# taz.de -- Gerangel ums G8: Der gymnasiale Stellvertreterkrieg | |
> Eltern protestieren, Politiker schwanken, Betroffene fühlen sich wie | |
> Versuchstiere. In drei Bundesländern ist G8 Wahlkampfthema. | |
Bild: Wer steht hier für G8 und wer für G9? | |
BERLIN taz | Die Schultage können lang sein an der Theodor-Heuss-Schule in | |
Essen. Am Montag, Mittwoch und Donnerstag ist für viele Kinder erst kurz | |
vor vier Uhr Schulschluss. „Ein Großteil der Schülerinnen und Schüler ist | |
an zwei oder drei Tagen nachmittags noch in der Schule“, berichtet | |
Schulleiter Thomas Doepner. | |
Ein typisches G8 also. G wie Gymnasium, 8 wie acht Jahre bis zum Abitur. | |
Vor über zehn Jahren hatte Nordrhein-Westfalen, so wie die meisten | |
westdeutschen Bundesländer, die Gymnasialzeit verkürzt und die Reifeprüfung | |
um ein Jahr auf Klasse 12 vorgezogen. Die Folge des „Turbo-Abis“: Teenager | |
mit Burn-out-Syndrom, erboste Eltern, die zu Nachhilfelehrern und | |
Straßenkämpfern mutierten und fürsorgliche Oppositionspolitiker, die eine | |
sofortige Rückkehr zum G9 fordern. | |
„Ach wo“, sagt Schulleiter Doepner. „G8 ist kein Thema bei uns an der | |
Schule. Die Schüler sind nachmittags hier, weil es einfach Spaß macht.“ Das | |
Gymnasium bietet am Nachmittag zusätzliche Kurse und Arbeitsgemeinschaften | |
an: Die Schüler können im Chor singen, besuchen Forscherkurse oder | |
bilingualen Unterricht. | |
Doepner und die 760 Schüler, 60 Lehrer und 20 weiteren Mitarbeiter des | |
Theodor-Heuss-Gymnasiums scheinen in einem völlig anderen | |
Nordrhein-Westfalen zu leben als Marcus Hohenstein. Der Sprecher der | |
Elterninitiative „G9 jetzt“ spricht von den „katastrophalen“ Folgen des… | |
„Kinder müssen bis vier Uhr unterrichtet werden, was dazu führt, dass | |
Freizeitaktivitäten kaum noch ausgeübt werden können.“ Für ihn ist | |
erwiesen: Mit G8 sinkt die Bildungsqualität. | |
## Je nach Region sind Verteidiger und Gegner vertauscht | |
Vor drei Jahren hatten Hohenstein und seine Elterninitiative 100.000 | |
Unterschriften für eine Volksinitiative zusammengetragen. Seit Januar | |
sammeln sie nun für ein Volksbegehren. | |
Unter dem Druck protestierender Eltern ist das achtjährige Gymnasium jetzt | |
auch wieder auf der Agenda der Parteien im Wahlkampf gelandet. Und zwar | |
nicht nur in Nordrhein-Westfalen, wo im Mai gewählt wird, sondern auch im | |
Saarland und in Schleswig-Holstein, wo die Bürger in diesem Frühjahr | |
ebenfalls über neue Länderparlamente abstimmen. Auch in Schleswig-Holstein | |
sammelt die Elterninitiative „G9 jetzt!“ Unterschriften, um das Rad | |
zurückzudrehen. | |
Und da Schulpolitik nun einmal Ländersache ist, lässt sich darüber gerade | |
in Wahlkampfzeiten trefflich streiten. Paradoxerweise verlaufen die | |
Auseinandersetzungen zum G8 nicht farblich sortiert entlang von | |
Parteilinien. Je nach Region sind die Rollen von Verteidigern und Gegnern | |
des G8 vertauscht. | |
Während im Saarland die christdemokratische Regierungschefin Annegret | |
Kramp-Karrenbauer am G8 festhalten will und ihre Herausforderin, die | |
SPD-Spitzenkandidatin Anke Rehlinger, zum langsameren G9 zurückkehren | |
möchte, ist es in Schleswig-Holstein genau umgekehrt: Dort will die CDU im | |
Falle eines Wahlsiegs das Abitur nach neun Jahren wieder verbindlich an | |
Gymnasien einführen, während die SPD keine Veränderungen will. | |
## Die Politiker gingen vor wie Möbelträger | |
Der stellvertretende Landeschef der schleswig-holsteinischen CDU, Tobias | |
Loose, der die Junge Union hinter sich weiß, greift in seiner Argumentation | |
wiederum ähnliche Gründe auf wie die Linken-Spitzenkandidatin in | |
Nordrhein-Westfalen, Özlem Demirel. Demirel meint: „Lernen braucht Zeit“, | |
Loose sagt: „Uns geht es um Entschleunigung.“ | |
Und Grüne und SPD in NRW wollen, dass die Schulen beide Varianten | |
gleichzeitig anbieten – das G8 und das G9. | |
Konfusion komplett also. So unübersichtlich wie die Einführung der | |
Schulzeitverkürzung verlief, droht nun der Ausstieg zu werden. | |
In Schleswig-Holstein, ähnlich wie in Nordrhein-Westfalen, kappten die | |
Politiker an den Gymnasien ein Schuljahr, indem sie den Stoff in der | |
Mittelstufe komprimierten und die dreijährige Oberstufe nicht antasteten. | |
Die Bildungspolitiker gingen im Grunde vor wie Möbelträger, die bei einer | |
Klaviertastatur eine Oktave absägen, damit das Klavier durch die Tür passt. | |
## Kein einziger pädagogischer Grund für G8 | |
Die Folge: Die Gymnasien sind nicht mehr kompatibel zum Rest der | |
Schullandschaft, in NRW endet die Mittelstufe an den Gymnasien nach der | |
neunten Klasse, an den anderen Schulen nach Klasse zehn. | |
Während die Linke Demirel in NRW zumindest behaupten kann, ihre Partei sei | |
schon immer gegen das G8 gewesen, vollführen Looses CDUler in | |
Schleswig-Holstein gerade eine 180-Grad-Wende. 2008 hatten sie das G8 | |
zusammen mit der SPD eingeführt. „Die Rahmenbedingungen haben sich massiv | |
geändert“, sagt Loose heute. | |
Damals war man der Meinung, deutsche Absolventen kämen zu spät auf den | |
Arbeitsmarkt – die Abschaffung der Wehrpflicht und die gestraffte | |
Studienstruktur hätten allerdings schon dafür gesorgt, dass die | |
Berufsanfänger von heute deutlich jünger sind. Und mal ehrlich, meint | |
Loose, ein 21-jähriger Hochschulabsolvent habe keine besseren Chancen auf | |
dem Arbeitsmarkt als ein 23-jähriger. Im Gegenteil. | |
Was Loose damit auch ausspricht und was im Grunde genommen immer Konsens | |
unter Fachleuten war: Für die Einführung des G8 gab es keinen einzigen | |
pädagogischen Grund. Es ging allein um wirtschaftliche Gründe. | |
## „Die Akzeptanz des G8 ist total im Keller“ | |
Umgekehrt gilt dasselbe: Die Befürworter des G9 argumentieren allenfalls | |
aus freizeitpädagogischer Sicht. „Die Schüler haben wieder mehr Freizeit | |
und die Chance, das Wissen im Langzeitgedächtnis zu speichern“, beantwortet | |
Elternaktivist Hohenstein die Frage nach dem pädagogischen Mehrwert des G9. | |
Oder sie schieben das Missfallen der Eltern vor. „Die Akzeptanz des G8 ist | |
total im Keller“, zitiert der parlamentarische Geschäftsführer der NRW-SPD, | |
Marc Herter, Umfragen. Und er betont: „Es ist unverantwortlich den jüngeren | |
Schülern so viel Stress zuzumuten.“ | |
Tatsächlich fällt das G8 bei Eltern mehrheitlich durch. Allerdings: „Dieser | |
Unmut lässt sich nicht dingfest machen“, sagt der Bielefelder Schulforscher | |
Klaus-Jürgen Tillmann, der die alle drei Jahre erscheinenden | |
Jako-O-Schulstudien betreut. | |
Bei der diesjährigen, noch unveröffentlichten, Befragung setze sich der | |
Trend der vergangenen Jahre fort: Eltern lehnen das G8 zu 80 Prozent ab, | |
geben aber gleichzeitig an, dass ihr Kind gern zur Schule gehe und mit den | |
Anforderungen gut zurechtkomme. „Hier hat sich eine Sichtweise verfestigt, | |
für die es keine Indikatoren gibt“, meint Tillmann. Leistungsvergleiche | |
bestätigten, dass G8-Schüler genauso kompetent seien wie die G9-Jahrgänge | |
früherer Zeiten. | |
## Man hat sich arrangiert | |
„Die Schüler sind nicht schwächer, sie sind nur jünger“, berichtet auch | |
Schulleiter Doepner von den Erfahrungen an seinem Essener Gymnasiums mit | |
G8. | |
Während die Debatte auf der politischen Ebene emotional geführt wird, | |
reagieren Lehrerverbände denn auch zurückhaltend. Tenor: Bitte verschont | |
uns mit neuen Strukturdebatten! | |
Man habe das G8 zwar immer kritisiert, inzwischen aber habe man sich | |
arrangiert, erzählt der Geschäftsführer der schleswig-holsteinischen GEW, | |
Bernd Schauer. „Die Schulen kommen damit ganz gut klar.“ | |
„Aus den Schulen wird uns kein Handlungsbedarf gemeldet“, berichtet auch | |
der Vorsitzende des nordrhein-westfälischen Philologenverbands, Peter | |
Silbernagel. | |
## „Debatte um G8 is ein Stellvertreterkrieg“ | |
Und im Saarland verfolgt der Philologenverband die politische Debatte eher | |
alarmiert: Man wolle kein jahrelanges Gezerre um neue Schulstrukturen: „Von | |
einer Politik des Ausprobierens haben die Lehrer die Schnauze voll“, sagt | |
der Vorsitzende des Philologenverbands, Markus Hahn. „Das können Sie genau | |
so zitieren.“ | |
Philologenverband und GEW stehen traditionell auf verschiedenen Seiten der | |
Schulfront: als Gymnasiallobbyisten sind die einen, als Einheitsschulfans | |
sind die anderen verschrien. Tatsächlich sind die Gräben in vielen | |
Bundesländern inzwischen zugeschüttet. Denn neben den Gymnasien haben sich | |
fast überall Schulformen etabliert, die alle Abschlüsse einschließlich des | |
Abiturs anbieten. Die Schüler haben dort in der Regel ein Jahr länger Zeit. | |
G9 gibt es also längst wieder – wenn auch nicht an Gymnasien. | |
Den mühsam errungenen Schulfrieden sieht Schauer von der GEW gefährdet: | |
„Wenn flächendeckend G9 wieder eingeführt wird, könnte der Zulauf an den | |
Gemeinschaftsschulen leiden.“ | |
„Die Debatte ums G8 ist im Grunde ein Stellvertreterkrieg“, meint | |
Gymnasialvertreter Silbernagel aus NRW. Stattdessen solle man lieber über | |
Inklusion und Integration sowie über die Versorgung mit Lehrern reden. Da | |
gebe es tatsächlich Rede- und Handlungsbedarf. | |
## Die Schülervertretung will G8 behalten | |
Darin sind sich die Lehrer- mit den Schülervertretern einig. „Es muss viel | |
mehr geschehen, als einfach nur das System wieder in lockerere Bahnen zu | |
lenken“, sagt Luca Samlidis von der Landesschülervertretung NRW, die eine | |
flexiblere Oberstufe befürwortet, „allerdings nicht zurück zum alten G9 | |
will“. | |
Noch deutlicher positionieren sich die saarländischen | |
SchülervertreterInnen: „Wir wollen das G8 beibehalten“, sagt die | |
Vorsitzende der Landesschülervertretung Maja Emanuel. Die 17-Jährige | |
besucht selbst einen G9-Jahrgang auf einem Oberstufengymnasium. Als sie | |
eingeschult wurde, gab es das G8 im Saarland schon ein paar Jahre. | |
„Manche Eltern haben wohl noch nicht verstanden, dass wir nicht mehr im 20. | |
Jahrhundert Schule machen“, meint sie und fügt hinzu: „Ein gutes G8 bringt | |
Schule weiter als die Rolle rückwärts.“ | |
17 Mar 2017 | |
## AUTOREN | |
Anna Lehmann | |
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