# taz.de -- Opposition in Russland: Die letzte Gegenstimme | |
> Dmitri Gudkow sitzt in der Duma auf einsamem Posten. Sein Njet steht | |
> gegen 449 Ja-Sager. Zur Wahl im Herbst will der Fraktionslose erneut | |
> antreten. | |
Bild: 15. März 2014: Dmitri Gudkow demonstriert in Moskau gegen den Einmarsch … | |
Moskau taz | „Besorg mir noch eine Fahrkarte für heute Abend“, trägt Dmit… | |
Gudkow dem Assistenten über Handy auf. Es ist Freitagnachmittag kurz vor | |
Torschluss. Der Abgeordnete sitzt schon im British Crown, einem englischen | |
Pub, einen Steinwurf von der Duma, dem russischen Parlament, entfernt. | |
Die plüschige Kneipe ist sein Refugium. Auch für andere Parlamentarier | |
wurde die britische Insel in der Moskauer Innenstadt zur Anlaufstelle. Im | |
Crown lässt sich unbefangener reden, denn die Duma ist schon seit Langem | |
„kein Ort für Diskussionen“ mehr. Als Boris Gryslow, der damalige | |
Vorsitzende der Duma, diese Ansicht 2003 verbreitete, hielt Russland das | |
noch für einen ungelenken Scherz. | |
Gudkow ist ein Hüne. Mit seiner athletischen Statur schaffte er es in den | |
Neunzigern in die Jugendauswahl der russischen | |
Basketballnationalmannschaft. Zusammen mit Andrei Kirilenko, der in den USA | |
später zu Ruhm und Reichtum gelangte. Gudkow hat noch Fotos aus der | |
gemeinsamen Zeit auf dem iPhone. Er erzählt gerne davon. Die Musik wird im | |
Crown unterdessen lauter. Dmitris Stimme kämpft mit Chers’ „I Walk Alone“ | |
aus dem Album „Closer to the Truth“ – fast eine programmatische Ansage. | |
Denn Dmitri Gudkow ist fraktionslos, weil er der Wahrheit etwas näher | |
kommen wollte. Vor drei Jahren setzte ihn die Partei Gerechtes Russland vor | |
die Tür. Sie ist eine Kreml-Schöpfung, die ursprünglich den Kommunisten | |
Wähler abspenstig machen sollte. Die Kommission für Wohlverhalten befand, | |
Gudkow hätte gegen ethische Grundsätze verstoßen. Anlass war ein Auftritt | |
vor dem US-Kongress, in dem Gudkow den beschleunigten Demokratieabbau nach | |
Wladimir Putins Rückkehr ins Präsidentenamt 2012 sezierte. | |
## Live am Lügendetektor | |
Die Reise in die USA im Frühjahr 2013 machte ihn in den Augen vieler | |
verdächtig. Hatte er die Reise aus eigener Tasche bezahlt, den Vortrag | |
selbst geschrieben? Oder hatte er sich in Washington kaufen lassen? | |
Antiwestliche Hysterie hatte die Fragen längst beantwortet. Um die Vorwürfe | |
zu entkräften, ließ sich Gudkow in einem Radiosender live an einen | |
Lügendetektor anschließen. Eine ziemlich ehrliche Haut, wie sich | |
herausstellte. Doch das half nichts. Der Absolvent der Moskauer | |
Diplomatenschmiede war gebrandmarkt. | |
Inzwischen ist der 36-jährige Journalist und Volkswirtschaftler der letzte | |
bekennende Oppositionelle in der Duma. Seine einsame Gegenstimme verleiht | |
dem Parlament gar noch etwas Legitimität. Bei der Welle von repressiven | |
Gesetzen ist auch sein Njet fast schon gesetzmäßig. | |
Ob es um das Verbot der Adoption von Waisenkindern geht, das zunächst nur | |
für die USA galt, dann aber auf alle Länder mit Homo-Ehe ausgeweitet wurde; | |
ob um Attacken auf NGOs, die zu „ausländischen Agenten“ erklärt wurden; | |
oder wenn westliche Stiftungen als „unerwünschte Organisationen“ aus | |
Russland verbannt werden sollen: wenn auf der Anzeigetafel „Gegenstimme 1“ | |
erscheint, dann ist es die Stimme Gudkows. | |
## Kein Volkstribun | |
Leute wie er sind den Machthabern nicht nur suspekt, sie stehen unter | |
Generalverdacht, die Vorhut von „Farbrevolutionen“ wie in der Ukraine zu | |
sein. Dabei ist Gudkow kein Revolutionär. Er hat Charisma, aber nicht das | |
eines Volkstribuns. „Ich arbeite lieber an Gesetzen, als auf der Straße zu | |
demonstrieren.“ | |
Als der Kreml im Juni 2012 das Versammlungsverbot verschärfte, waren es | |
Dmitri und sein Vater Gennadi, der ebenfalls noch für Gerechtes Russland in | |
der Duma saß, die das Durchwinken des Gesetzes mit Hunderten von | |
Änderungsanträgen elf Stunden lang blockierten. Verhindern konnten sie es | |
nicht. Aber es war eine Sternstunde. Auch wegen dieses „italienischen | |
Streiks“ wurde der ältere Gudkow mit Parteiausschluss und Mandatsentzug | |
bestraft. Dem Junior blieb das erspart. Niemand weiß so recht, warum. | |
Dmitri Gudkow vermutet: Ein Doppelausschluss hätte zu viel Lärm verursacht. | |
So macht sich der Junior mit Anfragen und Anträgen weiter unbeliebt. Soeben | |
stellte er beim Moskauer Ermittlungskomitee den Antrag, den Vorwürfen an | |
die Familie des Generalstaatsanwalts Juri Tschaika nachzugehen, die nicht | |
nur der Korruption beschuldigt wird. Die Antwort kam postwendend: Dafür sei | |
die Staatsanwaltschaft zuständig. Absurdität ist fester Bestandteil | |
russischer Wirklichkeit. „Doch selbst die verdaut nicht alles“, lacht | |
Gudkow. | |
Im August 2014 fragte Gudkow beim Verteidigungsministerium an, ob Berichte | |
über gefallene Soldaten in der Ukraine zuträfen. Russland behauptete, mit | |
dem Krieg nichts zu tun zu haben. Zu persönlichen Daten dürfe das | |
Ministerium keine Auskunft geben, hieß es. Im letzten September hakte | |
Gudkow wegen Berichten über russische Militärpräsenz in Syrien nach. Moskau | |
tat sie noch als westliche Propaganda ab. | |
## Krim bleibt eine Ausnahme | |
Und die Duma-Kollegen erinnerte Gudkow daran, dass eigentlich nur sie | |
Einfuhrstopps für Lebensmittel aus dem Westen verhängen dürften. Nicht | |
Präsident Putin. Ein mühseliger Job. Er leide nicht an Vereinsamung, | |
versichert er, trotz des klaren Mehrheitsverhältnisses von 449 zu 1. Eine | |
Ausnahme hat er allerdings gemacht. Als es um den Anschluss der Krim ging, | |
enthielt er sich. „Wähler baten mich, nicht dagegen zu stimmen.“ Er wollte | |
auch die Gefühle der Krim-Bewohner nicht verletzen, die es nach Russland | |
zog. Die Auseinandersetzung verschonte auch seine Familie nicht. Er stöhnt | |
und verzieht zum ersten Mal die Augenbrauen. „Es hat lange gedauert, bis | |
ich alle davon überzeugen konnte, dass die Annexion ein Fehler war – sehr | |
lange.“ | |
Trotz allem grüßen ihn die Kollegen freundlich, auch hier im Pub. „Zu den | |
meisten habe ich ein gutes Verhältnis.“ Ein paar schneiden ihn, sagt er, | |
einige seien beleidigt. Vor allem jene flammenden Antiamerikaner, denen er | |
Immobilien und Vermögen in den USA nachweisen konnte. Auslandsvermögen, die | |
Putin ausdrücklich verboten hat. Die meisten würden ihn wegen seiner | |
Unabhängigkeit beneiden. Er könne die Wahrheit sagen, sie müssten sich | |
verbiegen. Abgeordnete stehen in Russland nicht hoch im Kurs. Ihnen haftet | |
das Image halbseidener Geschäftemacher an. | |
Gudkow überrascht mit einer feineren Wahrnehmung. „Häufig sind sie | |
hochgebildete Profis, die genau wissen, was im Lande vor sich geht.“ Viele | |
heulen mit den Wölfen, weil sie als Unternehmer sonst nichts erreichen | |
würden. „Geiseln des Systems“, nennt er sie. Die nur darauf warten, dass | |
sich die Verhältnisse ändern? Gudkow nickt, er hält es für möglich. So wie | |
er auch Russland noch nicht aufgibt. „Hört die Propaganda auf, werden die | |
Menschen auch wieder vernünftig“, glaubt er. | |
Eine grandiose Clownerie sei das, was sich in der arrangierten | |
Öffentlichkeit gerade abspiele. Hinter den Kulissen ist das Maß für | |
Loyalität unterdessen noch einmal verschärft worden. Selbst treue | |
Parteigänger des Kreml sind vor Entlassung und Verfolgung nicht mehr | |
sicher. Willkür flößt Angst ein. Das diszipliniert. | |
## Offene Rechnung | |
Gudkow fährt mit dem Zug, nicht allein der Umwelt zuliebe. Den Wagen lässt | |
er lieber stehen. „Politiker können nicht in ständiger Angst leben, | |
irgendwann wird jeder immun“, sagt er. Dennoch, Leichtsinn verbiete sich. | |
Autounfälle zu fingieren sei ein Kinderspiel, meint der Spross einer | |
Sicherheitsdynastie. Die Liste politischer Morde ist lang. Am 27. Februar | |
2015 wurde Freund Boris Nemzow an der Kreml-Mauer erschossen. Gudkow ist | |
dreifacher Vater und schon deshalb kein Anhänger der russischen | |
Lebensphilosophie, die sich hinter dem Wörtchen awos verbirgt – „aufs | |
Geratewohl“. Es macht das Leben einfacher. Aber auch kürzer. | |
Als Gudkow nach dem Mord an Nemzow in der Duma eine Gedenkminute für den | |
ehemaligen Premierminister abhalten möchte, lehnt der Vorsitzende ab. | |
Gudkow und Duma-Chef Sergei Naryschkin haben noch eine Rechnung miteinander | |
offen. Der Putin-Intimus soll seine Dissertation abgekupfert haben. Gudkow | |
möchte ihm den Titel entziehen lassen. | |
Vater Gennadi Gudkow war KGB-Oberst. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion | |
gründete er ein Sicherheitsimperium in St. Petersburg und Moskau. Dieses | |
Reich ging unter. Als Strafe für die Unbotmäßigkeit des Insiders wurde es | |
zwangsweise in andere Hände überführt. Vater Gennadi hatte sich beim | |
Protest gegen den Betrug bei den Duma-Wahlen 2011 auf die Seite der | |
Opposition geschlagen. „Wir leben jetzt von ein paar kleinen | |
Überbleibseln.“ Große Sprünge könne die Familie nicht mehr machen, klagt | |
der Filius. „Ski laufen in Georgien oder Bulgarien mit der Familie ist | |
nicht mehr drin.“ Von Kitzbühel oder Courchevel, wo Russlands Superreiche | |
wedeln, ganz zu schweigen. | |
## Der Wahlkampf naht | |
Prominente Vertreter der Zivilgesellschaft lobten Gudkow gerade in einem | |
offenen Brief. Er habe bewiesen, dass auch ein Einzelner in der Duma | |
nützliche Arbeit leisten könne. Wäre nur ein Teil der Abgeordneten so | |
ehrlich, könnte die Duma zu einem echten Parlament werden. Zu viel Lob | |
behagt ihm nicht, er übergeht es. Kommentarlos. | |
„Im Herbst trete ich zu den Duma-Wahlen wieder an“, sagt er entschlossen. | |
Was wird Russland im Wahlkampf bewegen? „Unmöglich, vorauszusagen.“ Der | |
Aktionismus werde immer kurzatmiger. Feindbilder des Kreml gehen verloren. | |
Was Russland gestern existenziell bedrohte, verschwindet im Handumdrehen. | |
„Wo ist die Ukraine geblieben?“ Im Moment sind die Türkei und Europas | |
Flüchtlinge Zielscheibe wüster Verwünschungen. | |
Ohne Partei ist es schwierig. Gudkow hofft auf einen Platz auf einer Liste | |
der Opposition. Die müsste sich aber erst mal zusammenraufen. Ein zweites | |
Mal stöhnt er: „Auch nicht einfach.“ Er müsse dann nicht wie unabhängige | |
Kandidaten Tausende Unterschriften sammeln, sagt er und eilt zum Bahnhof. | |
22 Feb 2016 | |
## AUTOREN | |
Klaus-Helge Donath | |
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