sollten in Karnap ein paar hundert | |
Flüchtlinge in einem Zeltdorf untergebracht werden. | |
„Ich habe nichts gegen Flüchtlinge“, sagt Pawelczyk, „aber das waren für | |
Karnap einfach zu viele.“ Als die Flüchtlinge kamen, hatte sie Angst, | |
abends allein die Straße zu gehen. „Sowas durfte man in der SPD aber nicht | |
sagen.“ Pawelcyk störte, dass viel mehr Flüchtlinge in den armen Essener | |
Norden kommen sollten als in den reichen Süden. Sie engagierte sich in der | |
Bürgerinitiative „Carnaper Originale“ gegen das Zeltdorf. | |
Stephan Duda, der Mann am Nebentisch, der Pawelczyk umarmt hatte, ist in | |
der SPD geblieben. Duda, 46, gilt im Stadtteil etwas. Er ist Vorsitzender | |
der Karnaper SPD, des Fußballvereins, des Gartenbauvereins. Ende 2015 hatte | |
er noch mit Reil und Pawelczyk protestiert. Am Schreibtisch entwarf er | |
einen Flyer: „Der Norden ist voll“, stand darauf. Da kommt der | |
Rechtsradikale von der SPD, das hat Duda damals öfter gehört. Ein | |
komplettes Missverständnis, sagt er, hatte er doch Fußballspiele mit | |
Flüchtlingen und einen runden Tisch organisiert. Duda wollte eine | |
gerechtere Verteilung der Flüchtlinge in Essen, nicht mehr. Sein Slogan | |
„Der Norden ist voll“ war ein Fehler, sagt Duda. Er klang wie „Das Boot i… | |
voll“. | |
Duda ärgerte sich über seine Partei, aber die SPD verlassen, das kam für | |
ihn nicht infrage. „Mach dat nich“, hatte Duda zu Reil gesagt, als der zur | |
AfD ging. | |
Heute sehen sich die drei nicht mehr bei der Ortsversammlung, sondern mal | |
beim Einkaufen oder eben in der Kneipe. Am Tisch mit den Abtrünnigen wird | |
das nächste Bier bestellt. Nachdem Reil die SPD verlassen hatte, sprachen | |
viele Genossen schlecht über ihn. „So sollte man mit niemandem umgehen“, | |
sagt Pawelczyk und blickt auf Reil. „Rein menschlich schon.“ Auch sie | |
verließ die SPD. | |
Hier, im Alt-Carnap, ist die AfD kein Fremdkörper mehr. Viele, die am Tisch | |
vorbeikommen, werfen Reil freundliche Worte zu. „Guido, halt ’ne gute Rede | |
morgen“, sagt ein älterer Mann. | |
*** | |
In Essen-Frintrop ist an einem Dienstagnachmittag vor Ostern die | |
sozialdemokratische Welt noch in Ordnung. Im Bürgerhaus sind die Tische eng | |
zusammengeschoben. Gut hundert Rentner sind zum Treffen der | |
Arbeiterwohlfahrt gekommen. Orange Gardinen, Bienenstich auf dem Teller, | |
Papierdeckchen. Aus den Boxen hämmert das Clublied: „Im Herzen von | |
Nordrhein-Westfalen liegt unser schönes Ruhrgebiet / Die Heimat für | |
Millionen Menschen, von allen wird es geliebt“. Heimat. Menschen. Liebe. | |
Einige schunkeln. Die Damen trinken Kännchen, die Herren schon mal ein | |
Pils. Es riecht nach Wir und Zusammenhalt in einer Welt, die sich schnell | |
verändert. Die Älteste ist 102, ihre Tochter, auch Rentnerin, sitzt neben | |
ihr. | |
Thomas Kutschaty, der SPD-Direktkandidat in Essen I, steht am Eingang des | |
Saals. Er ist der Platzhirsch in Essen-Nord, der Gegenkandidat von Reil. | |
Ihn muss die AfD besiegen. | |
## Die sozialdemokratische Erzählung als Brühwürfel | |
„Kann ich noch rumgehen, Postkarten für die Briefwahl verteilen?“, fragt | |
Kutschaty, betont bescheiden. Kutschaty, 48, muss eigentlich nicht fragen. | |
Er ist Justizminister in Düsseldorf und SPD-Chef in Essen. In einer knappen | |
Rede sagt er, dass sie, die Alten, das Land aufgebaut und die Jüngeren | |
davon profitiert hätten. Dass er der Erste in seiner Familie war, der aufs | |
Gymnasium gehen konnte. Das ist die sozialdemokratische Erzählung als | |
Brühwürfel, vom Aufstieg durch Bildung, von Zusammenhalt und Solidarität. | |
Nach seiner Rede geht Kutschaty durch die Reihen, schüttelt Hände von | |
Senioren, die nach der Zukunft des nahe gelegenen Supermarkts fragen. | |
Am Ende seiner Runde steht Dirk Busch, dem Kutschaty ein kurzes „Tach“ | |
zuwirft, mehr braucht man hier nicht zu sagen. Busch, kariertes Hemd, | |
Schlüsselbund am Gürtel, ist hier der Chef – der AWO, aber auch der SPD im | |
Stadtteil. Alles ehrenamtlich. Die SPD hat hier 147 Mitglieder, die AWO | |
380. Früher war das Verhältnis eins zu eins. Wer AWO war, war SPD. „Den | |
Automatismus gibt es nicht mehr“, sagt Busch. „Der Nachwuchs bei der AWO, | |
das bin ich.“ Er ist 57 Jahre alt. | |
Früher, in den glorreichen Zeiten der Ruhrgebiets-Sozialdemokratie, waren | |
Mieterverein und Gewerkschaft, Stadtverwaltung und Partei, AWO und | |
Fußballverein verschiedene Teile desselben sozialen Körpers. Arbeiter wie | |
der Elektroinstallateur Busch stehen dafür noch heute. Wer Probleme mit | |
Schule, Job, Wohnung hatte, ging zum Betriebsrat, der sowieso in der SPD | |
war. Man kannte sich. Die Verwischung von Amt und Interessen war eine | |
Nährlösung für den Filz, der über die Jahrzehnte immer dichter wurde. | |
Kutschaty verabschiedet sich von Busch und den Senioren, er muss zum | |
nächsten Wahlkampftermin. Seit einem Jahr ist er zusätzlich zum Ministerjob | |
und dem Direktmandat auch SPD-Chef in Essen. „Das war kein Amt, nach dem | |
ich mich gedrängt hatte“, sagt er. Kutschaty hatte keine Wahl. Die Essener | |
SPD hat es sogar für Ruhrgebiets-Verhältnisse zu einer erstaunlichen | |
Frequenz von Affären gebracht. Ein Parteichef musste nach Spendenskandal | |
und Konkursverschleppung ins Gefängnis, eine Bundestagsabgeordnete gab 2016 | |
ihr Mandat zurück, weil sie ihren Lebenslauf um Abitur und Jurastudium | |
bereichert hatte. Die letzte Oberbürgermeisterwahl gewann die CDU. Und nun | |
Reil, der Abtrünnige, und die AfD. | |
Die SPD hat in NRW noch 108.000 Mitglieder, im Jahr 2000 waren es fast | |
doppelt so viele. Und sie ist eher männlich, alt und deutsch in Gegenden, | |
die migrantisch und jung sind. Bei der AWO im Essener Norden ist sie noch | |
die Heimatpartei. Aber sie schwächelt. | |
In Essen lebt jeder fünfte von Geld vom Staat. Als Kutschaty vor Kurzem um | |
neun Uhr morgens eine Kita besuchte, war die fast leer. Die Kinder kommen | |
später, erklärten die Erzieherinnen, Hartz-IV-Familien halt. Die Essener | |
SPD hat eine Sozialberatungsstelle eröffnet. Solche Hilfen für | |
Hartz-IV-Empfänger bietet sonst die Linkspartei an, aus der SPD gibt es das | |
nur in Essen. „Die Sozialberatung“, sagt Kutschaty, „ist der Versuch, eine | |
Klientel zurückzugewinnen, die wir verloren haben.“ | |
Das ist schwierig. Denn die Hartz-IV-Klientel ist nicht empfänglich für die | |
sozialdemokratische Erzählung vom Aufstieg durch Bildung, ist taub für die | |
Lobreden von Schulz auf die hart arbeitenden Menschen. Wer Hartz IV | |
bekommt, wählt öfter Protestparteien – wie die AfD. | |
*** | |
Ein Tag nach dem Besuch in der Kneipe, ein Samstagvormittag Anfang April. | |
Die AfD hat auf den Marktplatz in Altenessen zum Wahlkampfauftakt geladen. | |
„Wir rocken NRW“ steht auf der Einladung. Um kurz nach zehn fährt Guido | |
Reil mit seinem blauen VW-Bus auf den Marktplatz. „Der Steiger kommt! Guido | |
on Tour!“ steht auf dem Bus, daneben Reils Gesicht mit Helm und | |
Grubenlampe, das Gesicht von Kohle geschwärzt. Das Foto ist gestellt, die | |
Kohle hat Reil aus seinem Keller geholt, verrät er später. | |
Als er aus dem Bulli springt, brandet Applaus auf. „Guido!“, ruft eine | |
Frau. Reil trägt eine Daunenweste über dem karierten Hemd, die so knallblau | |
ist wie das Logo seiner Partei. Er geht von Gruppe zu Gruppe, schüttelt | |
Hände, klatscht auf Schultern. | |
## Was ihm auf der Seele brennt | |
Die Partei gibt alles, um auf dem Platz, der von allen Seiten von | |
Polizisten abgeschirmt wird, Nostalgie aufkommen zu lassen. Das | |
Steigerlied, die Bergbauhymne, wird angestimmt und „Glück auf“ skandiert. | |
Jörg Meuthen und Frauke Petry, die zerstrittenen Bundesvorsitzenden, | |
bekommen Steigerlampen überreicht. Ruhrpottfolklore. Doch trotz der | |
Prominenz bleibt der Marktplatz halb leer. Nicht einmal die Hälfte der | |
angemeldeten tausend TeilnehmerInnen sind gekommen. „Das ist totaler Mist“, | |
sagt Reil. „Wenn wir hier verkacken, dann überall.“ | |
Dann springt er auf die Bühne, spricht über Solidarität und Gerechtigkeit | |
„die Werte der AWO“, wie er sagt. „Die AWO will mich rausschmeißen, weil | |
ich anderer Meinung bin“, sagt er und läuft auf der Bühne auf und ab. „F�… | |
mich ist das Faschismus.“ Dann sagt er, dass sich die SPD nicht mehr um die | |
kleinen Leute kümmere, sondern nur noch um die Posten der Funktionäre. Dass | |
für die Flüchtlinge viel und für die Rentner wenig Geld da sei, dass | |
Rot-Grün den Ruhrpott kaputt mache und wieder Industrie und Kraftwerke | |
gebraucht würden. Reil redet schnell, in der Ruhrpottfärbung des Essener | |
Nordens. | |
Vor der Bühne steht Pawelzyk vor ihrem Freund, beide in Outdoorjacken, er | |
hat die Arme um ihre Taille gelegt. „Das, was er immer sagt“, sagt | |
Pawelczyk, während sie klatscht. Sie meint das anerkennend. Reil ist für | |
sie einer, der sich nicht verbiegt, egal ob er auf dem Sofa sitzt, in der | |
Kneipe oder auf einer Bühne auf dem Marktplatz steht. Ihr Freund nickt. | |
„Guido ist halt authentisch“, sagt er. | |
Mit diesem Image hat es Reil zu einer gewissen Berühmtheit gebracht. Gerade | |
ist sein Buch „Wahrheit statt Ideologie. Was mir auf der Seele brennt“ | |
erschienen. Bei der AfD wird er bundesweit herumgereicht, er tritt in | |
Talkshows auf. Vor wenigen Tagen wurde sein Auto demoliert, jemand hat in | |
großen Lettern „Arbeiterverräter“ auf seine Garage gesprüht. Es ist eine | |
Antwort auf ein Wahlplakat mit seinem Gesicht: „Vertritt die Interessen der | |
kleinen Leute, anstatt sie zu verraten“. | |
Die AfD stellt sich mit Reil als Arbeiterpartei dar. Doch die Rolle passt | |
nicht recht zum Programm. Der Front National setzt in Frankreich | |
sozialpopulistisch auf höhere Löhne und die Rente mit 60. Die AfD ist | |
dagegen in vielem neoliberal, fordert mehr Markt und weniger Staat. Sie | |
zielt auf Leute, die Angst haben, etwas zu verlieren, Leute wie Pawelczyk | |
und ihren Freund. Sie ist Arzthelferin, er arbeitet als Techniker bei einer | |
Wohnungsbaugesellschaft. Sie wohnen in einer Bergbausiedlung mit kleinen | |
Häusern aus rotem Backstein, von denen es im Ruhrgebiet einige gibt. Das | |
Haus gehört ihm, hinten ein Garten, vor dem Haus blüht eine Magnolie. | |
Klingt idyllisch – aber wie lange noch? | |
Pawelczyks Freund glaubt, dass es einen „großen Knall“ geben werde, das | |
habe er in einem Buch aus dem rechten Kopp-Verlag gelesen, „Was Sie nicht | |
wissen sollen“, heißt es. Manchmal träumen die beiden von einem Leben auf | |
dem Land – weit weg von den Problemen im Essener Norden. | |
„Guido Reil, wie tief bist du gesunken!“, brüllt ein kleiner, drahtiger | |
Mann vom Rand des Marktplatzes. „Der missbraucht die Steigerhymne“, sagt | |
der Mann leiser und stellt sich vor: Gerd Peter Wolf, 64, war in den 80er | |
Jahren SPD-Landtagsabgeordneter. Sein Vater war Bergmann, er machte | |
Karriere. | |
## „Ich will Gentrifizierung“ | |
Damals schloss die Zeche „Zollverein“, eine Kokerei und Schachtanlage so | |
groß wie die Essener Innenstadt. Wolf setzte sich dafür ein, dass das | |
Gelände nicht plattgemacht, sondern zum Denkmal wurde. Eine Million | |
Besucher kommen jedes Jahr, „Zollverein“ ist Unesco-Welterbe. Demnächst | |
öffnet dort eine Hochschule für Design. „Ich will Gentrifizierung“, sagt | |
Wolf mit Lust an der Provokation. Er will den reichen Süden von Essen in | |
den armen Norden holen. | |
Das ist zwar kein Allheilmittel für den verarmten Norden, zeigt aber, dass | |
etwas wachsen kann, wo die Industrie unterging. Reil dagegen schürt die | |
Illusion, dass Bergbau und Schwerindustrie eine Zukunft haben. Dass alles | |
wieder so wird, wie es früher war. | |
*** | |
Auch der SPD-Kandidat Kutschaty war auf dem Markt in Altenessen und hat | |
sich seinen Konkurrenten Reil angeschaut, „als Zaungast“, wie er sagt. | |
Heute steht Kutschaty selbst auf einem Marktplatz in Essen-Borbeck und | |
verteilt am SPD-Infostand geduldig Kugelschreiber. | |
Es ist Vormittag, an den Ständen werden Kartoffeln und vier Paar Socken für | |
2,50 verkauft, vor allem an Rentner. Es geht gemütlich zu, kleinstädtisch | |
und entspannt. „Grüßen Sie Ihren Vater“, sagt eine Dame mit Rollator zu | |
Kutschaty. Hier ist er „der Thomas“, der zwischen den Wahlkampfterminen | |
rasch nach Hause geht und für die Tochter Spargelsuppe kocht. Die | |
Stimmungsmache der AfD gegen die abgehobenen Eliten perlt an ihm ab. Er ist | |
in seinem Leben dreimal umgezogen. Immer in Essen, nie weiter als drei | |
Kilometer. Ein Aufsteiger mit Bodenhaftung. | |
Ein Mann mit Brille und Baseballcap strebt zielstrebig auf den | |
Wahlkampfstand zu, gibt sich einen Ruck und fragt Kutschaty: „Was tun Sie | |
gegen Ausländerkriminalität?“ | |
Kutschaty stutzt, sagt, „dass wir gegen jede Kriminalität vorgehen, egal ob | |
von Deutschen oder von Ausländern“, dass es zehn Prozent mehr Staatsanwälte | |
in NRW gebe, dass die Kriminalität in manchen Bereichen rückläufig sei. Der | |
Mann unter der Baseballcap findet, dass es ein Unding sei, eine Million | |
Ausländer ins Land zu lassen. Dass die Renten knapp seien. Dass die Bürger | |
die Schnauze voll hätten. | |
## Bürgerwut und Politikerverachtung | |
Kutschaty weist darauf hin, dass Flüchtlinge mit dem Rentenniveau nichts zu | |
tun hätten. „Sind Sie auf der Straße schon mal bedroht worden?“, fragt er | |
den Mann. Nun ja, sagt der, eigentlich nicht. Sie leben in einem der | |
sichersten Länder, sagt Kutschaty, der eine Selbstsicherheit ausstrahlt, | |
die ihr hässliches Geschwister, die Überheblichkeit, nicht braucht. | |
„Das nehm ich mal so hin“, sagt der Mann und dreht sich grußlos auf dem | |
Absatz um. | |
Dieser Dialog ist in Zeiten von Bürgerwut und Politikerverachtung wohl | |
geglückte Kommunikation zwischen Regierenden und Regierten zu nennen. | |
Kutschaty macht den Eindruck, dass er jedes Übel in handhabbare Teile | |
zerlegen kann, die so lange analysiert werden, bis alles nicht mehr so | |
schlimm zu sein scheint. „Es gibt keine Massenabwanderung von der SPD zur | |
AfD im Essener Norden“, sagt Kutschaty. Alles übertrieben. | |
Bei der Wahl vor fünf Jahren bekam Kutschaty 58 Prozent der Erststimmen, | |
sieben Prozent mehr als die SPD Zweitstimmen erhielt. Dass Reil gegen ihn | |
das Direktmandat gewinnt, wäre ein Wunder. | |
Und dennoch: Reil hat es geschafft, in das angestammte Milieu der SPD | |
einzudringen. In Essen-Karnap zeigt sich wie unter dem Mikroskop, was | |
Rechte brauchen, um ihren Erfolg in Frankreich, Österreich oder den USA in | |
Deutschland zu wiederhole n: Eine charismatische Person in einer | |
strukturschwachen Region, die ein ängstliches Kleinbürgertum mobilisiert. | |
Essen-Karnap zeigt aber auch, was den Erfolg von Rechtspopulisten | |
verhindert und was Deutschland trotz allem von Ländern wie Frankreich | |
unterscheidet: Eine Sozialdemokratie, die in der Bevölkerung verwurzelt | |
ist. | |
Die Rechtspopulisten, glaubt Kutschaty, seien auf dem absteigenden Ast. | |
Weil es keine überfüllten Sporthallen mehr gibt, keine Kämpfe mehr gegen | |
Flüchtlingszelte. „Oder sehen Sie hier auf dem Borbecker Markt | |
Flüchtlinge?“, fragt er und schaut sich um. | |
Es ist alles wieder normal. Das ist die Botschaft der SPD. Und ihre | |
Hoffnung. | |
10 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Sabine am Orde | |
Stefan Reinecke | |
## TAGS | |
NRW-SPD | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Schwerpunkt AfD | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
NRW | |
Schwerpunkt Rechter Anschlag in Hanau | |
Ruhrgebiet | |
Schwerpunkt Armut | |
Martin Schulz | |
NRW | |
Landtagswahl Nordrhein-Westfalen | |
Schwerpunkt AfD | |
Schwerpunkt AfD | |
SPD Schleswig-Holstein | |
Landtagswahl Schleswig-Holstein | |
Die Partei | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
SPD-Parteitag in NRW: Fast schon revolutionär | |
Die SPD in NRW will mit einem linken Programm zurück an die Macht. Dann | |
sprengen die Jusos mit einer Rassismus-Debatte die feel-good-Atmosphäre. | |
Ausstellung zum Wandel des Ruhrgebiets: Das Leben seiner Nachbarn | |
Als Idyll mit Hang zur Dystopie: So sah der Fotograf Rudolf Holtappel das | |
Ruhrgebiet. Er ist im Museum Unter Tage in Bochum zu entdecken. | |
Zahlen der Arbeitsagentur: Immer mehr Kinder müssen hartzen | |
Die Zahl der Kinder, die in Hartz-IV-Haushalten leben, ist in den | |
vergangenen vier Jahren gestiegen. Jeder zehnte ALG-1-Empfänger muss mit | |
Hartz IV aufstocken. | |
Die SPD nach der NRW-Wahl: In der Gerechtigkeitsfalle | |
Nach der NRW-Wahl hat die SPD eine Gratwanderung vor sich: Zu wenig | |
Gerechtigkeit vergrault Stammwähler, zu viel vertreibt Wechselwähler. | |
Drei Liebeserklärungen an NRW: „Nur rumsitzen ist nix für uns“ | |
Gemeinschaftsgefühl trotz Bindestrich, rheinische Heiterkeit und | |
Erinnerungen ans Herrengedeck. | |
Hannelore Krafts NRW-Wahlkampf: Nah bei den Leuten | |
In der westfälischen Provinz pflegt die Ministerpräsidentin ihr Image als | |
Kümmerin. Ob das aber reicht? Sie scheint selbst zu zweifeln. | |
Wahl in Nordrhein-Westfalen: Rückkehr nach Emmerich | |
Ein Heimatausflug zu den Abgehängten am Niederrhein, wo das Land deutsch | |
und blass ist und AfD wählt. Und sehr schön sein kann. | |
Kommentar AfD in Schleswig-Holstein: Der harte Kern bleibt | |
Die AfD bleibt eine Randpartei. Doch ihr beständiger Einzug in die Landtage | |
spricht für eine gefestigte Kernwählerschaft – am rechten Rand. | |
Enttäuschung an der SPD-Basis: Auf Euphorie folgt Ernüchterung | |
Das Ergebnis in Schleswig-Holstein verpasst auch den Berliner Genossen | |
einen Dämpfer. Tenor: Schulz muss jetzt mal liefern. | |
AfD vor der Wahl in Schleswig-Holstein: Blasse Alternative | |
Die AfD dürfte es bei der Landtagswahl am kommenden Sonntag schwer haben. | |
Warum die Partei im Norden weniger verfangen hat als anderswo. | |
Satire im NRW-Wahl-O-Mat: Mehr Menschlichkeit für Sachsen | |
Lustiger Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen: Die Partei mischt mal wieder die | |
politische Landschaft auf – diesmal im Wahl-O-Mat. |