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# taz.de -- Oppositioneller über Putins Machtpolitik: „Russland ist lebensge…
> Wladimir Ryschkow, Ex-Duma-Abgeordneter und enger Weggefährte des
> ermordeten Politikers Boris Nemzow, fürchtet um sein Leben. Russland sei
> eine Diktatur.
Bild: Jeder kann der Nächste sein: Gedenken an den ermordeten Boris Nemzow am …
taz: Vor einem Monat wurde auf Boris Nemzow ein Attentat verübt. Was hat
die Opposition an den Ermittlungen auszusetzen?
Wladimir Ryschkow: Wir haben gerade Präsident Putin gebeten, eine
Kontaktgruppe zum Ermittlungskomitee einzurichten. Wir wollen über den
Stand der Ermittlungen informiert sein und verstehen, was vor sich geht.
Nur so können wir den Ermittlungen auch vertrauen. Wie Wladimir Putin
entscheidet, ist offen. Ich bin mit den Ermittlungen nicht zufrieden, weil
nur wenige Informationen nach außen dringen und der Mord so dargestellt
wird, als gäbe es keine Auftraggeber. Die Widersprüche sind offensichtlich
...
Was sind das für Ungereimtheiten?
Einerseits wird behauptet, es seien 5 Millionen Rubel für den Mord gezahlt
worden. Demnach ist es ein Auftragsmord gewesen. Andererseits wird der
Eindruck erweckt, als hätten die Verdächtigen die Tat allein geplant.
Eine linguistische Analyse der Mails und Posts an Nemzow soll jetzt
erstellt werden.
Nemzow erhielt viele Drohungen. Gegen eine Prüfung ist nichts einzuwenden.
Es muss aber verhindert werden, dass er und seine Freunde kompromittiert
werden. Leider ist nicht ausgeschlossen, dass ein doppeltes Spiel getrieben
wird.
Haben Sie Angst, das nächste Opfer zu sein?
Ja, die Gefahr ist groß. Ich werde überwacht. Neulich stand derselbe Wagen
vorm Restaurant, wo ich gegessen hatte, der später auch vor meiner Haustür
auftauchte. Mir war vorher schon aufgefallen, wie zwei Männer an einem
Nebentisch nur Tee tranken. Die klassische Agenten-Nummer.
Alle Verdächtigen im Fall Nemzow dienten in der tschetschenischen
Eliteeinheit „Sewer". Sie sind Verwandte oder Freunde des tschetschenischen
Präsidenten Ramsan Kadyrow. Bislang führen die Spuren alle nach
Tschetschenien. Wenn die Fährte am Flughafen in Grosny abbricht, bedeutet
das aber: wir alle - Journalisten oder Menschenrechtler - sind bedroht,
solange der Auftraggeber nicht genannt wird. Bis heute weiß man nicht, wer
die Morde an Anna Politkowskaja, Natalja Estemirowa oder Galina Starwoitowa
in Auftrag gab.
Wurden Sie früher nicht observiert?
Doch, aber meistens nur vor größeren Protestaktionen. Ich verstehe nicht,
warum die „Agenturen" auf einmal so aktiv sind. Im Altai sind mir vor
kurzem auch zwei Wagen tagelang gefolgt.
Was bedeutet der Mord an Nemzow für die Opposition?
Das Verbrechen hat neue Realitäten geschaffen. Die Opposition wird nicht
mehr nur bedroht und ins Gefängnis gesteckt. Sie wird jetzt auch getötet.
Die Bedingungen für unsere Arbeit sind noch schwieriger geworden. Kurz vor
seinem Tod meinte Nemzow: Opposition gäbe es keine mehr, wir seien nur noch
Dissidenten jeder für sich auf seine Weise. Das trifft nach seinem Tod noch
mehr zu.
Ist Russland noch ein autoritäres Regime oder bereits eine Diktatur?
Der Übergang zur Diktatur ist vollzogen. Entweder werden wir zu Wahlen
nicht zugelassen oder die Ergebnisse werden gefälscht. Provokationen sind
allgegenwärtig. Veranstaltungen werden verhindert. Wir finden keine
Geldgeber, weil die die Unternehmer eingeschüchtert sind und die Angst groß
ist. Dennoch versuchen wir, an Wahlen teilzunehmen und uns journalistisch
Gehör zu verschaffen.
Vor allem in den Regionen haben Oppositionelle Angst. Dort verfolgt man sie
noch unerbittlicher als in Moskau. Manche verlieren den Arbeitsplatz,
andere werden überfallen oder festgenommen. Gegen andere strengt die
Staatsanwaltschaft fabrizierte Verfahren an. In Nischnij Nowgorod schoss
jemand auf die Fenster einer unserer Aktivistinnen.
Es sieht so aus, als hätte der Staat sein Gewaltmonopol verloren. Er ist
nicht mehr der einzige Akteur....
Der Staat hat das Gewaltmonopol längst eingebüßt. Gewalt geht mittlerweile
von oben und von unten aus. Eine Vielzahl nationalistischer und
chauvinistischer Gruppierungen ist in letzter Zeit aus dem Boden
geschossen. Darunter viele Heimkehrer, die in Donezk und Lugansk
Kampferfahrungen sammeln konnten. Der Anführer der Rockergruppe
„Nachtwölfe", sein Spitzname ist "Chirurg", hat es offen gesagt: die Feinde
sollen mit allen Mitteln unter Druck gesetzt werden. Er ist einer der
Rädelsführer des „Antimaidan", der die Gunst des Kreml genießt. Drohungen
gehen von Geheimdiensten, extremistischen Gruppen und auch nicht
organisierten Kräften aus.
Aber die Propaganda verfängt ...
Die Menschen glauben daran. Sie unterstützen ohne Wenn und Aber die
Machthaber und sind überzeugt, dass der Westen die Krise verursacht hat und
Russland zerschlagen will. Alle Putin-Kritiker sind Feinden. Unsere
Machthaber sind unvorstellbar reich, daher werden sie um jeden Preis ihre
Herrschaft sichern.
Wie lange kann das gut gehen?
Bis zum wirtschaftlichen Zusammenbruch wie ihn auch die Sowjetunion
erlebte. Die Wirtschaft ist in Schwierigkeiten. Russland steht aber noch
nicht vor dem Ruin, die Menschen sind von der Politik noch nicht
enttäuscht. Die Rubelabwertung hat die Einkommen jedoch halbiert. Millionen
sind davon betroffen, langfristig wird das zur Verarmung führen.
Noch sättigt der Landgewinn ...
Noch ist die Freude über die Rückeroberung der Krim groß. Dahinter verbirgt
sich die Nostalgie für das untergegangene Imperium. Putin weckte Hoffnungen
auf alte Größe. Er rief die „Russische Welt" aus und forderte zu ihrer
Verteidigung auf. Das war Wasser auf die Mühlen imperialer Nostalgie. Die
Menschen wollen glauben: wir sind eine Weltmacht und unser Einfluss wächst
stetig. Wahre Größe ist jedoch Wirtschaftsleistung: Wo soll das
geopolitische Gewicht herkommen, wenn unsere Wirtschaft um fünf Prozent
schrumpft, während die USA und China zulegen?
Hat die russische Zivilgesellschaft noch eine Überlebenschance?
Der Kreml führt seit 2012 Krieg gegen sie. Ihr Zustand ist jämmerlich. Die
aktivsten Bürger wandern aus. Viele meiner Bekannten sind schon emigriert
oder haben es vor. Mehr als ein Fünftel der Bevölkerung würde am liebsten
ausreisen. Die Vertreibung von Regimekritikern scheint auch gewollt zu
sein.
Wie nach der Oktoberrevolution 1917. Als Stalin begriff, wie wichtig
Fachkräfte sind, ließ er die Grenzen schließen. Das kann uns auch noch
bevorstehen. Zurzeit emigrieren viele ins Baltikum, nach Prag, Warschau
oder nach Deutschland. Die Geschichten der Emigranten unterscheiden sich.
Sie ähneln sich aber darin, dass sie mit Risiken für Leib und Leben und
Gefahren für die Familie verbunden sind. Das ist neu: Russland ist
lebensgefährlich.
Wird Russland sich auch bei anderen Nachbarn unaufgefordert einmischen?
In Moldawien unterstützt der Kreml die moskaufreundlichen Führer der
Gagausen gerade. Aggressives Eingreifen ist eher unwahrscheinlich, aber
Unruhestiftung und Destabilisierung sind jederzeit denkbar. Auch in Estland
und Litauen. Nicht auszuschließen, dass der Kreml in Belarus und Kasachstan
auch die Stabilität aushöhlen würde, wenn er mit Entscheidungen der
politischen Elite nicht zufrieden ist. Anschließend folgt dann Bruderhilfe.
Was kann die EU eigentlich noch tun?
Sie muss Einheit bewahren. Der Kreml will den Westen auseinanderdividieren.
Das tut er bereits erfolgreich, indem er Griechenland, Zypern, Ungarn und
Tschechien umgarnt. Ist der Westen erst mal gespalten, kann er nicht mehr
angemessen auf das reagieren, was bei uns passiert.
Putin hält den Westen für schwach und spricht mit mehreren Zungen. Außerdem
reicht auch das Geld noch, um Politiker zu kaufen. Oberstes Gebot für die
EU: sie darf die gemeinsame Position nicht preisgeben. Vor zehn Jahren war
die EU noch Russlands wichtigster strategischer Partner. 70 Prozent der
Russen standen ihr positiv gegenüber. Zurzeit halten 80 Prozent die EU für
ein feindliches Gebilde. Es finden keine Treffen mehr statt, kein Dialog
und keine Gipfel. Die Wende von Freundschaft zu Konfrontation ist
vollzogen. Europa wurde zum Gegner.
2 Apr 2015
## AUTOREN
Klaus-Helge Donath
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