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# taz.de -- Ermittlungen zum Fall Anis Amri: Terrorabwehr reloaded
> Zum Anschlag in Berlin sind zentrale Fragen weiterhin ungeklärt. Mit dem
> Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum ist keiner zufrieden.
Bild: Auf dem Weg zur nichtöffentlichen Sitzung des Innenausschusses am 18.01.…
Berlin taz | Am Montag ging Bundesinnenminister Thomas de Maizière einen
ungewöhnlichen Schritt. Der CDU-Politiker ließ einen [1][jener Berichte im
Internet veröffentlichen], die gemeinhin als intern gelten. Auf 19 Seiten
wird aufgelistet, was die Behörden im Fall von Anis Amri, dem Attentäter
vom Berliner Breitscheidplatz, so alles unternahmen.
Die Chronologie beginnt mit der Einreise nach Italien, die deutschen
Behörden kommen am 6. Juli 2015 ins Spiel: als Amri unter einem seiner
falschen Namen in Freiburg erstmals registriert wurde. Die Aufzählung
endet am 21. Dezember 2016, als Amris Passersatzpapiere aus Tunesien bei
der Ausländerbehörde in Köln eingingen – zwei Tage nach dem Anschlag in
Berlin, bei dem 12 Menschen umkamen.
Dazwischen: 94 Einträge von Ausländer-, Justiz- und Sicherheitsbehörden,
oft denen in Nordrhein-Westfalen und Berlin. Siebenmal berieten die
Behörden im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum von Bund und Ländern (GTAZ) in
Berlin über Amri. Und kamen gemeinsam zu der fatalen Fehleinschätzung, dass
von dem Tunesier keine konkrete Gefahr ausgehe.
Als die Liste aus dem Bundesinnenministerium online ging, wurden gerade die
neun Mitglieder des Parlamentarischen Gremiums, das die Geheimdienste
kontrolliert, in einem abhörsicheren Raum im Keller des Bundestags über den
Stand der Ermittlungen im Fall Amri informiert. Im Laufe der Woche berieten
– nichtöffentlich – zudem der Innen- und der Rechtsausschuss.
Jeweilige Grundlage: eine Variante der Liste, die das Innenministerium am
Montag veröffentlichte; vier Versionen soll es inzwischen geben. Auf allen
stehen viele Termine, aber kaum Inhalte. Und keinerlei Bewertung. „Es hat
etliche Sitzungen gegeben, und wir wissen jetzt viel über Formalitäten“,
sagt Frank Tempel (Linke), stellvertretender Vorsitzender des
Innenausschusses. „Was genau passiert ist, wissen wir aber nicht.“
## Zentrale Fragen weiter offen
Am Ende der ersten parlamentarischen Sitzungswoche in diesem Jahr sind
zentrale Fragen weiter offen: Wie konnte es zu der verhängnisvollen
Fehleinschätzung kommen, dass Amri nicht akut gefährlich sei? Warum
verloren die Behörden ihn aus dem Blick? Warum versuchte niemand, Amri in
Abschiebehaft zu nehmen oder ein Strafverfahren wegen Drogendelikten oder
Sozialbetrug einzuleiten? Dass die Behörden bis „an die Grenze des
Rechtsstaats“ gegangen seien, wie NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD)
betont, bezweifelt nicht nur die dortige Opposition.
Niemand habe versucht, die Ermittlungen zu den Straftaten
länderübergreifend „zusammenzuführen“, um Amri zu inhaftieren, kritisiert
BKA-Chef Holger Münch. Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz,
Hans-Georg Maaßen, sagt: „Meiner Einschätzung nach war der
Informationsaustausch zwischen den Sicherheitsbehörden gut.“
## War Anis Amri Informant?
Eine andere Frage sei, inwiefern insbesondere die Ausländerbehörden alles
richtig gemacht hätten. Das soll wohl heißen: Nach Fehlern muss man in den
Ländern suchen. Hier wiederum versuchen NRW und Berlin, sich gegenseitig
die Verantwortung zuzuschieben. In Nordrhein-Westfalen wird im Mai ein
neuer Landtag gewählt. Für die dortige SPD geht es um viel.
Und wenn man Amri gar nicht festsetzen wollte? Dass der Tunesier ein V-Mann
gewesen sein könnte, [2][haben die Behörden dementiert]. Bleibt die
Vermutung, die in der Opposition kursiert, dass sich die
Sicherheitsbehörden über Amri womöglich Informationen über die radikale
Islamistenszene versprachen – und die Gefahrenabwehr hintanstellten.
Die Gefährlichkeit eines Menschen einzuschätzen ist schwer. Amri, der sich
erst in NRW, dann zunehmend häufig in Berlin aufgehalten hatte, war seit
Februar als „Gefährder“ eingestuft; die Polizei traute ihm also einen
Anschlag zu. Insgesamt 547 Personen gelten derzeit bundesweit als
Gefährder, drei von ihnen sind – wie Amri – abgetaucht. Die Polizei weiß
nicht, wo sie sind. Ein halbes Jahr lang, von Mai bis September 2016, wurde
Amri von der Berliner Polizei überwacht. Sein Telefon wurde abgehört,
„anlassbezogen“ observiert. Wie oft das war, ist nicht bekannt.
„Es entstand der Eindruck eines junges Mannes, der unstet, sprunghaft und
äußerst wenig gefestigt ist“, heißt es in der Chronologie. Statt in der
Moschee hielt Amri sich immer öfter in der Berliner Drogenszene auf, nahm
Kokain und Ecstasy. Wiederholt soll er gesagt haben, er wolle nach Tunesien
zurückkehren. Hinweise auf die Planung einer Gewalttat fand die Polizei
nicht. Folgerichtig wurde die Überwachung eingestellt. Inwieweit der
Verfassungsschutz Amri danach im Blick hatte, ist unklar. Nur das: Ende
Oktober ortete der nordrhein-westfälische Dienst Amris Handy in
Berlin/Brandenburg.
Doch warum schrillten die Alarmglocken nicht, als sich die marokkanischen
Behörden im September und Oktober – nach dem Ende der Beobachtung durch die
Polizei – gleich dreimal in Sachen Amri meldeten: Dieser sei Anhänger des
„Islamischen Staates“, bezeichne Deutschland als Land des Unglaubens und
führe „ein Projekt aus“. Das Berliner LKA befand: „Mitteilung enthält k…
über den bisherigen Stand hinausgehenden Informationen.“
Am 2. November war Amri noch einmal Thema im Gemeinsamen
Terrorabwehrzentrum (GTAZ). An einem langen Besprechungstisch im zweiten
Stock eines der ehemaligen Kasernengebäude in Berlin-Treptow hatten
Vertreter von BKA, Bundesnachrichtendienst und dem Bundesamt für
Verfassungsschutz Platz genommen, Bundesanwaltschaft und Bundespolizei
waren vertreten, ebenso die Landeskriminal- und Verfassungsschutzämter von
NRW und Berlin. Der Tenor auch dieses Mal: Von Amri gehe keine konkrete
Gefahr aus. Der Beschluss: „Die teilnehmenden Behörden führen Maßnahmen im
Rahmen der jeweils eigenen Zuständigkeit fort.“ Viel passiert ist danach
nicht. Bis Amri mit dem Lastwagen auf den Weihnachtsmarkt raste.
## Gesetzliche Grauzone
Nun hagelt es am GTAZ Kritik. Von „organisierter Verantwortungslosigkeit“
spricht die innenpolitische Sprecherin der Grünen, Irene Mihalic. Eine
„Gesamtverantwortung des GTAZ“ beschwört ihr SPD-Kollege Burkhard Lischka.
Und CDU-Innenpolitiker Armin Schuster sagt, es reiche nicht aus, dass sich
die Behörden über potenzielle Terroristen austauschten, die Zuständigkeit
dann aber bei den Ländern verbleibe. „Aus dem GTAZ heraus muss geführt
werden“, so Schuster, „mit Anordnungen und Durchgriffsrechten.“ Das aber
dürfe das GTAZ bislang nicht.“
Aus gutem Grund. Das GTAZ, 2004 in Reaktion auf die Terroranschläge vom 11.
September 2001 gegründet, sollte die Zusammenarbeit zwischen Bundes- und
Landesbehörden verbessern und die Abschottung zwischen Polizei und
Nachrichtendiensten aufbrechen. Es ist weder eine eigenständige Behörde,
noch hat es einen Chef. Über 40 Behörden tauschen sich hier „auf Augenhöhe…
aus, heißt es offiziell. Der Grund: Eine Behörde bräuchte eine eigene
Gesetzesgrundlage. Hier wird es wegen des Gebots der Trennung von Polizei
und Geheimdiensten kompliziert.
Kritiker bemängeln, dass die Beamten im GTAZ in einer gesetzlichen Grauzone
arbeiten. Der ständige Austausch zwischen den Behörden sei durch die
geltenden Vorschriften nicht gedeckt und weiche das Trennungsgebot auf.
„Wir fordern seit Jahren eine Gesetzesgrundlage“, sagt die Grüne Mihalic.
Innenminister de Maizière hatte dies noch beim zehnjährigen Jubiläum des
Zentrums abgetan: „Beides ist möglich: Eine intensive und effektive
Zusammenarbeit zwischen Polizei und Nachrichtendiensten bei gleichzeitiger
Wahrung des Trennungsgebots.“
Nach dem Anschlag am Breitscheidplatz lobt keiner mehr die Effektivität des
Zentrums. Während die Linke die Aufklärung des Falls abwarten will,
scheinen sich von Grünen bis CSU alle einig zu sein, dass die Terrorabwehr
neu aufgestellt werden muss. Über das Wie dürften sie sich nicht einig
sein.
20 Jan 2017
## LINKS
[1] http://www.bmjv.de/SharedDocs/Artikel/DE/2017/01162017_Chronologie.html;jse…
[2] /Terror-Anschlag-in-Berlin/!5374272/
## AUTOREN
Sabine am Orde
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