# taz.de -- Buch über die Geschichte des Punk: Verbreitet via Tröpfcheninfekt… | |
> Der Punk ist schon 50 und nicht erst 40 Jahre alt. Der Reader „Damaged | |
> Goods“ feiert die Helden der Musik sehr subjektiv, sehr schön. | |
Bild: Sid Vicious (links) und Jonny Rotten von den Sex Pistols bei einem ihrer … | |
Wie man das Lebensgefühl von Punk beschreiben könnte? Vielleicht so: | |
„Atemlos, sexy, schwül, verdorben, rasend, schmutzig.“ So habe die Musik | |
von The Gun Club für ihn geklungen, schreibt Holger Adam über die Band aus | |
Los Angeles. | |
Oder, wie Moses Arndt zu Black Flags Album Damaged bemerkt: „Damaged goss | |
primitive Gefühle wie Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Stress, Hass, | |
Depression, die unsere Vorfahren bereits in den Höhlen der Cro-Magnons und | |
Neandertaler zelebriert hatten, auf Vinyl“. | |
Es gibt aber auch eine etwas konstruktivere Auffassung der Jugendkultur: | |
„Punk waren nicht nur Jungen, die mit Dosen werfen. Punk war, wie Kathleen | |
Hanna sagt ‚ein Geisteszustand – ein Ausdruck von Energie‘.“ Schreibt J… | |
Miess in ihrem Text über die Band Carambolage, eine der erste | |
Frauen-Punkbands hierzulande. | |
Jede dieser Antworten ist ein Treffer. Sie alle finden sich in der soeben | |
erschienenen Anthologie „Damaged Goods – 150 Einträge in die | |
Punk-Geschichte“. Benannt ist das von Jonas Engelmann herausgegebene Buch | |
nach dem gleichnamigen Song von Gang of Four (nebenbei wird deutlich, dass | |
„damaged“, also „beschädigt“, eine zentrale Vokabel im Punk war). | |
## Autobiografischer Ansatz | |
Mehr als 100 Autorinnen und Autoren reflektieren in dem Reader über | |
wichtige Alben in der Geschichte des Punk – die gelungensten Ansätze sind | |
dabei biografischer Art. So gut wie alle Texte stellen die Fragen, die | |
jeden beschäftigen, der irgendwann in seinem Leben von dieser Subkultur | |
infiziert wurde: Wer und was ist Punk? Was hat Punk, was andere – Rock, | |
Pop, Jazz – nicht haben? Und, um einen weiteren Text aus dem Band zu | |
zitieren, „wann war es vorbei?“ Als „das erste Kid ‚Punk’s not dead�… | |
eine Wand sprühte“? | |
In „Damaged Goods“ wird zunächst die Frage beantwortet, wann es anfing, und | |
da erlebt man gleich die erste Überraschung. Denn hier beginnt Punk mit The | |
Monks im Jahre 1966, gefolgt von Einträgen zu Velvet Underground, The Fugs | |
und Ton Steine Scherben. Demnach würde man in diesem Jahr bereits den 50. | |
und nicht den 40. Geburtstag der Subkultur begehen. Im Lauf der Lektüre | |
wird klar: Es ist durchaus stimmig, die Initialzündung von Punk Anno 1976 | |
anzusiedeln. In jenem Jahr fanden die für die erste Punk-Generation | |
prägenden Konzerte der Sex Pistols statt. Den Erzählungen der Zeitzeugen | |
zufolge verbreitete sich Punk auf diesen Konzerten quasi via | |
Tröpfcheninfektion; jeder Zweite im Publikum schien später eine eigene Band | |
zu gründen. | |
Aber selbstverständlich kann man die früheren Velvet Underground oder Ton | |
Steine Scherben als Protopunk bezeichnen, genau wie die Stooges und MC5. Es | |
ist eine der Stärken des Buchs, dass eindeutige Schubladenzuweisungen | |
vermieden werden. Die Weilheimer Indie-Helden von The Notwist, das | |
österreichische Quetschn-Duo Attwenger oder das kanadische | |
Postrock-Kollektiv Thee Silver Mt. Zion Memorial Orchestra werden | |
gleichberechtigt in die feine Sammlung einsortiert – zu Recht. | |
Von 1966 bis 2016 reicht also das Punk-Spektrum in „Damaged Goods“ und die | |
Auswahl überzeugt: Als Überblick, insbesondere über den westlichen und | |
angloamerikanischen Punk, funktioniert das Buch bestens. The Clash, | |
Buzzcocks, The Undertones, Germs, Dead Kennedys, Big Black, um nur einige | |
zu nennen: Die relevantesten Gruppen und Werke sind fast alle vertreten. | |
Die Autoren – Fanzine-Herausgeber, Journalisten (darunter auch | |
taz-AutorInnen und -Musikredakteur Julian Weber), Verleger, Musiker – sind | |
gut gewählt. | |
## Der große Streit | |
Das Gros der meist zweiseitigen Texte ist gut lesbar; insbesondere, wenn | |
sie anekdotisch daherkommen. Ausfälle gibt es auch: Ausgerechnet der Text | |
über die Sex Pistols zählt zu den schwächeren, weil der Autor die uralte | |
Frage, wie viel Malcolm-Mc-Laren-Konstrukt die Pistols nun waren oder | |
nicht, für viel zu relevant hält. Andere Artikel sind hoffnungslos | |
überladen (beispielsweise der Eintrag über The Stranglers). Was an mehreren | |
Texten überdies stört, ist, dass sie voller Deutungen sind, aber Kenntnisse | |
über Band, Alben und Songtexte voraussetzen. | |
Der Großteil der Texte aber schafft es, die Euphorie, die Punk-Musik | |
auslöste, die Veränderung, die sie in den Subjekten bewirkte, zu | |
vermitteln. Stellvertretend sei hier noch einmal Moses Arndt, ehemaliger | |
Herausgeber des Fanzines Zap, zitiert: „Ich frage mich, wie die armen | |
Menschen um mich herum ohne dieses Erweckungserlebnis überhaupt existieren | |
konnten.“ Ähnlich fundamental für ihre weiteren Leben schildern viele | |
Autorinnen und Autoren hier ihre ersten Punk-Erlebnisse. | |
Absolutes Highlight in dieser Hinsicht ist der Comic von Leo Leowald | |
(„Jonathan Richman in Gummersbach“), der eine biografische | |
Coming-of-Punk-Geschichte erzählt. Schön auch Geständnisse wie die von | |
Jonnie Schulz, dass so manche Hörerfahrung – hier Napalm Death – die | |
Augenzeugen zunächst völlig überforderte. Zur Distinktion aber machte sich | |
so eine Napalm-Death-Fanschaft gut. | |
Ein weiteres Plus an „Damaged Goods“ ist, dass zahlreiche Frauen über ihre | |
Punk-Erfahrungen schreiben und viele wegweisende Künstlerinnen – Kleenex, | |
Malaria!, Team Dresch, Le Tigre – wie selbstverständlich Platz in der | |
Anthologie finden. Erhellend sind auch die kurzen Storys über jugoslawische | |
(etwa Pankrti, Ljubljana), polnische (Brygada Kryzis), russische | |
(Graschdanskaja Oborona) und argentinische Bands (Los Violadores) – | |
trotzdem, der Blick hätte durchaus noch mehr gen Peripherie gerichtet sein | |
dürfen. Die DDR ist – etwa mit AG Geige und Feeling B – ganz gut vertreten. | |
Was Punk ist und wo er aufhört, darüber wird bis heute gestritten – das | |
klingt auch hier in einigen Artikeln an, wenn etwa die frühe Abkehr von The | |
Clash vom rohen Punk in Richtung Dubreggae und HipHop bekrittelt wird. Zum | |
Glück rückt Autor Drehli Robnik das in seiner Huldigung des Clash-Albums | |
„Sandinista!“ einigermaßen gerade. Denn wenn diese musikalische Expansion, | |
wie The Clash sie wider die Wiederholung exerziert haben, nicht punk sein | |
soll, dann darf er auch gerne sterben. | |
22 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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