| # taz.de -- Politikwissenschaftlerin zur Duma-Wahl: „Ein Festival der Loyalit… | |
| > Die Russen wählen ihr Parlament. Die Ergebnisse sind erwartbar, aber die | |
| > Angst vor Protesten sei groß, sagt Jekaterina Schulman. | |
| Bild: Mit dem Wahlausgang eher semizufrieden: ein Demonstrant nach der Parlamen… | |
| taz.am wochenende: Frau Schulman, Russland wählt am Wochenende eine neue | |
| Duma. Wahlkampf hat kaum stattgefunden. Steht das Ergebnis schon fest? | |
| Jekaterina Schulman: Seit 15 Jahren gehen die Menschen zum ersten Mal mit | |
| weniger Geld in der Tasche zur Wahl. Weder die Politik noch die Wähler | |
| wissen, wie sie damit umgehen sollen. Überraschungen dürfte es aber kaum | |
| geben. Für die Zeit nach der Wahl gilt das jedoch nicht unbedingt. | |
| Meinen Sie die Proteste nach den Wahlen 2011/12? | |
| Damals war der Wahlausgang auch vorhersehbar. Massenhafte Proteste hatte | |
| niemand erwartet. Erst Unregelmäßigkeiten lösten sie aus. In autoritären | |
| Systemen garantieren Wahlen die Stabilität. Wenn es ungemütlich wird, dann | |
| erst nach dem Wahlgang. In Demokratien ist es umgekehrt. Das Ergebnis ist | |
| offen, danach läuft es wie gehabt weiter. | |
| Welche Auswirkungen haben die damaligen Massenproteste auf die Wahl am | |
| Sonntag? | |
| Der Protest zog Reformen nach sich. Das wird oft übersehen. Die | |
| Prozenthürde für die Duma sank von 7 auf 5 Prozent. Erstmals geht die | |
| Hälfte der Mandate wieder an Direktkandidaten. Die Zulassung von Parteien | |
| wurde erleichtert. Aber gleichzeitig arbeitet das repressive System auf | |
| Hochtouren. | |
| Können Direktkandidaten der gleichgeschalteten Duma etwas mehr Leben | |
| einhauchen? | |
| Sie sind nicht ganz so leicht zu steuern. Außerdem sind sie abhängiger vom | |
| Wählerwillen als Listenkandidaten. Diese Duma wird hoffentlich etwas | |
| heterogener. Die Wirtschaftskrise zwingt die Regierung auch, sich wegen | |
| Haushaltsänderungen häufiger ans Parlament zu wenden. Zuletzt konnte das | |
| Parlament kaum noch bei Budgetfragen mitentscheiden. Über Geld und | |
| Vollmachten ist vorher schon ein verdeckter Kampf ausgebrochen. | |
| Warum lässt sich der Kreml auf Neuerungen ein, wenn er andererseits | |
| Daumenschrauben anzieht? | |
| Expräsident Dmitri Medwedjew hatte Reformen versprochen. Gegen das Wort des | |
| Zaren verstößt man nicht einfach, auch wenn es ein anderer Zar war. Viel | |
| wurde versucht, um alles wieder auszuhöhlen. Bei den Kontrahenten | |
| herrschten sehr unterschiedliche Vorstellungen und sie lähmten sich | |
| gegenseitig. Das Herrschaftssystem hat die Altersgrenze erreicht. Sobald es | |
| um Machtfragen geht, setzen Turbulenzen ein, Konkurrenzkampf und | |
| Clanstreitigkeiten brechen aus. Manche Institute und Mechanismen erlangen | |
| ungeahnte Stärke und werden zu einem Mittel in der Auseinandersetzung. | |
| Nimmt die Bedeutung des Parlaments langfristig zu? | |
| Schon möglich. Aber nicht, weil man beschlossen hätte: Lasst es uns mal mit | |
| Demokratie versuchen! Die personalisierte Autokratie hat eine begrenzte | |
| Lebenserwartung von 15 Jahren. Danach setzt eine Transformation ein, sie | |
| ist schon im Gang. Wie und wohin sich das System bewegt, bleibt jedoch ein | |
| Geheimnis. | |
| Einer Ihrer Kollegen fasste die Wahltaktik des Kreml so zusammen: | |
| „Manipulation ja – Falsifikation nein“. Stimmen Sie zu? | |
| Durchaus. Die Verzerrungen stehen am Anfang, nicht erst am Ende. Nur | |
| harmlose Kandidaten wurden zugelassen, Geld und Zugang zu den Medien sind | |
| streng überwacht. Letztes Mal wurden auch die Endergebnisse noch | |
| „korrigiert“. Diese Idiotie der Verantwortlichen soll diesmal vermieden | |
| werden. Die Angst vor neuen Protesten ist gewaltig. | |
| Wird diese bedingte „Transparenz“ von oben verordnet? | |
| Russische Wahlen sind ein Festival der Loyalitätsbekundungen: Für | |
| Gouverneure ist es wichtig, dass sie ihre Ergebenheit noch wirksamer unter | |
| Beweis stellen können als die Konkurrenten in der Nachbarschaft. Mit | |
| Resultaten demonstrieren sie, welche Kontrolle sie über ihr Gebiet ausüben. | |
| Kein Gouverneur wird sich davon überzeugen lassen, dass plötzlich | |
| Ehrlichkeit und Transparenz angesagt sind, dass sein Ergebnis nicht mehr | |
| mit dem des Nachbarn verglichen wird. Er handelt nach Gutdünken und | |
| interpretiert die Signale aus dem Kreml auf seine Weise. | |
| Was bedeuten die letzten Entlassungen im Umfeld Putins? | |
| Auch das sind Turbulenzen eines überalterten Systems. Eine neue Generation | |
| steht in den Startlöchern. Das System ist jedoch nicht durchlässig. Seine | |
| einzige Aufgabe besteht darin, Überlebensfähigkeit zu garantieren. Das | |
| russische Hybridsystem ist eine Mischung aus Autoritarismus und Demokratie. | |
| Der Planungshorizont ist niedrig, das System nicht an Modernisierung | |
| interessiert. Um Stabilität zu wahren, ist man aber zu großen Veränderungen | |
| bereit. | |
| Worin äußert sich das? | |
| Sie kennen weder Freundschaft noch Loyalität und sind bereit, fürs | |
| Überleben alles zu opfern. Das wird sich bald zeigen. Die letzten | |
| Personalentscheidungen signalisieren: Teure und ineffektive Verwalter, die | |
| sich das alte System geleistet hat, müssen gehen. Nächste Wechsel in der | |
| Duma, im Sicherheitsrat oder bei Rosneft werden das bestätigen. | |
| Es gibt eine Reihe von sozialen Protesten im Land: Erst streikten die | |
| Fernfahrer, dann traten Grubenarbeiter nach Monaten ohne Lohn in den | |
| Hungerstreik. Zuletzt wollten geprellte Bauern mit Traktoren nach Moskau | |
| aufbrechen . . . | |
| Diesen Protesten wird die politische Dimension abgesprochen. Doch was soll | |
| es sonst sein, wenn nicht politisch? Die Menschen wollen beachtet und | |
| beteiligt werden. Dieser Widerstand ist das Wichtigste, was zurzeit in | |
| Russland passiert. Schemenhaft zeichnet sich ein alternatives Modell ab, | |
| das von der Rohstoffabhängigkeit wegrückt. Die Bürger sind das neue Öl. | |
| Noch werden sie ausgenommen und ihre Renten eingefroren. Dennoch: Da wächst | |
| ein selbstbewusster, steuerzahlender Bürger heran. | |
| Lassen sich die Proteste mit dem Niedergang des sowjetischen Systems | |
| vergleichen? | |
| Das Sowjetsystem war nicht reformierbar. Das jetzige ist extrem | |
| anpassungsfähig – bis zum Gesichtsverlust. Überlastung könnte eintreten, | |
| wenn an mehreren Stellen gleichzeitig protestiert wird, da das Geld | |
| ausgeht. Auch regionale Vielfalt könnte sich als Problem entpuppen. Zumal | |
| Moskau die Probleme in die Provinz zurückverweist. | |
| Welche Rolle spielen Ideologie und Patriotismus bei den Wahlen? | |
| Unser System zeichnet sich durch Ideologielosigkeit aus. Gerade das macht | |
| es so anpassungsfähig. Weder demokratische noch totalitäre Staaten verfügen | |
| über derlei Freiheiten. Der Patriotismus ist amorph, jeder legt hinein, was | |
| er will. Bei uns ist eine diskursive Mode angesagt: ein Cocktail aus | |
| Autokratie, Orthodoxie, Nationalismus und Volkstümlichkeit, gepaart mit | |
| Effektivität und Konkurrenz-Elementen. Nicht zu vergessen: Auch der Hass | |
| auf den Westen gehört dazu, genauso wie das Verlangen, ihn nachzuahmen. Und | |
| das, obwohl Russland sich ständig als Zielscheibe von Attacken empfindet. | |
| Eine Mischung aus einem Gefühl des Beleidigtseins, globaler Ungerechtigkeit | |
| und Misstrauen gegenüber den Regeln der Außenwelt geht mit einem Bemühen | |
| einher, den Gegner mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Ein klappriges | |
| Konstrukt. | |
| Was wird ihrer Meinung nach aus Russland? | |
| Es möchte auf allen Hochzeiten und Trauerfeiern dabei sein – als Braut und | |
| Verstorbener. Nichts fürchtet es so sehr wie Isolation. Daher ist es zu | |
| allem bereit: zu Aggression, Zugeständnissen, Eskalation und Dialog. | |
| Irgendwie gelingt das auch. Ich fürchte, Moskau könnte die Rolle eines | |
| weltweiten Gauners und Sündenbocks zufallen. Vorbild ist es ja nicht. | |
| 18 Sep 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Klaus-Helge Donath | |
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