| # taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Außerparlamentarisch wider Willen | |
| > Das liberale Lager ist hoffnungslos zerstritten und hat bei den | |
| > Duma-Wahlen keine Chance. Die meisten Wähler halten eine Opposition nicht | |
| > für nötig. | |
| Bild: Die außerparlamentarische Opposition bei einem Protest gegen die Sicherh… | |
| Die demokratische, liberale Opposition in Russland hat offenbar nichts aus | |
| der Vergangenheit gelernt. Im Vorfeld der Parlamentswahlen am 18. September | |
| hat sie es erneut nicht geschafft, eine Koalition zu bilden, um die | |
| Fünfprozenthürde zu nehmen und in die Duma zu kommen. Der gemeinsame | |
| Schwung, den sie in den Proteste nach den Wahlen 2011 entwickelt hatte, ist | |
| längst versiegt. Und die Konflikte innerhalb der Opposition haben sich in | |
| den letzten Monaten sogar noch verschärft. Die Parteien, die für | |
| Rechtsstaatlichkeit und unternehmerische Freiheit stehen, bewerben sich auf | |
| fünf verschiedenen Listen. Unter den neuen Zulassungsregeln stellen sich im | |
| September 23 Parteien zur Wahl – 2011 waren es nur sieben. | |
| Beim liberalen Lager gibt es so wenig neue Gesichter wie bei den anderen | |
| Parteien. Beide im Parlament vertretenen Oppositionsparteien, die | |
| Kommunisten und die (nationalistischen) Liberaldemokraten, haben seit 1993 | |
| mit Gennadi Sjuganow und Wladimir Schirinowski dieselben Vorsitzenden. | |
| Unter den liberalen Parteien ist die 1993 von Grigori Jawlinski gegründete | |
| Jabloko-Partei ein Muster an Zählebigkeit. Jawlinski war 1990 am Entwurf | |
| des Programms „500 Tage“ beteiligt, auf dessen Grundlage zwischen 1991 und | |
| 1994 – in der „Ära Gaidar“ – die „Schocktherapie“ durchgezogen wur… | |
| Jabloko der wirtschaftliche und soziale Niedergang der 1990er Jahre | |
| angelastet wurde, verlor die Partei viele Anhänger. | |
| In der Krise von 1998 wurden die liberalsten Mitglieder der | |
| Jelzin-Regierungen aus ihren Schlüsselpositionen entfernt; das waren neben | |
| Gaidar der (2015 ermordete) stellvertretende Ministerpräsident Boris | |
| Nemzow, Exministerpräsident Sergei Kirijenko und Anatoli Tschubais, der | |
| Erfinder des Privatisierungsprogramms, der 1992 bis 1998 verschiedene | |
| Regierungsposten bekleidete. 1999 gründeten sie eine neue liberale Partei, | |
| die Union der rechten (rechtsstaatlichen) Kräfte (SPS), die sich 2008 | |
| wieder auflöste. | |
| ## Kurzlebige Allianzen und maßlose Egos | |
| Zu dieser Opposition stießen später auch Leute, die in Putins erster | |
| Amtszeit Regierungsposten bekleidet hatten, etwa Exministerpräsident | |
| Michail Kasjanow und der frühere Vizeenergieminister Wladimir Milow. Damit | |
| wurde das liberale Lager endgültig zum chaotischen Tummelplatz politischer | |
| Bewegungen, kurzlebiger Allianzen und maßloser Egos. Im Zuge der Proteste | |
| von 2011 wurde die alte Garde der Liberalen von neuen Gesichtern abgelöst. | |
| Am bekanntesten wurden Ilja Jaschin und Alexej Nawalny, Gründer der Website | |
| Rospil, die vor allem Fälle staatlicher Korruption enthüllte. Nawalny war | |
| es auch, der Putins Partei „Einiges Russland“ als Partei „der Gauner und | |
| Diebe“ bezeichnete. Bei den Bürgermeisterwahlen in Moskau 2013 erhielt er | |
| 27 Prozent der Stimmen. Kurz danach wurde er in einem Strafverfahren zu | |
| einer Bewährungsstrafe verurteilt, was eine weitere Kandidatur verhindert. | |
| Schon 2007 war er wegen nationalistischer und rassistischer Äußerungen über | |
| die Bewohner des Nordkaukasus aus Jabloko ausgeschlossen worden. | |
| Nawalnys „Fortschrittspartei“ hatte die Bildung einer „Demokratischen | |
| Koalition“ angeregt, um die Dynamik der Demonstrationen von 2011 für die | |
| bevorstehenden Wahlen wiederzubeleben. Der Koalition unter Einschluss von | |
| Milows Partei „Demokratische Wahl“, Kasjanows „Parnas“ und anderen Grup… | |
| sollte ein gemeinsames Programm vertreten, das eine „Entwicklung | |
| europäischen Typs“ in Russland anstrebt. Nawalny sprach von einer „breiten | |
| demokratischen Union, in der Sozialdemokraten, Liberale und Konservative | |
| europäischen Typs zusammenarbeiten können“. | |
| Dieser Zusammenschluss endete in einer Schlammschlacht, wobei der Kreml | |
| eine in den 1990er Jahren erprobte Methode zur Diskreditierung des | |
| politischen Gegners einsetzte: Der Staatssender NTV zeigte ein Video, in | |
| dem Kasjanow und eine Parteifreundin im Bett liegen und über ihre | |
| Bündnispartner herziehen. Die empörten Mitstreiter forderten Kasjanow auf, | |
| seinen ersten Listenplatz aufzugeben. Am Ende verkündeten Nawalny und | |
| Milow, nach langen fruchtlosen Streitereien über die Aufteilung der | |
| Wahlkreise, die Auflösung der Koalition. | |
| ## Chance durch Direktmandate | |
| Dennoch dürften es einzelne liberal-demokratische Kandidaten wohl ins | |
| Parlament schaffen, denn die Hälfte der Sitze wird über Direktmandate | |
| vergeben. Die Liberalen haben jedoch kaum eine Chance, die Fünfprozenthürde | |
| zu überwinden, also Sitze zu erringen, die proportional verteilt werden. | |
| Deshalb werden sie wohl auch keine Fraktion bilden können. | |
| Die internen Auseinandersetzungen erklären das Scheitern der Liberalen | |
| freilich nur zum Teil. Ihr schlechter Ruf rührt auch daher, dass sie nicht | |
| die schwerwiegenden Fehler zugeben wollen, die sie selbst in den 1990er | |
| Jahren gemacht haben. Damals hatten sie für die Spaltung der Gesellschaft | |
| gesorgt, zugunsten einer kleinen Gruppe von Gewinnern, zu der sie selbst | |
| gehörten, und auf Kosten der vielen Verlierer, die ihnen egal waren. | |
| Bestenfalls äußerten sie – wie Nemzow – ihr Bedauern über die | |
| Manipulationen bei der Wiederwahl Jelzins im Juli 1996. | |
| Seit Jabloko 2007 seine letzten Abgeordneten in der Duma verloren hat, | |
| bilden die liberalen Parteien und Bewegungen eine außerparlamentarische | |
| Opposition. Sie selbst feiern diesen Status als Ausdruck von Freiheit und | |
| Unabhängigkeit. In Wirklichkeit besiegeln sie damit nur ihre | |
| Bedeutungslosigkeit, weil sie damit die Wähler abschrecken, die keine | |
| Frontalopposition zu den gegenwärtigen Machthabern wollen. Nach einer | |
| aktuellen Umfrage glauben nur 52 Prozent der Befragten an die Notwendigkeit | |
| einer Opposition; 13 Prozent halten die Opposition für nötig, um „einen | |
| Machtwechsel zu ermöglichen“; fast ein Drittel sehen sie als unnötig an, | |
| weil die Gesellschaft in so schwierigen Zeiten durch Diskussionen nur | |
| „geschwächt“ werde. | |
| Anders als die große Mehrheit der Bevölkerung sind die Repräsentanten der | |
| liberal-demokratischen Opposition in der Krimfrage gegen die Annexion oder | |
| zumindest gegen das konkrete russische Vorgehen. Kasjanow ging so weit, | |
| sich auf einer Konferenz des Atlantic Council für die Sanktionen des | |
| Westens auszusprechen. Schon im April 2015 hatte man ihn in Russland als | |
| illoyal beschimpft, als er in Washington Sanktionen gegen acht Journalisten | |
| forderte, denen Hasspropaganda gegen Nemzow vorgeworfen wurde. | |
| ## Unternehmerfreundliche Parteien | |
| Vor Kurzem lancierten Wirtschaftskreise eine politische Plattform, die alte | |
| Vorstellungen der 1990er Jahre wieder aufbereitet, wonach die | |
| Liberalisierung der Wirtschaft automatisch zu mehr Demokratie führe. Seit | |
| 2008 gab es etliche Versuche, eine Partei zu gründen, die die Industrie und | |
| den Finanzsektor repräsentiert. Zum Beispiel hat der Multimilliardär | |
| Michail Prochorow 2011 die Partei „Rechte Sache“ gegründet, die keinen Sitz | |
| in der Duma erringen konnte. Doch als Prochorow bei der | |
| Präsidentschaftswahl 2012 antrat, bekam er immerhin fast 8 Prozent der | |
| Stimmen. | |
| Mit dem Projekt „Rechte Sache“ wollte man städtischen, gebildeten Wählern | |
| das Gesicht eines verlässlichen Managers präsentieren, aber auch kleine und | |
| mittlere Unternehmer – vor allem in der Provinz – ansprechen, indem man | |
| beispielsweise die 60-Stunden-Woche propagierte. Allerdings wurde Prochorow | |
| immer wieder verdächtigt, ein Strohmann der Macht zu sein. So stellte ihm | |
| der bekannte Journalist Wladimir Posner die Frage, ob er von Putin oder von | |
| Medwedjew ausgewählt worden sei. | |
| Als Prochorow binnen weniger Monate die Kontrolle über die „Rechte Sache“ | |
| verlor, gründete er 2012 die „Bürgerplattform“, deren Führung er auch ra… | |
| einbüßte. Beide Parteien präsentieren im September ihre eigenen Kandidaten. | |
| Im April 2016 wurden die Büros von Prochorows Holdinggesellschaft Onexim | |
| durchsucht, nachdem seine Zeitung RBC Kommentare zu den „Panama Papers“ | |
| veröffentlicht hatte, die Namen aus der Umgebung des Präsidenten benannten. | |
| Prochorow soll ihm im Juli alle seine russischen Beteiligungen verkauft | |
| haben. | |
| Allein schon die Entstehung von unternehmerfreundlichen Parteien bedeutet | |
| eine Abweichung von den Spielregeln, die Putin nach seinem Machtantritt | |
| diktiert und 2003 mit der Verhaftung des Oligarchen Michail Chodorkowski | |
| (der 2013 freigelassen wurde) bekräftigt hatte: Die Eigentümer der oft auf | |
| unlautere Weise erworbenen russischen Vermögen sollten sich nicht in die | |
| Politik einmischen und als Gegenleistung für die Nachsicht der Macht zur | |
| „Modernisierung“ der Ökonomie beitragen. Im Klartext: Wenn sie die | |
| nationalen Interessen nicht beeinträchtigen, sondern fördern, dürfen sie | |
| sich bereichern. | |
| ## Putin gibt sich liberal | |
| Der Aufstieg einer neuen Unternehmergeneration und die Krise von 2008 | |
| zwangen Putin, diesen Vertrag neu zu fassen. Im Dezember 2014 beschwor er | |
| „eine Beziehung zwischen Unternehmern und Staat, die auf der gemeinsamen | |
| Sache, einer Partnerschaft und einem Dialog auf Augenhöhe basiert“. Um die | |
| Wirtschaftselite für einen ökonomischen Aufschwung zu mobilisieren, bot er | |
| als Gegenleistung den Verzicht auf „übermäßige Überwachung“ durch | |
| staatliche Kontrollorgane und eine vollständige Straffreiheit im Falle von | |
| Rücktransfers von Fluchtkapital. Dieses insgesamt sehr liberale Programm | |
| hat Putin seitdem durch die Ankündigung weiterer Privatisierungen im Erdöl- | |
| und Luftfahrtsektor sowie in der Diamantenindustrie ergänzt. | |
| Die politische Strömung, die strikte Unternehmerinteressen artikuliert, | |
| teilt im Grunde die Positionen des liberalen Regierungsflügels, den der | |
| Präsident neuerlich gestärkt hat, um sein Wirtschaftsprogramm für | |
| ausländische Investoren glaubwürdig zu machen. Der Direktor der Sberbank, | |
| German Gref, und vor allem der frühere Finanzminister Alexei Kudrin – der | |
| 2011 die Opposition unterstützt hatte, ohne den persönlichen Kontakt zu | |
| Putin zu verlieren – sind auf die politische Bühne zurückgekehrt. Kudrin | |
| wurde zum Vizechef des Wirtschaftsrats beim Präsidenten ernannt, nimmt sich | |
| gegenüber Putin aber auch außenpolitische Ratschläge heraus. Ende Mai | |
| forderte er die Reduzierung des geopolitischen Spannungen „zum Wohle der | |
| russischen Wirtschaft“ mit der Begründung, Russland müsse sich in die | |
| Weltmarktstrukturen integrieren, um seinen technologischen Rückstand | |
| aufzuholen. | |
| Putin versteht sich als Schiedsrichter zwischen den klassisch liberalen, | |
| oft prowestlichen Kräften und einer etatistischen Strömung, der es vor | |
| allem um die Größe Russlands geht. Dabei ist er bemüht, die | |
| lebensnotwendigen Sektoren, vor allem die Energie, wieder in die Hand des | |
| Staats zu bekommen, während er in anderen Bereichen den Marktkräften großen | |
| Spielraum lässt. Mithin macht der Staat, wie die Unternehmerparteien, der | |
| liberal-demokratischen Opposition das politische Monopol auf den | |
| Wirtschaftsliberalismus streitig. | |
| Putin überlässt der Opposition also lediglich das Feld der Kritik an | |
| Autoritarismus und Bürokratie, was deren Perspektiven stark begrenzt. Die | |
| Proteste von 2011 haben zwar gezeigt, dass ein Teil der Bevölkerung für | |
| mehr politische Öffnung ist. Doch die jüngsten Zugeständnisse der | |
| Staatsmacht (Rückkehr zur Direktwahl der Gouverneure, vereinfachte | |
| Parteigründung, Öffnung der Vorwahlen der Regierungspartei für alle Bürger) | |
| sind ein vergiftetes Geschenk. Zumal für eine Opposition, die ausgerechnet | |
| jetzt, wo sie ihre Proteste von der Straße an die Wahlurnen verlagert, | |
| gespaltener ist als je zuvor. | |
| Aus dem Französischen von Claudia Steinitz | |
| 17 Sep 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Nina Baschkatow | |
| ## TAGS | |
| Russland | |
| Duma | |
| Parlamentswahl | |
| Opposition | |
| Liberalismus | |
| Wladimir Putin | |
| Lesestück Meinung und Analyse | |
| Russland | |
| Russland | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Russland | |
| Duma | |
| Duma | |
| Russland | |
| Einiges Russland | |
| Opposition | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Russischer Oppositionspolitiker Nawalny: Nach Protestaufruf festgenommen | |
| Der prominente russische Oppositionelle Alexej Nawalny ist am Sonntag bei | |
| einer Demonstration gegen Korruption in Moskau festgenommen worden. | |
| Opposition in Russland: Mord, Haft und ein Sexvideo | |
| Der Widerstand gegen Präsident Putin ist marginalisiert – eine Folge der | |
| eigenen Schwächen. Dazu beigetragen haben auch die Geheimdienste. | |
| Kommentar Verurteilung Nawalnys: Hysterischer Kreml | |
| Auch in zweiter Instanz wurde Putins Konkurrent Alexei Nawalny zu einer | |
| Gefängnisstrafe verurteilt. Damit zeigt der Präsident Unsicherheit. | |
| Urteil gegen russischen Oppositionellen: Nawalny wegen Bauholz verurteilt | |
| Alexej Nawalny darf möglicherweise nicht bei der Präsidentenwahl 2018 | |
| antreten. Ein Gericht sprach ihn wegen Unterschlagung von Holz schuldig. | |
| Gerichtsverfahren gegen Putin-Gegner: Alexej Nawalny muss weiter bangen | |
| Ein Betrugsverfahren gegen den Politiker wird neu aufgerollt. Der | |
| Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte den Prozess als unfair | |
| eingestuft. | |
| Alternativer Nobelpreis: Die Frau mit den Äpfeln | |
| Für viele Flüchtlinge in Russland ist Swetlana Gannuschkina die letzte | |
| Hoffnung. Ihr Credo: Sprich immer mit beiden Seiten. | |
| „Geeintes Russland“ bei Duma-Wahl: Kremlpartei vor großer Mehrheit | |
| Es läuft wohl auf eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit für die | |
| Partei Präsident Putins hinaus. Er und Regierungschef Medwedjew feiern | |
| bereits. | |
| Politikwissenschaftlerin zur Duma-Wahl: „Ein Festival der Loyalität“ | |
| Die Russen wählen ihr Parlament. Die Ergebnisse sind erwartbar, aber die | |
| Angst vor Protesten sei groß, sagt Jekaterina Schulman. | |
| Duma-Wahl in Russland: Die Angst des Kreml vor dem Wähler | |
| Parlamentswahl in Russland: 225 Direktkandidaten könnten Farbe in die Duma | |
| bringen. Ansonsten sind Überraschungen ausgeschlossen. | |
| Opposition in Russland: Die letzte Gegenstimme | |
| Dmitri Gudkow sitzt in der Duma auf einsamem Posten. Sein Njet steht gegen | |
| 449 Ja-Sager. Zur Wahl im Herbst will der Fraktionslose erneut antreten. | |
| Wahlen in Russland: Je weniger abstimmen, desto besser | |
| Am Sonntag bestimmen die Russen in einigen Regionen über Gouverneure, | |
| Stadtparlamente und Bürgermeister. Kandidaten der Opposition fehlen. | |
| Oppositioneller über Putins Machtpolitik: „Russland ist lebensgefährlich“ | |
| Wladimir Ryschkow, Ex-Duma-Abgeordneter und enger Weggefährte des | |
| ermordeten Politikers Boris Nemzow, fürchtet um sein Leben. Russland sei | |
| eine Diktatur. |