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# taz.de -- Rechte Gewalt in Berlin: Das Klirren in der Stille
> Marzahn-Hellersdorf im Osten Berlins hat sich zu einer rechten Hochburg
> entwickelt. Warum kriegt der Bezirk das Problem nicht in den Griff? Eine
> Spurensuche.
Bild: Seinen braunen Ruf wurde Marzahn-Hellersdorf trotz aller Kampagnen nie ga…
Kastanienboulevard heißt dieser Ort. Boulevard – das klingt nach großer
Stadt, nach Flanieren vor edlen Geschäften. Doch die große Stadt ist ganz
weit weg hier in Hellersdorf: „Conny’s Container“ steht in abblätternden
blassroten Buchstaben auf dem halb verfallenen Gebäude am Platz in der
Mitte des Boulevards. Sonst gibt es hier noch eine City-Toilette, einen
Döner-Imbiss und das Café Auszeit, vor dem drei tätowierte Männer auf
Plastikstühlen sitzen.
Es ist kein Ort der großen Worte. Der Satz, der einem häufig begegnet, wenn
man sich unter AnwohnerInnen umhört, ist simpel: „Ich will einfach nur
meine Ruhe haben.“ Mal klingt es anklagend, mal versöhnlich.
Der Kastanienboulevard wirkt selbst in der Junisonne so trist wie die
Kulisse eines Films über abgehängte Stadtteile. Platz 416 belegte das
Quartier Kastanienboulevard im letzten Sozialstrukturatlas, von
insgesamt 419 untersuchten Gebieten. Aber ruhig, das ist es.
Diese Ruhe wird hochgehalten – auch dann noch, wenn sie eigentlich gestört
ist. So wie neulich, als es nachts laut geklirrt haben muss. Einmal,
zweimal, immer wieder fliegt der schwere quadratische Stein gegen die dicke
Glastür, die in unzählige Teile zerspringt. Nachts ist es hier noch ruhiger
als am Tag, über den ganzen Boulevard muss das Klirren zu hören gewesen
sein, als Unbekannte versuchen, die Tür zum Flüchtlingscafé LaLoka zu
zerschmettern. Trotzdem: Bei der Polizei ging kein Anruf ein in dieser
Nacht, niemand von den NachbarInnen will etwas bemerkt haben am nächsten
Tag.
„Vor drei Jahren hätte es bei so einem Vorfall noch einen Aufschrei
gegeben“, sagt Luisa Seydel, „heute wissen wir, wir müssen gar nicht erst
versuchen, das groß zu skandalisieren, das klappt sowieso nicht mehr.“ Die
24-Jährige steht vor der notdürftig zusammengehaltenen Tür.
Seydel hat das LaLoka – Internetcafé, Beratungsstelle, Begegnungsort – mit
aufgebaut, zusammen mit der Initiative Hellersdorf hilft, die sie 2013 mit
einigen FreundInnen gründete, und StudentInnen der nahen
Alice-Salomon-Hochschule. „Seit Beginn unserer Arbeit versuchen Neonazis,
uns einzuschüchtern. Das ist eine permanente Drohkulisse, mit der wir jetzt
seit drei Jahren leben“, sagt Seydel. Neben ihr steht Sajid aus Pakistan,
der seinen Nachnamen lieber nicht nennen möchte. Er wohnte lange in der
Unterkunft in der Carola-Neher-Straße gleich um die Ecke, vor Kurzem konnte
er endlich in eine Wohnung umziehen. Er zeigt auf die zersprungene Tür: „So
etwas macht Angst, weil sie versuchen, in die Räume einzudringen, in denen
wir uns sicher fühlen.“
## Initialzündung: Der braune Dienstag
Neonazis gab es in Marzahn-Hellersdorf auch schon in den 1990er Jahren,
ganz frei von einem braunen Image war der Bezirk nie. Aber seit drei Jahren
ist er zum Schwerpunkt rechtsextremer Aktivität in Berlin geworden.
Angriffe auf Flüchtlingsheime, rechte Demonstrationen, Straftaten mit
rechtsextremem Hintergrund: Egal auf welche Statistik man guckt, immer
nimmt Marzahn-Hellersdorf einen traurigen Platz ein, manchmal mit doppelt
so hohen Zahlen, wie alle anderen Bezirke zusammen.
Zwar gelingt es den Neonazis in Marzahn-Hellersdorf seit etwa einem Jahr
nicht mehr, auch Menschen außerhalb ihrer Szene in einer relevanten Menge
zu erreichen. Laut aktuellem Verfassungsschutzbericht radikalisieren sich
die Neonazis selbst dafür aber weiter, die Meldungen von rechtsextremen
Angriffen reißen nicht ab. Anders als in anderen Bezirken scheint man das
Problem hier kaum in den Griff zu bekommen.
Um zu verstehen, warum das so ist, braucht es einen Blick zurück, zu dem
Tag vor drei Jahren, der als „brauner Dienstag“ in die Hellersdorfer
Lokalgeschichte eingegangen ist: Eine Informationsveranstaltung zur neuen
Flüchtlingsunterkunft an der Carola-Neher-Straße, die damals kurz vor der
Eröffnung stand. Ein heißer Tag im Juli, die Veranstaltung wird wegen des
großen Andrangs nach draußen verlegt, rund 800 Menschen kommen. Die
Stimmung ist gereizt, die Bezirksvertreter sind sichtlich überfordert.
Organisierte Neonazis geben sich als unbescholtene AnwohnerInnen aus und
können am Mikrofon ihre Hetze verbreiten. Im Anschluss gibt es eine
Spontandemonstration durch den Kiez.
Es ist die Initialzündung für die „Bürgerinitiative Marzahn/Hellersdorf“,
die zunächst in Hellersdorf und ab 2014 auch in Marzahn Proteste gegen
Flüchtlinge organisiert. In ihrer Hochphase im Herbst 2014 gelingt es ihr
dabei, bis zu 1.000 Leute auf die Straße zu bekommen.
## Strategie Verharmlosung
Am Anfang wird die tragende Rolle organisierter Neonazis in der
vermeintlichen „Bürgerinitiative“ von vielen unterschätzt, die Proteste a…
„Anwohnersorgen“ verharmlost. Auch die Senatsverwaltung für Inneres hält
lange an einer solchen Einschätzung fest: Noch im Herbst 2014 spricht der
Innenstaatssekretär Bernd Krömer davon, in Marzahn würden Neonazis
versuchen, „Anwohnerproteste für ihre Ziele zu missbrauchen“ – als wären
die Proteste unabhängig von Neonazis entstanden.
Diese Schwierigkeit zu erkennen, dass auch AnwohnerInnen Neonazis sein
können, zieht sich durch den hiesigen Umgang mit Rechtsextremismus. „Es
wird immer wieder so getan, als ginge es hier um Neonazis, die von außen
anreisen, die mit dem Bezirk eigentlich nichts zu tun haben“, sagt Seydel.
Für sie ist das nicht nachvollziehbar: „Jeder weiß, dass die hier wohnen,
sich hier zu Hause fühlen.“ Tatsächlich: Die Klingelschilder der
DrahtzieherInnen der „Bürgerinitiative“ – Patrick Krüger, stellvertrete…
Landesvorsitzende der Partei Die Rechte, René U., der als politischer
Ziehvater des NPD-Landesvorsitzenden Sebastian Schmidtke gilt, Marcel R.,
der bereits im Netzwerk „Nationaler Widerstand Berlin“ aktiv war, oder
Daniela F., die in den 1990ern die „Kameradschaft Mahlsdorf“ mit aufbaute �…
finden sich allesamt im Bezirk.
In Marzahn-Hellersdorf gibt es wie in anderen Bezirken auch eine eigene
Stelle für den Kampf gegen Rechtsextremismus. „Polis – bezirkliche
Koordinierungsstelle für Demokratieentwicklung am Ort der Vielfalt“ heißt
sie hier. „Orte der Vielfalt“ ist eine Bundesinitiative, die bis 2014
Gelder für lokale Programme zur Förderung kultureller Vielfalt
bereitstellte, in der Liste finden sich viele Berliner Bezirke.
Im Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf scheint man das als Auszeichnung zu
verstehen: Das Engagement für Flüchtlinge sei „ein Ausweis dafür, dass der
Bezirk seine 2009 von der Bundesregierung verliehene Auszeichnung als „Ort
der Vielfalt“ – auch und gerade unter zuweilen herausfordernden Umständen …
letztlich vollkommen zurecht trägt“, lautet der Abschlusssatz des
„Jahresbericht zur Demokratieentwicklung 2013“. „Zuweilen herausfordernde
Umstände“ – eine ziemlich euphemistische Umschreibung für den „braunen
Dienstag“ und seine Folgen, die in der Naziszene bis heute als
„Hellersdorfer Modell“ gefeiert werden.
Gern würde man sich darüber mit Thomas Bryant unterhalten, der bis Ende
2015 die bezirkliche Koordinierungsstelle innehatte und heute der
Integrationsbeauftragte des Bezirks ist. Doch Bryant weist alle Anfragen
ab: Mal ist er zu beschäftigt, mal nicht zuständig.
## Antifa wird ignoriert
So muss man sich auf das verlassen, was Menschen, die sich in Berlin gegen
rechts engagieren, hinter vorgehaltener Hand sagen: Dass Bryant die
Gemengelage aus organisierten, sich hier sicher fühlenden Neonazis und
einem weit verbreiteten Alltagsrassismus lange unterschätzt habe. Dass der
Bezirk das Problem auch deshalb nicht in den Griff kriege, weil er, anders
als andere Bezirke, keine lokalen Antifagruppen miteinbezieht, obwohl diese
oft ein umfangreiches Wissen über die örtliche Naziszene hätten. Anders als
etwa in Schöneweide ist die Infrastruktur der Nazis hier nicht so
offensichtlich zu erkennen. „Es gibt hier keine Nazikneipen, aber in fast
jeder Kneipe Nazis“, drückt es ein Antifa-Aktivist aus.
Was nicht problematisiert wird, kann auch nicht gelöst werden: Das mag Teil
der Erklärung sein, auch wenn Bryants Nachfolger, Raiko Hannemann, einen
besseren Ruf genießt.
Eine ergänzende Erklärung zielt nicht auf die Neonazis selbst, sondern die
zivilgesellschaftliche Gegenwehr ab. Denn die ist in Marzahn-Hellersdorf,
diesem einst so beliebten und dann nach der Wende schnell in Verruf
geratenen Bezirk schwieriger zu organisieren als anderswo. Eine
Lokalpolitikerin, die mit diesem Zitat nicht genannt werden will, sagt es
so: „Die Leute hier haben nie gelernt, was eine funktionierende
Zivilgesellschaft ist, was demokratische Mitbestimmung bedeutet.“ Da ist es
wieder, das Motiv: Ich will einfach nur meine Ruhe haben. Aber die Ruhe der
einen macht die der anderen unmöglich: „Ich lasse mich nicht einschüchtern,
aber ich laufe hier abends nicht allein herum – das ist einfach zu
gefährlich“, sagt Sajid.
## Engagierte allein gelassen
Natürlich gibt es auch Gegenbeispiele. Das Bündnis für Demokratie und
Toleranz, gegründet im Herbst 2014 unter der Schirmherrschaft von
Bezirksbürgermeister Stefan Komoß (SPD), konnte Anfang April, als der
letzte größere Naziaufmarsch im Bezirk stattfand, rund 200 Menschen zu
einer eigenen Gegenkundgebung mobilisieren – für Marzahn-Hellersdorf, wo
bei Anti-Nazi-Protesten normalerweise etwa 90 Prozent der TeilnehmerInnen
aus der Innenstadt anreisen, ein Erfolg. Und Hellersdorf hilft ist ohnehin
längst eine Vorzeigeverein, das LaLoka ein hervorragendes Beispiel für die
Zusammenarbeit von FlüchtlingshelferInnen und Geflüchteten selbst, die den
Laden mittlerweile fast allein verwalten.
Nur: Gerade diese Engagierten fühlen sich immer wieder allein gelassen –
nicht von der Lokalpolitik insgesamt, wohl aber von den Verantwortlichen im
Bezirksamt und bei der Polizei. Fünf scharfe Patronen fanden Mitglieder von
Hellersdorf hilft vor einem Jahr vor dem LaLoka – einen Tag, nachdem der
Neonazi René U. die Initiative auf einer Kundgebung bedrohte, indem er so
tat, als würde er mit einer Pistole auf sie zielen. U. ist laut Polizei im
Besitz eines Waffenscheins. Bis auf eine erfolglose Wohnungsdurchsuchung
einige Tage später hörte die Initiative nie wieder etwas von
Ermittlungsarbeiten. „Es gibt so viele Anzeichen dafür, dass diese Leute
hinter anderen Angriffen auf Geflüchtete und Engagierte stecken, und
trotzdem bleiben sie seit Jahren straffrei – das ist kein gutes Gefühl“,
sagt Seydel.
Immerhin: Die Polizei nehme bei Angriffen gegen ihre Initiative wie jetzt
bei der eingeschmissenen Tür mittlerweile immer auch Ermittlungen in
Richtung rechte Szene auf, das sei früher nicht so gewesen. Und auch der
Bezirk, das zeigt sich etwa im Vergleich der Polis-Berichte, scheint das
Problem nun ernster zu nehmen. Das wiederum mag auch an den Neonazis selbst
liegen: Während sich deren Aktivitäten lange auf Flüchtlingsheime und
HelferInnen konzentrierten, nehmen sie nun auch andere Akteure in den
Blick. Wenige Tage vor dem Angriff auf das LaLoka waren im Bezirk andere
Scheiben eingeschmissen worden: die des SPD-Büros am Blumberger Damm.
Einfach nur seine Ruhe haben, ist hier nicht mehr so leicht.
27 Jun 2016
## AUTOREN
Malene Gürgen
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