| # taz.de -- Tochter von Kreml-Kritiker über Russland: „Heimweh? Absolut nich… | |
| > Schanna Nemzowas Vater Boris wurde vor einem Jahr ermordet. Ein Gespräch | |
| > über Putins Staat, ihr Leben in Bonn und deutsche Strümpfe. | |
| Bild: „Mir ist klar, dass es, wenn ich so weitermache, für mich gefährlich … | |
| Schanna Nemzowa empfängt ihre Gesprächspartnerinnen am frühen Abend in | |
| einem Konferenzraum des Senders Deutsche Welle in Bonn. Es gehe ihr nicht | |
| gut, sie habe gerade eine Spritze bekommen, sagt sie. Nachdem sie einen | |
| Kaffee getrunken hat, beginnt das Gespräch, das oft von Nemzowas Lachen | |
| unterbrochen wird. Zwei Stunden nach dem Interview schickt sie eine Mail: | |
| „Es war sehr angenehm, mich mit Ihnen zu unterhalten. Dieses Interview wird | |
| mir im Gedächtnis bleiben, es war ganz anders als viele andere Gespräche.“ | |
| taz.am wochenende: Frau Nemzowa, wie viele Interviews haben Sie in diesem | |
| Jahr schon gegeben? | |
| Schanna Nemzowa: 20, und die nächsten 20, 30 kommen bald. Seit dem | |
| vergangenen Jahr waren es wohl über 100. Russische Medien wollen aber nur | |
| selten mit mir sprechen. | |
| Gibt es Fragen, die Sie nicht mehr hören können? | |
| Deutsche Medien haben mir solche Fragen nicht gestellt. Das ist das | |
| Vorrecht russischer Medien. Das, was ich zu sagen habe, kann man 1.000- | |
| oder 2.000-mal sagen. Es geht um die Ermittlungen zum Mord an meinem Vater. | |
| Es macht mir nichts aus, fast jeden Tag über diese Ermittlungen zu | |
| sprechen. Das ist meine Lebensaufgabe. | |
| In Ihrem Buch, „Russland wachrütteln: Mein Vater Boris Nemzow und sein | |
| politisches Erbe“, schreiben Sie, dass Sie zufällig nach Deutschland kamen | |
| … | |
| Das stimmt. Aber ich verrate Ihnen ein Geheimnis. Auch meine erste | |
| Auslandsreise hat mich nach Deutschland geführt. Das war, glaube ich, 1993. | |
| Mein Vater war damals Gouverneur in Nischni Nowgorod. Wir fuhren nach | |
| Düsseldorf, weil er dort nach Investoren Ausschau halten wollte. Die | |
| Delegation, die meinen Vater begleitete, wohnte in einem Hotel. Wir beide | |
| aber übernachteten bei den Falkes, dieser berühmten Familie, die Strümpfe | |
| herstellt. Mein Vater hatte den Hausherrn irgendwo kennengelernt. Ich bekam | |
| Strümpfe geschenkt. Sie hatten eine fantastische Qualität, mit unserer gar | |
| nicht zu vergleichen. | |
| Sie leben seit einigen Monaten in Deutschland. Als was bezeichnen Sie sich? | |
| Ich bin Journalistin, Reporterin in der russischen Redaktion der Deutschen | |
| Welle. Und ein Flüchtling, der gesetzmäßig die Grenze überquert hat. Aber | |
| auch ein Gast. Wie lange ich hier sein werde, weiß ich nicht, aber ich | |
| bleibe eine Russin, die in Deutschland lebt. | |
| Haben Sie Heimweh? | |
| Absolut nicht. Nicht nach einem Land, das sich unter der Herrschaft von | |
| Wladimir Putin in einen autoritären Polizeistaat verwandelt hat. | |
| Was gefällt Ihnen hier, was nicht? | |
| Mir gefällt nicht, dass ich noch nicht so gut Deutsch spreche. Viele Leute, | |
| die hier schon länger leben, sagen mir, dass ich alle Stadien durchlaufe, | |
| die jeder Migrant durchlaufen muss. Zuerst gefällt einem alles, dann | |
| nichts, und dann stellt man schließlich fest, dass es eigentlich genauso | |
| ist wie in der Heimat. Ich befinde mich noch im ersten Stadium. Mir gefällt | |
| alles, doch es gibt natürlich Schwierigkeiten. | |
| Welche? | |
| Die Sprache und diese Ordnung, obwohl die für Russen nützlich ist. Je mehr | |
| davon, desto besser für uns. Und es gibt Dinge, die mich schockieren. Ich | |
| gehe nicht in eine gemischte deutsche Sauna. | |
| Warum nicht? | |
| Ich trage in der Sauna immer einen Badeanzug, aber hier lassen sie mich | |
| damit nicht hinein. Sie gucken mich komisch an und denken sich wohl: Was | |
| ist das für ein merkwürdiger Mensch, wahrscheinlich eine Russin. Aber bei | |
| uns ist das so Brauch. Es fällt mir schwer, mich umzustellen. Das verstehen | |
| Sie wahrscheinlich nicht. Das ist genauso, wie wenn man jemandem in | |
| Saudi-Arabien erklären würde, dass es großartig ist, Wodka zu trinken. | |
| Was ist für Sie besonders lustig in Deutschland? | |
| Der Karneval. Das ist schon komisch, wenn Leute in Bären-, Krokodil oder | |
| Hundekostümen betrunken durch die Straßen laufen. Ich hatte übrigens auch | |
| ein Kostüm, das einer Spanierin. Ich war damit allerdings nicht beim | |
| Karneval, sondern auf einem Empfang. Karneval light. | |
| So lustig der Karneval, so wenig lustig ist das Bild von Deutschland, das | |
| derzeit die russischen Medien zeichnen. | |
| Bis vor Kurzem galt Deutschland noch als befreundetes Land und war kein | |
| Objekt von Angriffen der Putin’schen Medien. Im Mai 2015 habe ich in | |
| Deutschland über die Freiheit der Medien gesprochen und gefordert, den | |
| Propagandisten die Einreise nach Europa zu verweigern. Zu diesem Zeitpunkt | |
| fand das niemand eine gute Idee. Jetzt, wo Deutschland von dieser | |
| Propaganda betroffen ist, hat sich das geändert. | |
| Wie erklären Sie es sich, dass Russland jetzt gerade gegen Deutschland so | |
| heftig Stimmung macht? | |
| Vielleicht hängt diese Entscheidung damit zusammen, dass Deutschland eine | |
| entscheidende Rolle bei der Frage spielt, ob die Sanktionen verlängert | |
| werden sollen oder nicht. Vielleicht gibt es auch andere Gründe. Propaganda | |
| muss, um die Menschen unter Spannung zu halten, immer mit neuen krassen | |
| Geschichten kommen. Doch mal abgesehen davon glaube ich, dass der Einfluss | |
| russischer Medien in Deutschland überschätzt wird. | |
| Und die Leute, die im Fall Lisa auf die Straße gingen … | |
| Das waren 2.000 Leute, aber in Deutschland leben mehr als drei Millionen | |
| Menschen mit russischen Wurzeln. Das ist nicht die Mobilisierung, die die | |
| Bundesregierung fürchtet. | |
| Lassen Sie uns einen Ausflug nach Russland machen... | |
| Wo ich lange nicht mehr war. | |
| Erzählen Sie etwas über Ihre Kindheit. | |
| Das Kind, das ich war, und die Frau, die ich heute bin, das sind zwei ganz | |
| verschiedene Personen. Als Kind war ich sehr faul. Ich fuhr gerne Fahrrad, | |
| spielte mit Katzen und sammelte Beeren im Wald. Auf Hausaufgaben hatte ich | |
| keine Lust und machte sie auch nicht immer. Ich war keine gute Schülerin | |
| und las auch keine Bücher. | |
| Was sagte Ihr Vater dazu? | |
| Er hat mir nie etwas aufgezwungen, obwohl er öfter darauf angesprochen | |
| wurde. Guck dir mal deine Tochter an, ein Albtraum, sagten die Leute. Doch | |
| mein Vater meinte nur: Was macht das schon, alles ist gut. Dann kam ein | |
| Moment, als ich merkte, dass ich in der Klasse total abgehängt war. Alle | |
| lasen schon Jules Verne oder unterhielten sich über Shakespeare, und ich | |
| wusste überhaupt nicht, worum es ging. | |
| Und das störte Sie. | |
| Ich begann, Bücher zu lesen, obwohl mir Jules Verne gar nicht gefiel. Ich | |
| beschäftigte mich mit Mathematik und anderen Fächern und ging sogar in | |
| einen Englischkreis. So wurde ich nach der Grundschule ein ganz anderer | |
| Mensch. | |
| Womit hing diese Entwicklung zusammen? | |
| Ich hatte verstanden, dass man Menschen ihre Freiheit lassen muss. So wie | |
| es meine Eltern gemacht haben. Ich habe immer alles selbst entschieden. | |
| Deshalb bin ich wohl ein sehr freiheitsliebender Mensch geworden. | |
| Wie war die Beziehung zu Ihren Eltern? | |
| Ich habe meinen Vater sehr geliebt, war sehr auf ihn fokussiert. Das habe | |
| ich nie versteckt. Letztendlich habe ich immer auf ihn gehört. | |
| Als Ihr Vater in die Politik ging, wie hat sich das auf Sie ausgewirkt? | |
| Es hat mich wütend gemacht. Denn am Anfang verstehst du nicht, was ein | |
| Gouverneur ist. Und dass du von den anderen abgesondert wirst. Das war mein | |
| erstes Gefühl. Wenn die Eltern bekannt sind, kann das ein Vorteil sein. Im | |
| Falle meines Vaters war das nicht so. Denn als ich anfing zu arbeiten, | |
| gehörte er schon der Opposition an. Habe ich mich von dem Komplex befreit, | |
| dass ich Nemzowa heiße? Ja, ich bin stolz auf diesen Nachnamen. Viele | |
| fragen mich jetzt, ob ich von diesem Namen profitiere. Aber mein Vater ist | |
| nicht mehr. Und seinen Nachnamen tragen noch viele außer mir. Ich brauche | |
| keine fantastische Karriere. Doch ich wünschte mir, die Zeit zurückdrehen | |
| zu können und dass es den 27. Februar 2015 nie gegeben hätte. | |
| Warum wurde Ihr Vater umgebracht? | |
| Das war ein politisch motivierter Mord. | |
| Aus welchen Motiven? | |
| Wir müssen zwischen den Motiven der Drahtzieher und denen der Organisatoren | |
| unterscheiden. Die Letzteren haben aus Eigennutz gehandelt, während sich | |
| die Hintermänner von politischen Beweggründen leiten ließen. Tatsache ist, | |
| dass es sich um eine politische Abrechnung handelte. | |
| Aber er war doch keine echte Bedrohung für das Regime in Russland? | |
| Da muss ich kategorisch widersprechen! In einem halb autoritären Regime | |
| stellt jeder unabhängig denkende Mensch eine Gefahr dar. Bewegung geht | |
| nicht von der passiven Mehrheit aus, sondern von der aktiven Minderheit. | |
| Ein Mensch, der fähig ist, diese Minderheit zu mobilisieren, ist eine | |
| Gefahr. In Russland gibt es so gut wie keine festen politischen | |
| Überzeugungen. Das erklärt die überirdischen Beliebtheitswerte Putins. Als | |
| er im August 1999 Premierminister wurde, schnellte die Zustimmung für ihn | |
| innerhalb weniger Monate von null auf 79 Prozent hoch. | |
| Dennoch scheint es, als sei Ihr Vater erst durch den Mord zu einer wahren | |
| Bedrohung geworden. | |
| Das stimmt. Ich kann mich an keinen anderen Fall erinnern, bei dem die | |
| improvisierte Gedenkstätte ein Jahr lang gegen Verwüstungen verteidigt wird | |
| und 100.000 Menschen zu einem Gedenkmarsch auf die Straße gehen. Das Regime | |
| hat damit nicht gerechnet. Der Kreml dachte wohl, dass jemand, der die | |
| ganze Zeit mit Dreck beworfen wird, wirklich dreckig wird. | |
| Wie würden Sie den heutigen Zustand der Opposition in Russland benennen, da | |
| Ihr Vater, das Herz der Opposition, nicht mehr da ist? | |
| Der frühere Ministerpräsident und Mitstreiter meines Vaters, Michail | |
| Kassjanow, tut mir leid. Er ist denselben Angriffen ausgesetzt wie mein | |
| Vater. Es ist sehr erniedrigend. Es geht um die bloße Existenz: Wird die | |
| Opposition überleben oder nicht? Es sind nur die Mutigsten übrig geblieben. | |
| Mein Vater sagte, die echten Oppositionellen müsse man ins Rote Buch | |
| eintragen. Das ist nicht gut, denn bei einem Machtwechsel wird man Menschen | |
| brauchen, die politische Erfahrung haben. | |
| Haben Sie Angst um Ihr Leben? | |
| Nein, ich bin bloß ein vernünftiger Mensch. Mir ist klar, dass es, wenn ich | |
| so weitermache, für mich gefährlich ist, in Russland zu bleiben. Außerdem | |
| will ich in einem freien Land leben. | |
| Ihre Stiftung, die den Namen Ihres Vaters trägt, ist gerade registriert | |
| worden. Welches sind Ihre Projekte? | |
| Eines der zentralen Anliegen der Stiftung wird das Boris-Nemzow-Forum sein, | |
| das immer am 9. Oktober, dem Geburtstag meines Vaters, in Berlin | |
| stattfinden wird. Es wird so lange dort tagen, bis es möglich sein wird, | |
| nach Russland umzuziehen. Das Forum soll außerdem den Deutschen ein | |
| unverfälschtes Russlandbild liefern, und zwar ein anderes, als es etwa der | |
| Petersburger Dialog vermittelt. Und es soll ein Nemzow-Orden für Mut | |
| etabliert werden, der am Tag der Unabhängigkeit Russlands verliehen wird. | |
| Was heißt es in Russland, tapfer zu sein? | |
| Es reicht schon, seine eigene Meinung zu sagen. Ein Beispiel: Eine Woche | |
| vor seinem Tod wollte mein Vater in Jaroslawl, wo er in der | |
| Gebietsverwaltung war, seine Thesen für die Bewältigung der Krise | |
| vorstellen. Zuerst wurde ihm die Genehmigung verwehrt. Als klar wurde, dass | |
| auch ich zur Veranstaltung anreise und darüber womöglich in meiner | |
| TV-Sendung berichte, fand sich sofort ein Raum. Mein Vater sagte: „Du bist | |
| sehr mutig, dass du gekommen bist.“ Tapfere Taten sind bei uns simpler | |
| Natur. Man muss kein Herakles sein, um ein Held zu werden, du musst einfach | |
| Mensch bleiben. | |
| Woher kommt der Titel Ihres Buches? | |
| Das ist ein Zitat meines Vaters. Einmal in Rostow bestieg er einen | |
| Kirchturm und läutete die Glocken mit den Worten: „Ich möchte Russland | |
| wachrütteln.“ | |
| Wird das Buch in Russland erscheinen? | |
| Auszüge werden in der oppositionellen Zeitung Nowaja Gaseta nachgedruckt. | |
| Was ist die Botschaft des Buches? | |
| Das ist das erste Buch über meinen Vater. Der Zufall wollte es, dass es ein | |
| deutsches Buch ist. Ich wollte den Lesern keine Leitfigur der Opposition | |
| nahebringen, sondern den Lebensweg eines besonderen Menschen. | |
| Wie ist der Stand der Ermittlungen? Was können Sie persönlich tun? | |
| Jede noch so kleine Anstrengung auf der internationalen Ebene bringt | |
| Bewegung in die Sache. Jede Anfrage, jede Kundgebung, jede | |
| Unterschriftensammlung hilft. So wird der Druck auf die Ermittler | |
| aufrechterhalten. | |
| Wie lange werden Sie auf das Urteil warten müssen? | |
| Ich rechne mit fünf bis zehn Jahren. | |
| Sie zitieren Ihren Vater mit den Worten: „Meine Tochter hat meine Gene.“ | |
| Haben Sie seine politischen Ambitionen geerbt? | |
| Seine Gene schon, politische Ambitionen keine! | |
| Haben Sie Träume? | |
| Ich habe keine Träume, sondern konkrete Aufgaben. Dass die Stiftung | |
| erfolgreich ist, Nutzen bringt und den Namen meines Vaters verewigt. Dass | |
| die Ermittlungen ans Ziel kommen. Dass ich in Deutschland, in Europa als | |
| Journalistin bestehe, was unglaublich schwer ist. Wenn ich über private | |
| Träume spreche, so möchte ich drei Kinder haben. | |
| Warum ausgerechnet drei? | |
| Eine schöne Zahl, nicht? | |
| Werden Sie mit ihnen so liberal wie Ihr Vater umgehen? | |
| Freiheit ist schön, aber so liberal wie mein Vater werde ich wohl nicht | |
| sein. Ich will ja, dass sie etwas lernen und nicht nur mit einer Katze | |
| herumhängen. | |
| Was werden Sie am 27. Februar tun? | |
| An diesem Tag findet in London eine Präsentation der Boris-Nemzow-Stiftung | |
| statt. Überhaupt möchte ich sagen, dass ich sehr froh über all das bin, was | |
| am 27. Februar stattfinden wird. Meine Mutter wird zu Nemzow-Lesungen und | |
| zu einem Gedenkmarsch in Nischni Nowgorod sein. In vielen anderen Städten – | |
| in Sankt Petersburg, Nowosibirsk und in Europa – finden Gedenkaktionen | |
| statt. Dieses Gedenken an meinen Vater lässt ihn für mich lebendig bleiben | |
| und wärmt mich ein bisschen. | |
| Wird es in Moskau für Ihren Vater eine Gedenktafel geben? | |
| Um Gottes willen, undenkbar! Wenn es so weit ist, wird Russland ein anderes | |
| Land geworden sein. | |
| Was sollte darauf stehen? | |
| „An dieser Stelle wurde am 27. Februar 2015 Boris Nemzow umgebracht“. | |
| 26 Feb 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Oertel | |
| Irina Serdyuk | |
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