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# taz.de -- Alternativer Nobelpreis: Die Frau mit den Äpfeln
> Für viele Flüchtlinge in Russland ist Swetlana Gannuschkina die letzte
> Hoffnung. Ihr Credo: Sprich immer mit beiden Seiten.
Bild: Argumentiert sehr strukturiert: Swetlana Gannuschkina
Moskau taz | In der Wohnung von Swetlana Gannuschkina, gerade einmal 15
Minuten Fußweg vom Kreml entfernt, türmen sich Bücher. Schallplatten,
jahrzehntealt, stehen dicht an dicht, von den Covern blicken Sowjetbarden.
Auf dem kleinen Tisch im Arbeitszimmer duften in einer Schale frische
Äpfel.
Äpfel haben für die russische Menschenrechtlerin eine ganz besondere
Bedeutung. „Es ist, als ob es gestern gewesen wäre“, beginnt sie zu
erzählen. „Doch es war in der Sowjetunion im Jahr 1988.“ Sie befand sich
mit einer Delegation Moskauer Menschenrechtler in Bergkarabach, dem
mehrheitlich von Armeniern bewohnten Gebiet in Aserbaidschan.
Zu dieser Zeit war der Konflikt zwischen Armeniern und Aserbaidschanern
eskaliert. Krieg lag in der Luft. Damals galt es unter russischen
Menschenrechtlern als selbstverständlich, die armenische Seite zu
unterstützen. Niemand machte sich die Mühe, die andere Seite aufzusuchen.
Eines Morgens ging Swetlana Gannuschkina aus dem Haus, in dem die Moskauer
Delegation untergebracht war. Niemand nahm davon Kenntnis. Wusste man doch,
dass sie ausgedehnte Spaziergänge liebte.
## Keiner wollte die Äpfel
Und so lief Gannuschkina weiter und weiter. Bis schließlich vor ihr ein
Haus am Waldrand auftauchte. Eine Frau lächelte ihr zu und grüßte sie mit
„Salam“. Da wusste Swetlana Gannuschkina, dass sie auf der anderen Seite
angekommen war. Die Frau lud die unbekannte Besucherin an den Tisch,
bewirtete sie und unterhielt sich mit ihr in schlechtem Russisch. Zum
Abschied drückte sie dem Gast aus Moskau eine kleine Tasche mit Äpfeln aus
dem Garten in die Hand. „Geben Sie die Ihren armenischen Freunden dort auf
der anderen Seite“, sagte die Frau und lächelte.
Als Swetlana Gannuschkina wieder auf der armenischen Seite ankam, war auch
dort der Tisch bereits gedeckt. Stolz legte sie die Äpfel dazu. Eisiges
Schweigen war die Antwort. „Niemand hat die Äpfel auch nur in die Hand
nehmen wollen“, erzählt sie. Dann habe eine Frau doch zugegriffen. Eine
zweite Frau tat es ihr gleich. Nur die Männer blieben hart und weigerten
sich, die Äpfel der Aserbaidschanerin auch nur anzurühren.
Swetlana Gannuschkina lächelt. Die Geschichte mit den Äpfeln war ihr
Schlüsselerlebnis. Seitdem hat die heute 74-Jährige der
armenisch-aserbaidschanische Konflikt nicht mehr losgelassen, der sie
übrigens auch ganz persönlich betrifft, stammt doch ihre Mutter aus Baku,
der Hauptstadt Aserbaidschans. Im Gegensatz zu vielen Mitstreitern bezieht
sie nie mehr Position für nur eine Konfliktpartei. „Ich suche immer Kontakt
zu beiden Seiten.“
Diese Unvoreingenommenheit hatte Folgen, auch für ihre kleine Wohnung mit
den vergilbten Tapeten, den betagten Gardinen und dem Kabelgewirr am Boden.
An der Wand im Arbeitszimmer hängt ein großes Schwarzweißfoto von ihrem
Großvater, dem berühmten Psychiater Pjotr Gannuschkin, dessen Namen auch
eine Moskauer Klinik trägt.
## Treffpunkt Küche
Doch der Treffpunkt jeder russischen Wohnung war und ist die Küche. Immer
häufiger trafen sich nun Armenier und Aserbaidschaner, wenn sie in Moskau
waren, bei Swetlana Gannuschkina in der Küche neben dem alten sowjetischen
Gasherd, auf dem der Teekessel summte, und debattierten stundenlang über
Politik und den armenisch-aserbaidschanischen Konflikt.
Es blieb nicht beim Debattieren. In Gannuschkinas Küche überreichten
Armenier ihren aserbaidschanischen Gesprächspartnern Listen von Vermissten
und Geiseln und umgekehrt. Viele armenische und aserbaidschanische
Gefangene gelangten wieder in Freiheit, weil man sich beim Tee in
Gannuschkinas Küche auf ihre Freilassung einigen konnte.
Gannuschkina, bis zu ihrer Pensionierung Dozentin für Mathematik, wusste,
wie sie sich in diesen hitzigen Diskussionen Gehör verschaffte. Sie spricht
strukturiert, argumentiert mit geradezu mathematischer Logik, manchmal mit
sanftmütiger, manchmal auch mit durchdringender Stimme.
Als dann 1992, die Sowjetunion war untergegangen, zwischen Armenien und
Aserbaidschan der Krieg ausbrach und die ersten Flüchtlinge in Moskau
eintrafen, war Gannuschkina die Erste, die ihnen, zusammen mit einer Gruppe
von Freundinnen, half, in der Millionenstadt unterzukommen. Die Behörden
waren von dem unerwarteten Flüchtlingsstrom überfordert.
## Jelzin, die große Enttäuschung
Swetlana Gannuschkina gründete daraufhin die Organisation „Zivile
Unterstützung“. Es war die erste Organisation in Russland, die es sich zur
Aufgabe gemacht hatte, Migranten zu helfen. Bis heute erhält Gannuschkina
jedes Jahr Glückwünsche von Armeniern aus aller Welt, denen sie damals
geholfen hat, in ein anderes Land umzusiedeln.
Doch der Krieg um Bergkarabach, der 1994 mit einem Waffenstillstand
gestoppt wurde, blieb nicht der einzige. Im selben Jahr begann der erste
Tschetschenienkrieg. Und mit diesem eine Silvesternacht, die Swetlana
Gannuschkina nicht mehr vergessen kann. „Wir saßen hier vor dem Fernseher,
sahen uns das Unterhaltungsprogramm an, das wie in jedem Jahr mit Tanz und
Musik gute Laune verbreiten wollte“, sagt Gannuschkina und deutet auf den
Bildschirm. „Aber uns war nicht nach Feiern zumute, unsere Gedanken waren
in Tschetschenien.“
Ihre Befürchtung: Die russische Luftwaffe würde genau in der Silvesternacht
einen Angriff auf Grosni, die Hauptstadt der abtrünnigen russischen
Teilrepublik Tschetschenien, starten. Nach einem Telefonat am
Neujahrsmorgen war es schreckliche Gewissheit. Mit einem Feuerwerk aus
Bomben war Präsident Boris Jelzin ins neue Jahr gestartet.
Schon 1993 hatte Gannuschkina jegliche Achtung vor Jelzin verloren, als
dieser mit Panzern und Soldaten das Parlament hatte stürmen lassen. Für
Gannuschkina hat es eine besondere Tragik, dass Boris Jelzin 1991 mit
Unterstützung der liberalen Intelligenz an die Macht gekommen war. Die
Menschenrechtsorganisation Memorial hatte mit Jelzin anfangs sogar
zusammengearbeitet.
## Im Menschenrechtsrat
Sollte sie mit Jelzins Nachfolger, dem neuen Präsidenten Wladimir Putin,
zusammenarbeiten? Lange hat Gannuschkina gezögert, als Putin ihr 2002 eine
Mitarbeit in dem beim russischen Präsidenten angesiedelten
Menschenrechtsrat antrug. Schließlich sagte sie zu. Sie hoffte, als
Mitglied in diesem Rat tatsächlich etwas bewegen zu können. Swetlana
Gannuschkina hatte nie viel übrig für Fundamentalopposition. Ihr Credo: Die
Aufgabe von Nichtregierungsorganisationen ist es, mit den Behörden und
Machthabern zum Wohl der Menschen zusammenzuarbeiten, die dringend Hilfe
brauchen.
2012 verlässt sie resigniert den Menschenrechtsrat. Was nutzt eine
Beraterin, wenn sich der Präsident gar nicht beraten lassen will? Geduldig
habe Putin ihre Einwände gegen einen Gesetzentwurf zur Migration angehört,
erzählt sie. Wenig später hat er dieses Gesetz unterschrieben, ohne auch
nur einen ihrer Vorschläge berücksichtigt zu haben.
Inzwischen hat das von Swetlana Gannuschkina geleitete Netzwerk „Migration
und Recht“ russlandweit 41 Beratungsstellen für Migranten. Swetlana
Gannuschkina weiß, wie sie in diesem Netzwerk das
Zusammengehörigkeitsgefühl stärkt. Regelmäßig organisiert sie Seminare für
ihre Juristen, die hierbei nicht nur geschult werden. Sie tanken auch auf
für ihre weitere Arbeit.
Diese Arbeit ist gefährlich, lebensgefährlich. Besonders in Tschetschenien,
seitdem in der russischen Teilrepublik Ramsan Kadyrow an der Macht ist.
Menschen verschwinden dort, werden gefoltert, ermordet. Natalja Estermirowa
war Mitarbeiterin der tschetschenischen Anlaufstelle von „Migration und
Recht“.
## Die toten Freunde
Swetlana Gannuschkinas Stimme stockt, als sie von der Entführung der damals
51-Jährigen im Juli 2009 berichtet. Noch wenige Stunden zuvor war sie mit
Natalia Estemirowa zusammen gewesen. Sofort nach deren Verschwinden setzte
sie alles in Bewegung, um das Leben der Mitarbeiterin zu retten.
Vergeblich. Man fand Natalja Estemirowa, durch Schüsse in Brust und Kopf
getötet.
Auch Wiktor Popkow starb durch Gewehrkugeln. Gannuschkina hat Tränen in den
Augen, als sie von dem Mann mit den langen Haaren und dem Rauschebart
erzählt, der im Jahr 2001 Hilfspakete für tschetschenische Dörfer in seinem
Gepäck hatte. Hinterrücks wurde er in seinem Auto beschossen. Ein Bus nahm
den schwer verletzten Popkow auf. Doch an einem Checkpoint habe man das
Fahrzeug eine Stunde warten lassen. Popkow fiel ins Koma und starb wenig
später.
Doch Swetlana Gannuschkina möchte nicht, dass Tschetschenien nur mit
traurigen Erlebnissen verbunden ist. „Die Menschen dort in all ihrer
Herzlichkeit und Wärme haben mir viel Kraft und Wärme gegeben. Es sind
diese Begegnungen, die mir die Energie geben weiterzumachen.“
Wenig später betritt Swetlana Gannuschkina das Moskauer Büro ihrer zweiten
Organisation „Zivile Unterstützung“ auf dem Olimpiski Prospekt. Das
Vorzimmer ist immer voller Menschen aus anderen Kontinenten oder auch aus
Russland selbst, die sich von der Organisation Hilfe erhoffen. Sie scherzt
mit den afrikanischen, afghanischen, syrischen und tschetschenischen
Kindern, die im Vorraum geduldig ausharren.
Kein Zweifel, Swetlana Gannuschkina lacht gern. „Eigentlich bin ich aber
Pessimistin“, sagt sie kurz darauf an ihrem Schreibtisch. „Ich habe das
Gefühl, überall um mich herum ist der Kollaps in vollem Gange.“ Die Welt
scheint krank. Woran liegt das? „Ich glaube, dass viele die Menschheit
retten wollen und dabei die einzelnen Menschen übersehen.“
2015 erklärte die russische Staatsanwaltschaft Gannuschkinas Organisation
Zivile Unterstützung zum „ausländischen Agenten“. Es ist längst nicht die
einzige russische Nichtregierungsorganisation, die mit dem
diskriminierenden Label belegt worden ist, weil sie aus dem Ausland
unterstützt werde.
„Ja doch, meine Auftraggeber sind Ausländer“, sagt Gannuschkina stolz und
führt in den Vorraum zurück. „Hier sind meine Auftraggeber“, sie zeigt auf
zwei Kinder aus Schwarzafrika, die sie mit großen Augen fragend ansehen.
„Und solange ich etwas für diese ‚Auftraggeber‘ tun kann“, fährt die
74-Jährige fort, „werde ich überhaupt nicht daran denken, mich auf eine
Datscha zurückzuziehen oder zu meinen beiden Kindern zu ziehen, die in den
USA leben.“
Die Ehrung mit dem alternativen Nobelpreis ist für sie „ein Akt der
Solidarität mit den Menschen, die gezwungen sind, zu fliehen.“ Das
Preisgeld soll vor allem Flüchtlingsfrauen zugutekommen, „die Opfer von
Gewalt geworden sind.“
22 Sep 2016
## AUTOREN
Bernhard Clasen
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