# taz.de -- Aus der zeozwei: Nicht viel mehr als Öko-Eis | |
> Berlin gilt als hippe Hauptstadt der Kreativen. Warum hat es dort bei der | |
> Wahl Politik für eine sozialökologisch moderne Stadt so schwer? | |
Bild: Es brauchte erst ein Volksbegehren um das Fahrrad zum Wahlkampfthema zu m… | |
Da hinten smalltalkt eine junge Frau mit dem Typen mit dem modischen Dutt, | |
der für einen Ökostromanbieter wirbt. Ein paar Meter weiter kauft gerade | |
der chinesische Künstler Ai Weiwei sein Gemüse. Und hier vorne warten | |
zwanzig Menschen geduldig in der langen Schlange auf die handgemachten | |
Gözleme nach türkischer Hausfrauenart. | |
Samstagnachmittag auf dem Markt am Kollwitzplatz in Berlin-Prenzlauer Berg. | |
Da trifft man den Kollegen mit seiner Tochter, die natürlich Emma heißt. | |
Die Sonne scheint, der Markt ist voll. Das Eis ist bio, der Kaffee fair | |
gehandelt. Und bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus stimmen hier | |
wieder weit über dreißig Prozent für die Grünen. Das gehört schließlich z… | |
guten Ton. | |
Ein paar hundert Meter weiter aber scheint etwas schiefzulaufen.Der Mann | |
auf der Bühne vor dem Mauerpark redet und redet, länger als sein bis auf | |
die Brust reichender Bart, über CETA und TTIP, die Probleme des Rosenanbaus | |
in Kenia und was das alles mit den Flüchtlingen zu tun hat. | |
Genau zehn Organisationen, von Attac bis zum BUND, von Verdi bis zu den | |
Naturfreunden haben ihre Stände auf der Freifläche vor einem Biosupermarkt | |
aufgebaut. Aber nur genau zehn Zuhörer haben sich hingesetzt, um dem Redner | |
zuzuhören. »Und jetzt kommt etwas Musik«, sagt er am Ende. Konstantin | |
Wecker singt. »Sage nein!« Vom Band. Eine Kundin aus dem Biomarkt bleibt | |
kurz stehen, kräuselt die Stirn, geht weiter. | |
## Alle überrollt | |
Wer die hedonistisch veranlagten Hauptstädter vom Hocker reißen will, der | |
muss schon mehr zu bieten haben. So wie Heinrich Strößenreuther. Der hat | |
sie allesamt überrollt. Den in Berlin nach der Wahl 2011 regierenden | |
rot-schwarzen Senat. Das oppositionelleTrio aus Grünen, Linkspartei und | |
Piraten. Auch die außerparlamentarisch Engagierten von ADFC, BUND und VCD | |
taten sich schwer, noch irgendwie mitzukommen. | |
Über 100.000 Unterschriften haben Strößenreuther und die von ihm | |
begeisterten Mitstreiter für einen radikalen Ausbau der | |
Fahrradinfrastruktur in der Hauptstadt gesammelt. Und das innerhalb von nur | |
drei Wochen. Dabei hätten sie eigentlich sechs Monate Zeit gehabt, um die | |
gerade einmal 20.000 notwendigen Unterstützer für die erste Hürde eines | |
Volksbegehrens zu finden. | |
Das Thema lag auf der Straße. Es brauchte aber Strößenreuther, um | |
wenigstens die desolate Fahrrad-Situation zum Thema der Berliner | |
Abgeordnetenhauswahl an diesem Sonntag zu machen. | |
Wie kann es sein, dass es in Berlin, der Hauptstadt der Kreativen, die | |
immer bei allen Trends gern ganz vorn dabei ist, eine Politik für eine | |
sozialökologisch moderne Stadt so schwer hat? Das liegt zum einen an den | |
Parteien. Da ist die SPD, die im Wesentlichen damit beschäftigt ist, die | |
größten Fehler aus den 27 Jahren zu korrigieren, in denen sie nun schon | |
mitregiert. | |
Da ist die CDU, die sich gern als moderne Metropolenpartei sieht, die aber | |
Themen nur dann erkennt, wenn man sie mit der Forderung nach mehr Polizei | |
verknüpfen kann. Da ist die Linkspartei, in deren Wahlprogramm tatsächlich | |
das Wort Klimaschutz an prominenter Stelle auftaucht, aber mit dem Nachsatz | |
»Klimaschutz braucht Mieterschutz«. | |
## Grünes Wachstum, gesundes Essen | |
Und dann sind da die Grünen. Die haben standesgemäß die Ökopunkte im | |
Programm: grünes Wachstum, gesundes Essen, hundert Prozent erneuerbare | |
Energie. Nach vorn aber stellen sie das in ihrer Kampagne nicht. Seit dem | |
Erfolg des Fahrradvolksbegehrens trauen sich die Grünen immerhin, auf einem | |
Plakat für mehr Radwege zu plädieren. Den Konflikt scheuen sie auch hier. | |
Denn wer Radlern mehr Platz verspricht, müsste ehrlicherweise zunächst | |
fordern, den Autofahrern den Stadtraum zu nehmen. | |
Eigentlich könnten die Grünen sich selbst zum Vorbild nehmen. Als sie | |
zusammen mit der SPD die Regierung in Berlin stellten, setzten sie zum | |
Schrecken der Autofahrerlobby die Einführung von Busspuren durch. Wenig | |
später fiel die Mauer. Mit anderen Worten: Das ist sehr lange her. | |
Im Wahlkampf 2011 regte die damalige Grünen-Spitzenkandidatin Renate Künast | |
mehr Tempo-30-Zonen in der Hauptstadt an. Und dass der neue Flughafen kein | |
internationales Drehkreuz werden müsse. Prompt brach sie bei den Umfragen | |
ein. Seither konzentrierten sich die Hauptstadtgrünen bei ihrer | |
Oppositionsarbeit auf die mantraartig vorgetragene Standardkritik: »Dieser | |
Senat kann es nicht.« Das entbehrt zwar jeder Vision, aber immerhin eckt es | |
auch nirgendwo an. | |
Nur die Ökologie kommt etwas zu kurz. Der profilierteste Klimapolitiker der | |
Berliner Grünen – weg von der Wahlliste. Den weiten Blick nach vorn traut | |
sich niemand. | |
## Debatten ums Scheitern | |
Kein Wunder, denn die großen politischen Debatten in den | |
Hauptstadtzeitungen der letzten Jahre drehten sich nur noch um das | |
Scheitern. Schlangen in den Bürgerämtern, Dealer im Görlitzer Park, die | |
immer teurer werdende Dauerbaustelle Flughafen. Marode Schulen, defekte | |
S-Bahnen, schlecht organisierte Flüchtlingsunterbringung. | |
Und dann noch all diese Touristen, die nicht nur mit ihren Rollkoffern im | |
Weg stehen, nein, sie nehmen den Berlinern jetzt auch noch die Wohnungen | |
weg. Es gibt so viele Aufreger in der Hauptstadt, dass man die ganz große | |
Idee glatt aus den Augen verlieren kann. | |
Der Berliner sorgt sich schon auch um seine Umwelt. Vor allem, wenn es um | |
seinen Vorgarten geht. Da unterscheidet er sich kaum vom Bewohner eines | |
schwäbischen Vorortes. Ihre Berliner Piefigkeit haben sich selbst | |
Linksökologen in Zeiten stadtbildprägenden Hipstertums bewahrt. Hier gießt | |
man nicht nur die rund um den Straßenbaum vor dem Haus sprießenden | |
Wildkräuter. Man schützt sie am besten vor den bösen Nachbarhunden noch mit | |
einem Zäunchen, das gern mit handgehäkelter Spitze verziert sein darf. | |
## Die Brache als Vorgarten | |
Und wenn solche Ersatzvorgärten vor dem Haus fehlen, kämpft man eben für | |
die hübsch verwilderte Brache ums Eck oder die unendliche Weite des alten | |
Flugplatzes. Wenn da gebaut werden soll, steht die Nachbarschaft Kopf. | |
Wohnungsbau angesichts steigender Mieten? Klar! Aber bitte nicht vor meiner | |
Nase. | |
Das fällt umso leichter angesichts der stupiden Ideen der Stadtplaner, die | |
nichts zu bieten haben als die immer gleichen Klötze für Bewohner der | |
oberen Mittelschicht, hingestellt von Großinvestoren, die mehr ihren Profit | |
als die Balance einer Stadt im Auge haben. Sozialökologische Stadtentwürfe, | |
die nicht nur niedrigen Energieverbrauch, sondern auch eine Inbesitznahme | |
durch untere Schichtenermöglichen, findet man eher in Lateinamerika als in | |
Berlin. | |
Besserung ist nicht in Sicht. Die Konkurrenz der Parteien verstärkt | |
offenbar nur die Angst, Fehler zu machen. Deshalb werden die großen Ideen | |
weiter von außen kommen müssen. | |
Warum aber sind Initiativen wie die für den Fahrradentscheid gegenüber | |
Parteien oder Lobbyvereinen im Vorteil? Weil sie scheitern können, ohne | |
dass die Beteiligten gleich um Posten, Basis oder Struktur fürchten müssen. | |
Denn die haben sie ja gar nicht. | |
## Unbeschwert losstrampeln | |
Der Wirtschaftsinformatiker Heinrich Strößenreuther zum Beispiel stand im | |
vergangenen Jahr zunächst praktisch allein da, als er die Idee für das | |
Volksbegehren hatte. So konnte er unbeschwert losstrampeln und eine | |
Richtung vorgeben, der sich andere Radler anschließen konnten. Für ein | |
klares Ziel. Auf Zeit. Wichtiger aber noch: Danach fährt man wieder | |
auseinander. | |
Und noch etwas ist entscheidend. »Wir hatten alle keine Ahnung,wie so etwas | |
funktioniert«, sagt eine von Strößenreuthers Mitstreiterinnen. Was im | |
Umkehrschluss bedeutete: Sie wussten auch nicht, was alles nicht geht. | |
Statt sich mit dem in Institutionen durch langjährigen Pragmatismus | |
geprägten Bedenkenträgertum aufzuhalten, haben sie einfach gemacht. Und | |
einfach mal machen, mal was ausprobieren, das ist nun wirklich State of the | |
Art im hedonistisch-individualistischen Berlin. | |
17 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Gereon Asmuth | |
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