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# taz.de -- Gerhard Falkners Roman „Apollokalypse“: Vertreter der Nutella-G…
> Falkners „Apollokalypse“ liefert ein wildes Sittenbild der 70er, 80er und
> 90er in Berlin. Es ist gut, es könnte auf der Shortlist des Buchpreises
> landen.
Bild: Hängt in Berlin ab: Schriftsteller Gerhard Falkner
Der Dichter, der nicht die Redeweise des Schicklichen nachahmt, um das
Wahre und Gute darzustellen, hat im idealen Staat nichts zu suchen, glaubte
Platon. Den Dichtern dürfe nicht gestattet werden, die Reden von Männern
nachzuahmen, „die einander verleumden und verhöhnen und schmutzige Reden
führen, trunken oder auch nüchtern. Kennenlernen müssen sie zwar
Wahnsinnige und schlechte Männer und Frauen, selbst tun oder nachahmen aber
nichts von diesen.“ Dass lässt Platon seinen Sokrates erklären.
Dass der Dichter auf die staatstragende Darstellung des Wahren und Schönen
zugunsten einer wahrhaftigen Darstellung verzichten sollte, macht Gerhard
Falkner gleich im ersten Satz von „Apollokalypse“ deutlich: „Wenn man
verliebt ist und gut gefickt hat, verdoppelt die Welt ihre Anstrengung, in
Erscheinung zu treten.“
Da fangen die Glocken an zu läuten, damit ist der Sound vorgegeben, der den
Text über gut vierhundert Seiten zum Vibrieren bringen und den Leser hin
und wieder auch in die Empörungsfalle tappen lassen wird, wenn ein Hähnchen
penetriert oder über den üblen Geruch eines weiblichen Geschlechtsorgans
berichtet wird. „Tabubrecherisch“, die herrschenden Sozialdemokraten und
Protestanten ärgernd, wie man es von den bösen Buben der achtziger Jahre
kennt, den Künstlern, Bohemiens und Taugenichtsen, die in diesem Roman ihr
Unwesen treiben. Auch den PlatonikerInnen unserer Zeit wird womöglich
einiges darin übel aufstoßen.
Vor wenigen Tagen hat der Lyriker Gerhard Falkner im Alter von 65 Jahren
seinen ersten Roman vorgelegt. Er wurde gleich in die Longlist für den
Preis des Deutschen Buchhandels aufgenommen. Zu Recht: „Apollokalypse“ ist
ein kunstvoll gebauter Roman, der in seinen Beschreibungen der Leute, ihrer
Redeweisen und ihrer Mentalität, aber auch in der Erzählweise und im Stil,
in seiner Lust auf Verweise und Zitate selbst eine verschüttete Epoche
wiederauferstehen lässt. Ein Roman, aus dem immer wieder Sätze wie jener am
Anfang herausblitzen, die den Lyriker verraten: „Sogar der Himmel sah aus,
als hätte man ihn im Neuen Deutschland gedruckt“, heißt es lakonisch über
einen Besuch des Ich-Erzählers in Ostberlin.
Mit seinem grandiosen ersten Satz benennt der Autor die wesentlichen Topoi
der Geschichte: In „Apollokalypse“ wird es erstens exzessiv um Liebe und
explizit um Sex gehen; zweitens wird die Narration durch eine Verdoppelung
des erzählenden Ichs vorangetrieben werden, das sich erinnernd selbst zu
vergewissern sucht.
## Mit Vorsprung auf die Welt gekommen
Georg Autenrieth heißt der Ich-Erzähler. Seinen Namen hat er von einem
Mitschüler Falkners in der Grundschule geerbt, wie auch einige andere
Figuren die Namen realer, semiprominenter Personen tragen, ohne irgendetwas
mit deren Lebensgeschichten zu tun zu haben. Autenrieth, dieser Sohn von
zwei Vätern, ist mit einem Geburtsjahr ausgestattet, das auch der Autor
sein eigen nennt: 1951. Ein gutes Vierteljahrhundert später ist der
Autenrieth Georg aus Franken mittendrin in Berlin-Kreuzberg, im „Übergang
von der festen in die, wie wir damals sagten, zweitfeste Wirklichkeit“, wo
Leute wie er ihre eigene Coolness genießen, „schwarz, stolz und grundlos
selbstverliebt“.
„Apollokalypse“ ist eine Hommage an eine untergegangene Welt, das Berlin
der späten siebziger, der achtziger und neunziger Jahre. „Kreuzberg kochte
in diesen Tagen ein Süppchen, von dem sich heute weder der Kessel noch auch
nur Spuren des Gebräus wiederfinden. Es war ein schwarzes Loch, über dem
die bunteste aller möglichen Sonnen explodierte und in dem die Nacht sich
durch die Straßen bewegte, wie eine Künstlerin oder eine Kakerlake.“ Die
Stadt bot Raum für „außerplanmäßiges Existieren“, hier bevorzugte man �…
harte Licht, die scharfe Kante, Begegnungen ohne Ornament“. Am 11.
September ist diese Ära im Buch und vielleicht auch in der Wirklichkeit
vorbei.
Seinem Ich-Erzähler hat Falkner ein Figurenkarree – zwei Frauen, zwei
Männer – gegenübergestellt. Geschult an den amerikanischen Romanen, die er
schätzt, hat Falkner lebendige Charaktere aus Fleisch und Blut, mit
Begierden, Problemen, Störungen, Konflikten geschaffen. Die Dialoge in
diesem Roman klingen glaubwürdig und unausgedacht. Dennoch folgt die
Entwicklung dieses Personals kaum den Gesetzen der Psychologie, weil
Falkner die Figuren als Archetypen, seinen Roman auch als Porträt einer
Generation angelegt hat.
Isabell Kauffmann, Bilijana Stojanow, Heinrich Büttner, Dirk Pruy sind
allesamt jünger als der Ich-Erzähler, in den Sechzigern geboren. Den beiden
Frauen sind ganze Bücher dieses Romans gewidmet, sie sind die
Liebhaberinnen und Lebensgefährtinnen des Erzählers. Die Männer, seine
Freunde, sind „Vertreter dieses neuen Typs junger Männer ‚Modell
Bundesrepublik‘. Mit Vorsprung auf die Welt gekommen. Söhne, Erben,
Luxusausführungen mit Sonderausstattung. Sprösslinge der neuen Herrenrasse,
kaum dass die arische sich zerschlagen hatte. Im Kern aber schlaff.“
Der Komplizierteste von allen ist Büttner (unverkennbar von der Figur des
Malers Martin Kippenberger inspiriert), ein selbstzerstörerischer,
genialischer, dem Wahnsinn verfallender Typ. Büttner war „zwar ein
typischer Vertreter der Nutella-Generation, die neben anderen Spezialitäten
eben auch einen Prototyp aus Weichling, Erbe und Clown hervorbrachte, der
ausschließlich von Fernsehen, Popmusik, Comics und Konsum lebte, aber noch
brach der Schimmer einer dunklen Seite die typische Eintönigkeit der
Glückskinder und die Gnade der späten Geburt.“
Autenrieth selbst erinnert sich an die Ruinen in der Stadt seiner Kindheit,
an die mysteriöse Aufschrift „LSR“ auf den Gebäuden, und manchmal sagt er
einen Satz wie: „Der Übergang Friedrichstraße hatte die Ausstrahlung eines
Konzentrationslagers.“ Der Zynismus, der in solchen Beschreibungen liegt,
folgt der schon 1964 formulierten Einschätzung von Günther Anders, die sich
später unter dem Einfluss von Punk in gewissen Milieus durchzusetzen
begann: „Die einzige angemessene, die einzige wahre, die einzige der
Millionen Entwürdigten würdige Rede ist die zynische.“ Zu diesem Schluss
kann man vielleicht nur kommen, wenn man im Schatten von eben erst
vergangenen Ereignissen aufwächst, deren Ungeheuerlichkeit sich erst
langsam erschließt.
## Matrizen, so unpersönlich wie Matratzen
Er verfügt durchaus über Humor, dieser Autenrieth, nur mit Selbstironie hat
er’s nicht so. Gut, könnte man sagen, für einen Mann, der eh schon mit zwei
Leben geschlagen ist, ist das vielleicht zu viel verlangt. Er weiß
immerhin: „Die moderne Literatur hat uns gelehrt, dass wir keinen Anlass
haben, einem günstigen Eindruck von uns Glauben zu schenken.“
Sein Erfinder legt an ein paar Stellen ironische Distanz zum eigenen Tun an
den Tag. Ahnend, dass gerade die Frauenfiguren ihm doch etwas zu
archetypisch geraten sein könnten, lässt er „die Vermieterin“ zu Wort
kommen. Sie meint, Autenrieth habe wohl das Unglück gehabt, in seinem Leben
„nur diesen matrizenartigen Frauen“ begegnet zu sein. „So unpersönlich w…
Luftmatratzen.“
Aber Autenrieth hat größere Probleme. Er muss sich, wie die Väter und
Mütter, damit auseinandersetzen, dass es im eigenen Kopf einen verdrängten
Anderen geben könnte, der sich Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger
nicht nur in den Bars von Kreuzberg herumgetrieben hat, sondern auch an
einer Kommandoaktion der RAF beteiligt gewesen ist. Der doppelte Autenrieth
steht für zwei Möglichkeiten, zwischen denen diese jungen Leute wählen
können: Sich für Thanatos, den bewaffneten Kampf gegen „das System“, oder
für den Eros zu entscheiden.
Schließlich kommt im doppelten Autenrieth die Figur der narzisstischen
Störung ins Spiel, bei der sich der Jüngling in sein Spiegelbild verliebt
und aus einem plötzlich zwei werden. Und dann ist da noch eine letzte
Verdoppelung im Gange, die Verdoppelung der Welt durch die Medien,
exemplifiziert an der Kommandoaktion der Terroristen, die Falkner mit einer
im Fernsehen laufenden Doku über die Morde der Gang von Charles Manson
parallelisiert.
Hier zeigt sich einmal mehr die poststrukturalistische Prägung dieses
Romans, der nie ohne Rekurs auf die Vergangenheit, wohl aber ohne Politik
auskommt. Der Systemgegensatz, der RAF-Terror und seine Unterstützung durch
die Stasi, all das wird systemisch betrachtet. Man fühlt sich an Sascha
Andersons Denken erinnert, das die politischen Verhältnisse in rein
formale, binäre Oppositionen übersetzt, mit denen man spielen kann, wie man
will: „Jeder Satellit hat einen Killersatelliten / Jeder Tag hat eine Nacht
/ Jeder Panzer eine PAK.“ Der postmoderne Künstler kann gleichzeitig
staatsfeindlicher Poet und Stasispitzel sein, ohne sich dabei zu
widersprechen. Autenrieth ist auch so ein postmoderner Charakter, der
vermutlich zu viel Baudrillard gelesen hat: „Ich arbeitete nicht
gleichzeitig für beide Seiten. Sondern ich bildete selbst diese beiden
Seiten.“
„Apollokalypse“ stellt sich in die Tradition des postmodernen Romans, er
ist voller Zitate und Anspielungen an Proust, Ovid und Rilke, und nicht
zuletzt Thomas Pynchon: „Die Wahrheit ist niemals nur eine einzige.“ Wenn
es gerecht zugeht „auf dera Welt“, dann kommt „Apollokalypse“ auf die
Shortlist für den Buchpreis.
10 Sep 2016
## AUTOREN
Ulrich Gutmair
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