# taz.de -- Tunesien und seine Jugendlichen: Die Heimat der Heimatlosen | |
> Hoffnungsträger des Arabischen Frühlings und Brutstätte des Terrors: | |
> Warum kommen so viele Dschihadisten gerade aus Tunesien? | |
Bild: Protest gegen Arbeitslosigkeit in Tunesien | |
Fußfesseln, längere Abschiebehaft, Meldepflicht, schnellere Rückführung, | |
sichere Herkunftsstaaten – die Debatte nach dem Anschlag auf dem Berliner | |
Weihnachtsmarkt konzentriert sich auf eine Gruppe von Migranten, vor der | |
wir uns schützen wollen: junge Männer, meist ohne Aussicht auf Asyl aus dem | |
Maghreb. Der Täter vom Breitscheidplatz, der Tunesier Anis Amri, kam von | |
dort. | |
Von dort kommen nach Polizeiberichten viele Kleinkriminelle, in Düsseldorf, | |
Berlin und Mannheim. Junge Männer, die immer wieder trickreich durch das | |
Netz der Ausländerbehörden schlüpfen. Sie kommen verstärkt im Windschatten | |
der Flüchtlingskrise, geben sich als Syrer oder Afghanen aus, um ihre | |
eigentlichen Fluchtgründe zu dramatisieren. Amri soll sich mit insgesamt 14 | |
Identitäten ausgewiesen haben. | |
Sie mäandern durch Europa, illegal, allenfalls geduldet, ohne | |
Arbeitserlaubnis und Geld. Kleinkriminalität und Drogen können schnell zu | |
ihrem Alltag in Europa werden, dessen Trost- und Perspektivlosigkeit denen | |
in ihrer Heimat in nichts nachstehen. Sie bieten Stoff für abschreckende | |
Horrorgeschichten: „Von einem der auszog.“ Im Jahr 2015 waren nach Angaben | |
von Minister de Maizière etwa 10.000 Marokkaner, 13.000 Algerier und 2.500 | |
Tunesier nach Deutschland gekommen, die zum größten Teil keinerlei | |
Bleibeperspektive hätten. | |
## Tickende Zeitbomben | |
Fakt ist auch: Radikalisiert werden viele wie Amri auf ihrer Odyssee ins | |
nirgendwo. Auch wenn die meisten religiöse Analphabeten sind, so bietet | |
ihnen der Islamismus ein Stück kulturelle Identität. Die Ideologie in | |
radikalen Moscheen zwischen Brüssel und Berlin ist unterlegt mit Debatten | |
über Palästina, amerikanische Dominanz, Irakkrieg. Themen zu denen es in | |
den arabischen Ländern eine fast einheitliche Haltung gibt. | |
Die Ideologie der Dschihadisten als Heimat der Heimatlosen. Der Dschihad | |
als Versuch, einen ehrenwerten Ausweg aus einer kriminellen Karriere zu | |
finden. Es ist auch der selbstmörderische Aufschrei des ins bodenlose | |
gesunkenen Selbstwertgefühls. Die islamistische Ideologie legitimiert | |
schließlich die Aggression der Täter und glorifiziert ihre persönliche | |
Frustration im Opferstatus. | |
Wenn von diesen jungen Männern als tickende Zeitbomben gesprochen wird, | |
wäre es sinnvoll, die gesellschaftlichen Hintergründe zu sehen. Warum | |
kommen viele Dschihadisten gerade aus Tunesien? Ein Land, das als einziges | |
nach dem Arabischen Frühling eine demokratische Entwicklung zeigt. Zwischen | |
3.000 und 7.000 Tunesier, die Angaben variieren, sollen sich dem | |
„Islamischen Staat“ oder al-Qaida in Syrien, im Irak, in Mali oder im | |
Nachbarland Libyen angeschlossen haben. | |
## Das Profil der Terroristen | |
Ein Untersuchungsbericht des tunesischen Justizministeriums zum Profil der | |
Terroristen zeigt: 90 Prozent der in Tunesien wegen Terrordelikten | |
Verurteilten sind zwischen 18 und 34 Jahre alt. 98 Prozent sind Männer, 70 | |
Prozent alleinstehend. 40 Prozent haben eine universitäre Ausbildung, 45 | |
Prozent sind Arbeiter. Sie kommen zu 32 Prozent aus den ärmeren | |
Stadtvierteln um Tunis, 14 Prozent aus dem Armutsgürtel um Sidi Bouzid, 49 | |
Prozent unter ihnen haben eine militärische Ausbildung. Radikalisiert wurde | |
der Großteil in Moscheen. | |
Während der Regierung der islamistischen Partei nach der Revolution von | |
2011 eroberten Salafisten ungestört die Moscheen. Sie betrieben | |
Sozialarbeit, nahmen sich der Jugendlichen an, indoktrinierten. Und mit dem | |
Dschihad winkt Geld und eine Aufgabe. | |
Die 40 Prozent junger Männer mit universitärer Ausbildung kommen meistens | |
aus der unteren Mittelschicht. Ihr sozialer Aufstieg funktioniert trotz | |
Ausbildung nicht. Sie studieren, um arbeitslos zu werden, denn „es gibt | |
eine Inkompatibilität zwischen dem Arbeitsmarkt und der Universität“, sagt | |
der tunesische Politologe Hamza Meddeb in einem Interview mit | |
[1][quantara.de.] | |
No future. Die Jugendarbeitslosigkeit am Jahresanfang 2016 lag in Tunesien | |
bei 40 Prozent. No future, so gewalttätig sich das auf den Einzelnen | |
auswirkt, ist kein Asylgrund. Trotzdem sollen nach einer Studie des | |
tunesischen Forums für ökonomische und soziale Rechte (FTDES), Partner der | |
Rosa-Luxemburg-Stiftung, etwa 45 Prozent aller jungen Tunesier bereit sein, | |
das Land zu verlassen. Legal oder illegal. | |
## Die Angst vor den Rückkehrern | |
Der Analytiker Michael Ayari von der International Crisis Group meint in | |
einem Interview mit Le Monde die sozioökonomisch Situation Jugendlicher | |
sowie die Bedürfnisse nach Identität, Würde und Lebenssinn seien in anderen | |
arabischen Ländern ähnlich. In Tunesien seien die Widersprüche jedoch | |
stärker sichtbar, die Identitätskrise akuter. Ayari kritisiert, dass die | |
Regierung nur mit Sicherheitsmaßnahmen reagiere. Prävention komme nicht | |
vor: „Die Jugend darf nicht das Ziel einer Politik gegen den Terror sein, | |
sie braucht eine Politik der Einbindung“, schreibt Ayari. | |
„Die Jugend fühlt sich angegriffen und stigmatisiert.“ Das Problem sei | |
nicht die Abwesenheit von Sicherheit, sondern die Tatsache, dass sie nicht | |
funktioniere: „Die Polizei ist brutal, die Menschen haben das Gefühl, dass | |
sie nicht gerecht behandelt werden, dass die Behörden korrupt sind, dass | |
sie sich nicht um Gesetze scheren.“ Straffällige Rückkehrer und | |
Dschihadisten steckt man ins Gefängnis. | |
Keiner will sie. Auch die tunensische Zivilgesellschaft demonstriert gegen | |
die Rückkehr von Dschihadisten und straffällig geworden Täter. Man würde | |
sie am liebsten als vogelfrei erklären. So berechtigt die Angst vor | |
weiterer Destabilisierung des vom Terror gebeutelten Landes sein mag, auf | |
welcher Grundlage will man ihnen die Staatsangehörigkeit entziehen? Es gibt | |
keine. | |
Notwendig sind Strategien zur Verbesserung der Lebenssituation von | |
Jugendlichen. Konstruktive Ansätze wie duale Ausbildungen, die Deutschland | |
mit Tunesien ausgearbeitet hat. Kontraproduktiv ist es mit Kürzung von | |
Entwicklungshilfe zu drohen, um die Maghrebstaaten zur schnelleren | |
Rücknahme von abgelehnten Asylbewerbern zu bewegen. Auch | |
Flüchtlings-Hotspots oder die in Tunesien geplanten Auffanglager mit der | |
Möglichkeit, dort Asyl in Deutschland zu beantragen, werden uns alleine | |
nicht schützen. | |
23 Jan 2017 | |
## LINKS | |
[1] https://en.qantara.de/ | |
## AUTOREN | |
Edith Kresta | |
## TAGS | |
Tunesien | |
Rückkehrer | |
Jugendliche | |
Radikalisierung | |
Terrorgefahr | |
Tunesien | |
Islamismus | |
Schwerpunkt Flucht | |
Schwerpunkt Anschlag auf Berliner Weihnachtsmarkt | |
Schwerpunkt Syrienkrieg | |
Anis Amri | |
Tunesien | |
Geflüchtete | |
migControl | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Unruhen in Tunesien: Es ist wieder Frühling | |
Bürgerproteste weiten sich aus. Aber nicht alle Soldaten wollen gemäß dem | |
Wunsch des Präsidenten dagegen vorgehen. | |
Buch über Radikalisierung von Muslimen: Ende der Politik durch Religion | |
Der Psychoanalytiker Fethi Benslama hat den Islamismus auf die Couch | |
gelegt. Nun erscheint sein Essay „Der Übermuslim“ auf Deutsch. | |
Tunesiens Ministerpräsident in Berlin: Merkel hat es eilig | |
Youssef Chahed muss über die Rücknahme von rund 1.500 ausreisepflichtigen | |
Landsleuten verhandeln, die in Deutschland kein Asyl erhalten haben. | |
Abschiebehaft und der Fall Anis Amri: Das Problem liegt woanders | |
Nicht die Rechtslage zur Abschiebehaft ist ursächlich dafür, dass der | |
Attentäter in Freiheit blieb. Seine Gefährlichkeit wurde falsch | |
eingeschätzt. | |
Graphic Novel über Syrien: Monument der Unbeugsamkeit | |
Hamid Sulaimans „Freedom Hospital“ ist jugendkulturell geprägt. Und lenkt | |
den Blick auf die zivile Opposition und eine idealistische Bewegung. | |
Ermittlungen zum Fall Anis Amri: Terrorabwehr reloaded | |
Zum Anschlag in Berlin sind zentrale Fragen weiterhin ungeklärt. Mit dem | |
Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum ist keiner zufrieden. | |
Tunesien im Kampf gegen IS-Rückkehrer: 800 Kämpfer sind bereits zurück | |
Der Regierungschef Tunesiens kündigt eine harte Linie gegenüber | |
IS-Rückkehrern aus Kriegsgebieten an. Doch das Land tut sich schwer. | |
Rückreise von Geflüchteten: Über 50.000 kehren heim | |
Die Zahl der freiwilligen Rückkehrer übersteigt im Jahr 2016 die der | |
Abgeschobenen. Die meisten von ihnen kommen vom Westbalkan. | |
Flüchtlingspolitik in Kenia: Wie Geflüchtete Terroristen werden | |
Kenia unterhält seit 25 Jahren das größte Flüchtlingslager der Welt. Jetzt | |
soll es geschlossen werden. Die somalischen Flüchtlinge wurden zu | |
Terroristen erklärt. |