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# taz.de -- Erkundungen in der russischen Provinz: Geschichte, Gülle, Gängelei
> Das Städtchen Pskow liegt ganz im Westen Russlands. Der kriegerische Ton
> Moskaus kommt bei den Bewohnern nicht so gut an.
Bild: Eine der vielen Kirchen im westrussischen Pskow
Pskow taz | Die Pilger sind angetan. Atemberaubend ist der Blick auf das
Kloster von Pskow-Petschora. Die meeresblauen Zwiebelkuppeln sind mit
goldenen Sternen übersät, die in der Mittagssonne funkeln. Von Weitem sieht
die Anlage aus wie ein Märchenschloss. Das einstige Männerrefugium ist
heute ein Wallfahrtsort für Gläubige aus den Tiefen und Weiten Russlands.
Für nicht wenige ist das Kloster auch ein Vorposten der rechtgläubigen Rus,
seit sich Russland wieder vom Westen abkapselt. Ein schauriges Geheimnis
birgt die heilige Stätte. Sie hält Tote am Leben. Sozusagen. In der
Nekropole unter dem Kloster sollen Tausende Mumien ruhen. Geologie und
Klima konservieren die Körper, erzählt die Reiseführerin Julia. Es klingt
wie eine Metapher für Russlands derzeitige Verfassung.
Die 35-Jährige ist selbständig und betreut Touristen, die auf eigene Faust
Russlands Westen erkunden wollen. Vor allem Russen. „Ich kann mich vor
Anfragen kaum retten“, erzählt sie. Die Geschichte hätte die Region um
Pskow ja üppig bedacht, sagt die zierliche Frau. Der Raum war hart
umkämpft, zwei Welten trafen hier aufeinander, aus denen sich
unterschiedliche Zivilisationsmodelle herausschälten. Auf russischer Seite
siegte zuletzt die Deutung ewiger Bedrohung aus dem Westen und standhafter
Gegenwehr.
## Legendäre Fallschirmjäger
Natürlich lässt sich die Geschichte auch anders erzählen. Als Version eines
russischen Kernlandes etwa, das anfangs durchaus nach Westen blickte. Der
Historiker Lew Schlosberg wird nicht müde, auch an diese Traditionen zu
erinnern. An die unabhängigen mittelalterlichen Stadtrepubliken Nowgorod
und Pskow beispielsweise, die Teil der Hanse waren. Schlosberg ist nicht
nur der bekannteste Oppositionspolitiker in Pskow. Der 53-Jährige ist einer
der unerschrockensten Männer im ganzen Land. Er tritt am kommenden Sonntag
für die Oppositionspartei Jabloko zur Duma-Wahl an. Äußerlich kein
Heldentypus, klein, untersetzt, immer gedankenverloren.
Als der Kreml 2014 die Ostukraine besetzte, war es Lew Schlosberg, der die
namenlosen Gräber gefallener Fallschirmjäger aufdeckte. Verstohlen waren
sie in der Umgebung von Pskow beigesetzt worden. Russland leugnet bis heute
den Einsatz regulärer Soldaten.
Kurz darauf wurde Schlosberg, damals Chefredakteur der Pskowskaja Gubernija
(PG), auf der Straße zusammengeschlagen. Die Täter wurden nie gefasst. Ein
Überfall in einer verschlafenen Provinzstadt, wo das Auge, wohin es auch
schaut, auf eine der 40 großen Kirchen stößt. Selbst aus dem Fenster der
Bahnhofstoilette. Seither kennt Russland Schlosberg.
Die Pskower Fallschirmjäger sind eine nationale Legende. 1968 schlugen sie
die Reformbewegung des Prager Frühlings mit nieder, vor Kurzem verlegte
Moskau sie an die ukrainische Grenze.
Seine militärische Präsenz will Russland nun auch an der Grenze zum
Baltikum verstärken. „Das wird die Atmosphäre verändern“, fürchtet Denis
Kamalagin, der junge neue Chefredakteur der Pskowskaja Gubernija. 10.000
Soldaten würden die Umgebung überfordern, sagt er vorsichtig. Was meint er
damit? Alkohol, Prügeleien?
## Der kleine Grenzverkehr läuft
Die Menschen in Pskow stehen den Nachbarn in Lettland und Estland nicht
feindselig gegenüber. Im Gegenteil, Moskaus kriegerischer Ton kommt hier
nicht gut an. Zwanzig Prozent der Bewohner in Grenznähe sind Staatsbürger
Russlands und der EU. Mehr Menschen mit zwei Pässen gibt es sonst nirgends.
Auch der kleine Grenzverkehr läuft.
Wer keinen zweiten Pass besitzt, besorgt sich ein Schengenvisum. „Wegen des
schlechten Rubelkurses fahren wir jetzt seltener rüber“, sagt die junge
Verkäuferin im Supermarkt, die früher regelmäßig nach Tartu zum Shoppen
fuhr und dort Käse kaufte. Denn Käse aus dem Westen darf derzeit nicht
importiert werden – als Antwort Russlands auf die EU-Sanktionen. „Weil es
billiger geworden ist, kaufen die Esten jetzt mehr bei uns ein“, sagt die
junge Frau.
Das Arbeitszimmer von Pskows Bürgermeister Iwan Zezerski ist bescheiden.
Außer zwei Tischen beherbergt es drei Fahnen: die Russlands, Pskows und die
der Kremlpartei mit dem Bären. Die eleganten Vorzimmerdamen gebieten über
mehr Raum. Zezerski klagt nicht, die Sanktionen stören ihn aber. Sie
vermasseln ihm die zweite Tranche eines Kredits der Europäischen Bank für
Wiederaufbau und Entwicklung. Mit diesem Geld wollte er ein
Trinkwasserproblem lösen. „Jetzt liegt das Projekt auf Eis, in Russland
findet sich kein Investor.“ Was den Beamten auch ärgert: Eine deutsche
Brauerei schlich sich sang- und klanglos davon. Vor den Sanktionen hatte
sie sich als Sponsor des Hansetages 2019 in Pskow angeboten.
## Der Hansetag kommt dennoch
Fürchtet er Nato und Estlands Truppen vor der Haustür? Zezerski holt Luft,
die Mitarbeiterin lacht schallend. Auf die leichte Schulter sei die Gefahr
militärischer Eskalation nicht zu nehmen, sagt er mit erhobenem Zeigefinger
zur Assistentin. Zezerski ist ein alter Hase. Er weiß, dass er den Kreml
auch an der Stadtgrenze verteidigen muss.
Der Hansetag wurde an Pskow vergeben, als Moskau den Westen noch nicht zum
Gegner ausgerufen hatte. Pskows Anbindung an eine andere Welt wollte schon
das mittelalterliche Moskau nicht hinnehmen. Die selbständige Republik war
den Herrschern ein Dorn im Auge wie auch die benachbarte Hansestadt
Nowgorod. Im Historischen Museum findet sich denn auch zur Hanse kein
Hinweis. Sibyllinische Formulierungen umschreiben den gewaltsamen Anschluss
an Moskau. „Das werden wir auf jeden Fall noch ändern“, sagt Bürgermeister
Zezerski energisch.
Doch das Bild der belagerten Festung darf keine Risse erhalten. Am Südufer
des Peipus-Sees, nördlich von Pskow, wachen 500 Tonnen Metall darüber. Ein
Denkmal für Alexander Newski, der 1242 in der Schlacht auf dem diesem See
den Deutschen Orden bezwang. Es steht im Grünen am Rande der
landwirtschaftlichen Kolchose „Pobeda“, zu Deutsch: Sieg. Durch den See
zieht sich heute die EU-Außengrenze.
## Altgediente Nationalhelden
Newski ist der dienstälteste Nationalheld. Er schlug die Deutschritter,
stärkte die Orthodoxie und Moskaus Einfluss. Doch zu welchem Preis? Der
Fürst machte sich mit den Mongolen der Goldenen Horde gemein. Doch Newskis
Vermächtnis ist lebendig. Außenminister Sergej Lawrow drechselte daraus ein
neues außenpolitisches Leitmotiv: Vor dem Westen auf der Hut sein – im
Osten auf starke Verbündete bauen. Der Kreml verkauft es den Russen als
Wende nach China.
Geschichte ist das Pfund, womit die Region wuchert. Doch dem beschaulichen
Pskow mit rund 200.000 Einwohnern geht es nicht gut. Die vielen Obdachlosen
auf den Straßen verraten es. Sie laufen den Touristen hinterher, von Kirche
zu Kirche, in der Hoffnung auf Almosen. Jeder fünfte Bewohner Pskows lebt
unter dem Existenzminimum. Industrieunternehmen haben sich zurückgezogen.
In den letzten sechs Jahren ist die Bevölkerung in der Region um sechs
Prozent geschrumpft. „Schneller als im Zweiten Weltkrieg“, schreibt die
Lokalpresse.
„Stattdessen haben wir dreimal so viele Schweine wie Einwohner – rund zwei
Millionen“, sagt Alexander Konoschenko amüsiert. Der Chef des
Bauernverbandes beklagt die rücksichtslose Ansiedlung von gigantischen
Viehzuchtkonzernen, die mit dem Kreml verbandelt und unangreifbar sind. Für
die wenigen Kleinbauern fiele kaum noch ein Rubel Förderung ab. Was ihn
jedoch besonders ärgert: Die Nach-mir-die-Sintflut-Haltung der Konzerne.
„Sie kippen die Gülle weg und versauen die Böden.“
## Die Dörfer sterben aus
Ein Viertel der Dörfer sei ausgestorben, „in einem Drittel leben noch vier,
fünf Bewohner“, sagt Konoschenko. Von Tausenden Bauernstellen in den 1990er
Jahren seien nur noch einige Hundert übrig. Gerade erst ist er vom Traktor
geklettert. Der vierschrötige Kerl liebt Hof und Beruf. Von Politik will er
aber auch nicht lassen. „Wenn du dich nicht in die Politik einschaltest,
kommt sie zu dir“, lautet sein Leitspruch. Als Kandidat der oppositionellen
Jabloko-Partei kandidiert er sowohl für das Stadtparlament in Pskow als
auch für die Staats-Duma in Moskau. Zu Hause könnte es klappen, meint er.
Bei der Sterbe- und Geburtenrate bildet Pskow ebenfalls das Schlusslicht.
Und nirgends in Russland haben Familien ein noch geringeres Einkommen. Die
Balten jenseits der Grenze seien auch leidgeprüft, sagt Konoschenko. „Aber
im Vergleich zu uns haben sie seit der Unabhängigkeit einen gewaltigen
Sprung gemacht.“
Geschichte und Patriotismus müssen das Wirtschaftsgefälle ausgleichen.
Dafür eignet sich die Kremlanlage von Isborsk zwischen Pskow und Petschora.
Das Bollwerk zählt zu den ältesten der Rus. Inzwischen haben rote, braune
und rotbraune Intellektuelle den Ort gekapert. Hinter dem Isborsker Klub –
dem „Thing tank“ – verbirgt sich das Reaktionärste, was Russland zu biet…
hat. Ideologen wie der Eurasier Alexander Dugin, der stalinistische
Publizist Alexander Prochanow oder Putins erratischer Wirtschaftsberater
Sergej Glasjew gehören dem Orden an.
Auf einer Anhöhe in der Nachbarschaft errichteten sie ein gewaltiges
orthodoxes Kreuz auf steinernem Podest. In einer Holzhütte werden
Bodenproben registriert, die Pilger aus fernen Ecken des Landes mitbringen
und die ein Wächter zu höherwertiger russischer Erde mischt. In Isborsk
fiebert Russland – zwischen Ressentiment und Selbstüberhöhung. Millionen
Rubel hat das Vorhaben verschlungen. Reiseführerin Julia zeigt auf das
Mauerwerk. Riesige Brocken lösen sich aus dem Putz. Auch das nationale
Heiligtum ist von Korruption nicht ausgenommen. Die Spur führt direkt ins
Kulturministerium.
15 Sep 2016
## AUTOREN
Klaus-Helge Donath
## TAGS
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Russland
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