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# taz.de -- Proteste gegen die russische Regierung: Der wütende Durst nach Ger…
> Am 12. Juni feiert Russland den Nationalfeiertag. Zwei Bürgerrechtler im
> Exil erheben massive Vorwürfe gegen das Putin-Regime.
Bild: Andrej N.: „Die Maske trage ich weniger aus Furcht vor Verfolgung hier …
Berlin taz | Am Mittag des 12. Juni wollen sich Dmitri Pronin und Andrej N.
mit einem guten Dutzend Mitstreiter vor der Russischen Botschaft in Berlin
eine Mahnwache abhalten. Mit ihren Transparenten wollen sie die Korruption
in der russischen Regierung anprangern. An diesem Tag wird in dem Prachtbau
wie jedes Jahr der Nationalfeiertag begangen, der „Tag Russlands“ in
Erinnerung an den 12. Juni 1990.
Damals verabschiedete in Moskau eine Abgeordnetenversammlung der russischen
Teilrepublik die Deklaration über die staatliche Souveränität Russlands.
Auf den Tag genau ein Jahr später fanden dann die ersten freien
Präsidentschaftswahlen in Russland statt, bei denen Boris Jelzin zum
Staatsoberhaupt gewählt wurde. Ein Feiertag, der auch die Bedeutung von
freien Wahlen unterstreichen sollte.
Aber Dmitri Pronin und Andrej N. haben inzwischen ganz andere Erfahrungen
gemacht. Und so mögen sie das russische Volk einfach nicht mit jener
Regierung gleichsetzen, die die Botschaft in Berlin unterhält. Als
Wahlbeobachter entdeckte Andrej, er ist Anfang dreißig, präparierte Urnen
und gefälschte Wahlzettel und machte das öffentlich. Der 39 Jahre alte
Dmitri ging als Mitglied einer Kontrollkommission Folterpraktiken in
russischen Haftanstalten nach. Aufgrund ihrer Aktivitäten erlitten sie
selbst Gewalt. Deshalb haben sie mit ihren Familien in Deutschland Asyl
beantragt, Dmitri Pronin kam im August 2015, Andrej um die letzte
Jahreswende. Er hat bereits Asyl erhalten.
Nach Berlin kommen sie aus derselben Kleinstadt, in der sie derzeit leben.
Es ist für sie ein großes Glück im Unglück, dass sie sich im Exil
kennengelernt haben. Gemeinsam verfolgen sie das Weltgeschehen, gemeinsam
lernen sie Deutsch. Weil russische Geheimdienste ihrer Ansicht nach
Regierungsgegnern überall nach dem Leben trachten, wollen sie den Namen
ihres Wohnortes nicht veröffentlicht sehen.
## Die Maske des Sohnes
In der von Andrej N. und seiner Familie seit drei Monaten bewohnten
Dreizimmerneubauwohnung pieken die Spiralfedern des nackten
Sozialamtssofas. Sie wollen sich vorerst nicht weiter einrichten, erzählt
Andrej, er will mit seiner Familie weiterziehen, in eine Nachbarstadt, wo
es vielleicht bald Kindergartenplätze für Sohn und Tochter gibt. Andrej
wirkt drahtig und voller Energie. Doch er ist vorsichtiger als Dmitri
Pronin. Er möchte seine Familie schützen, seinen Familiennamen nicht
preisgeben und Frau und Kinder nicht weiter identifizierbar machen. Er
selbst verbirgt sich bei allen öffentlichen Auftritten hinter einer grünen
Maske, die er von seinem Sohn bekommen hat.
Andrej hat eine Ausbildung für die Verwaltungslaufbahn in der russischen
Provinz absolviert. Sein Geld verdiente er später aber mit anderen Jobs.
Das Wohl von Staat und Gesellschaft förderte er ehrenamtlich als
Wahlbeobachter. Wahlfälschungen sind in Russland verbreitet, vielfach
nachgewiesen durch die große Wahlbeobachtungsorganisation Golos, zu
Deutsch: die Stimme.
Präsident Wladimir Putin und seine Parteienschöpfung Einiges Russland
bekämen ohne die Wahlfälschungen mit Sicherheit deutlich weniger Stimmen,
meint Andrej N., aber vorläufig noch genug, um an der Macht zu bleiben.
Schließlich manipulierten sie das Fernsehen und schalteten alle unliebsamen
Gegenkandidaten aus – von den kommunalen Abstimmungen bis hinauf zur
Präsidentschaftswahl. Doch Russlands Machthaber selbst glauben offenbar,
sich den Verzicht auf Wahlfälschungen nicht leisten zu können.
## Urnen mit doppeltem Boden
Manchmal greifen sie zu Urnen mit doppeltem Boden. Und zahlreiche Videos
zeigen, wie Vermummte in Wahllokale eindringen, wo sie, ohne auf Widerstand
zu treffen, paketeweise Wahlzettel in die Urnen stopften. „Dem Wahlgesetz
zufolge dürfte der Schlitz höchstens zwei Zettel durchlassen“, sagt Andrej
N., „und Urnen müssten demzufolge durchsichtig sein. Aber fast nirgendwo in
Russland findet man solche.“
Andrej N. gründete in seiner Heimatregion eine Wahlbeobachtungsorganisation
und kontrollierte Abstimmungen auf allen Ebenen, einschließlich Parlaments-
und Präsidentenwahlen. Er wurde daraufhin ständig verbal bedroht. Vor einer
lokalen Wahl wurde er gleich zweimal zusammengeschlagen. „Das war eine
Warnung“, sagt er, „noch eine leichte, denn all meine Organe funktionieren
noch. Bei anderen Wahlbeobachtern war das nicht mehr der Fall.“ Schließlich
folgte ein Versuch, ihn vor einem Wahllokal zu entführen. Nur das zufällige
Auftauchen einiger hoher Beamter dort ermöglichte ihm die Flucht.
Dieser Vorfall hat Andrej N. bewogen, sein Heimatland zu verlassen. Er
nimmt die grüne Maske, deren Gesicht grimmig wirkt. „Die trage ich weniger
aus Furcht vor Verfolgung hier im Ausland“, sagt er, „sondern weil ich mich
vor meinen Mitkämpfern wegen meiner Feigheit schäme.“ Denn hier ist er in
Sicherheit, über seinen Freunden aber schwebt ein Damoklesschwert.
## Fingierte Anklagen
Derzeit versuche die Regierung landesweit, ihr genehme Vertreter in die
bislang unabhängigen Wahlbeobachtungskommissionen einzuschleusen, erzählt
er. „Und wenn sie bisherige Mitglieder nicht verdrängen können, werden
unter Vorwänden Anklagen gegen sie fabriziert.“ Zwar seien all diese
Verfahren jetzt gestoppt. Doch jederzeit könne man sie wieder in Gang
setzen und die Betroffenen hinter Gitter schicken.
Was einen dort erwartet, kann Dmitri Pronin erzählen. Er und seine Frau
Julija haben den Tisch gedeckt: Okroschka – eine kalte Joghurtsuppe –
Schweinebraten, Salat, Obst, Konfekt. „Wir können schon Deutsch, aber die
Eltern noch nicht“, kräht die siebenjährige Angelina. Sie besucht eine
Vorbereitungsklasse, ihr sechsjähriger Bruder Ilja konnte gleich in die
reguläre Schule aufgenommen werden. Anja, drei Monate, schaukelt auf
Dmitris gemütlichem Vaterbauch.
Es muss schon ein wütender Durst nach Gerechtigkeit gewesen sein, der
diesen sehr ruhigen Menschen mit seinem bald arglosen, bald verschmitzten
Gesicht aus der Stadt Odinzowo im Großraum Moskau von Haftanstalt zu
Haftanstalt und von Polizeistation zu Polizeistation trieb.
Die Basis dafür lieferte ihm, dem Justiziar einer Firma, ein Gesetz aus dem
Jahre 2008, demzufolge „Gesellschaftliche Beobachtungskommissionen“
gegründet wurden, die „jederzeit ungehinderten Zugang“ zu Orten der Haft,
der Untersuchungshaft und der Abschiebehaft haben sollten. Es war dies, wie
mancher kleiner Fortschritt, eine Frucht der vier Regierungsjahre von
Dmitri Medwedjew als er von 2008 bis 2012 Statthalter Putins auf dem
Präsidentensessel war. Diese Kommissionen besetze die Regierung heute
allmählich mit Marionetten, meint Dmitri Pronin.
Er aber bekam als Unabhängiger noch alle Arten von misshandelten Menschen
zu Gesicht, darunter sehr viele Vergewaltigungsopfer, und Leute, die mit
gebrochenen Rippen seit Wochen ohne ärztliche Hilfe waren. Ein Mann hatte
ein, bis auf die Knochen offenes Bein voller Eiter, weil er eineinhalb
Jahre nicht versorgt wurde. „Was in den Medien über Folter bei uns bekannt
wird, ist nur die Spitze des Eisbergs. In Wirklichkeit ist sie ein
landesweites System“, sagt er, „und als solches wird sie von Gerichten und
Ministerien gestützt.“
Pronin geht ins Detail: „In jedem Arbeitslager wird dem Neuling, sobald er
aus dem Transportwagen steigt, durch Schläge und Erniedrigungen
klargemacht, wo er sich befindet.“ Hauptziel dieser Erniedrigungen sei es,
die Häftlinge für alle Arten von Beraubung gefügig zu machen. „Man klaut
ihnen ihren minimalen Arbeitslohn und die etwas besseren Lebensmittel aus
der Ration.“ Und während Pronin und sein jeweiliger Gefährte, ein Tandem
ist Vorschrift, die Zellen kontrollierten, saß seine Frau Julija, wie sie
sich erinnert, oft „stundenlang im Warteraum, ein Kämmerchen wie eine
Umkleidekabine. Sobald sie herauskamen, habe ich in meinem PC das Protokoll
erstellt.“
## Das nächste Mal kommst du nicht so leicht davon
Irgendwann brach die Polizei der Familie Pronin plötzlich die Wohnungstür
auf und entdeckte angeblich elf Patronen. Dmitri Pronin wurde verhaftet.
Der Prozess wegen illegalen Waffenbesitzes wurde zwar eingestellt, er aber
mit den Worten entlassen: Das nächste Mal kommst du nicht so leicht davon.
Als er bereits in Deutschland war, wurde nach ihm in Russland polizeilich
gefahndet – wegen angeblicher Planung eines Terroranschlags gegen einen
Bezirksabgeordneten.
„Es ist die Gleichheit aller vor dem Gesetz, die mir in Deutschland am
besten gefällt“, sagt Pronin. Trotzdem haben ihm die Behörden besonders arg
mitgespielt. „Wir mussten unsere Pässe während des ersten Gespräches bei
der Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge gegen
Quittungen abgeben. Aber als wir nach einiger Zeit die Außenstelle um
beglaubigte Passkopien baten, zeigten sie uns in ihrem Computer, dass sie
sie nicht hätten. Unser hier geborenes Baby hat inzwischen zwar eine
Geburtsurkunde, aber wir können die Kleinste bis heute nicht in unser
Asylverfahren einbeziehen, weil ich als Vater kein gültiges
Personaldokument besitze.“
## Der Gang zur Botschaft
Bleibt sein Pass verloren, muss er in der russischen Botschaft einen neuen
beantragen, befürchtet Pronin. Dort, wo sie nicht wissen sollen, wo er
jetzt lebt. Dabei würden er und seine Familie gern für immer in Deutschland
bleiben. Julija hat die Wohnung mit Polstern, Tischdecken und himmelblauen
Stores ausstaffiert. Dmitri Pronin würde gern noch einmal einen neuen Beruf
erlernen. Doch in seiner unsicheren Situation kann er sich noch keine
konkrete Perspektive ausmalen.
Andrej N. rechnet fest mit einem politischen Umschwung in Russland. „Etwa
in zwei Jahren“, sagt er. Bis dahin will er möglichst viel Geld sammeln, um
seinen Mitstreitern zu helfen. Dmitri Pronins Optimismus ist bescheidener.
Er glaubt nur, dass auch dort bald wieder Hunderttausende auf die Straße
gehen. Und dies bedeute sehr viel. „Das zeigt, welchen Siedepunkt die
Stimmung des Volkes erreicht hat“, sind sich die beiden einig und machen
den Unterschied zwischen Russland und Deutschland klar. „Wenn Sie hier zu
einer Demo gehen, können Sie sich für den Abend mit Freunden in einer
Pizzeria verabreden. Dort rechnen alle damit, dass am Abend nicht nur ihr
eigenes Schicksal verhunzt sein könnte, sondern auch das ihrer Nächsten.“
12 Jun 2017
## AUTOREN
Barbara Kerneck
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