# taz.de -- taz-Streit zum Fahrrad-Volksentscheid: „Da geht bei mir der Puls … | |
> Braucht Berlin den „Volksentscheid Fahrrad“? Initiator Heinrich | |
> Strößenreuther und Staatsekretär Christian Gaebler (SPD) sind | |
> unterschiedlicher Meinung. | |
Bild: Haben fast dasselbe Ziel, aber sehr unterschiedliche Vorstellungen von de… | |
taz: Herr Gaebler, gibt es Ecken in Berlin, wo Ihnen Fahrradfahren zu | |
gefährlich ist? | |
Christian Gaebler: Nein. Aber es gibt natürlich Bereiche, wo es mehr Spaß | |
macht, Fahrrad zu fahren, und andere, wo es weniger Spaß macht. Und es gibt | |
solche, wo Personen, die sich im Verkehr allgemein unsicherer fühlen, | |
sicherlich nicht fahren wollen. | |
Können Sie nachvollziehen, dass viele Radfahrer unzufrieden sind? | |
Gaebler: Ich sehe, dass wir an vielen Stellen in der Stadt Lücken | |
geschlossen haben. Als Beispiel fällt mir gerade der zweispurige Radweg an | |
der Bülowstraße ein – als Verbindung zum Nelly-Sachs-Park. Natürlich gibt | |
es auch Stellen, an denen man sagt: Hier kann es noch besser werden. Oder | |
wo etwas gemacht wurde, aber mit kleineren Mängeln, die behoben werden | |
müssen. Das passiert leider oft aufgrund der verschiedenen Zuständigkeiten, | |
die es an der Stelle gibt. | |
Herr Strößenreuther, so wie Ihre Initiative die Risiken des Radverkehrs in | |
Berlin schildert: Trauen Sie sich da überhaupt noch aufs Rad? | |
Heinrich Strößenreuther: Ich habe gegenüber Senioren das Glück, mit meinen | |
48 Jahren noch gut zu sehen und zu hören. Aber es gibt durchaus Ecken, wo | |
ich merke, wie mein Puls hochgeht. In der Oranienstraße etwa bin ich froh, | |
wenn ich heil wieder rauskomme. Die wurde 2013 im Radsicherheitsdialog des | |
Senats als „Radfahrhölle“ bezeichnet, und da ist seitdem nichts passiert. | |
Andauernd fahren Autos kreuz und quer – Berlin hat sich auch angewöhnt, | |
gleich im U-Turn auszuparken. Abgesehen davon, dass 80 Prozent der Autos | |
von morgens bis abends im Parkverbot stehen. Ich habe da noch nie Polizei | |
gesehen, die diese Fahrzeuge aufschreibt. Ein zweites Beispiel ist die | |
Leipziger Straße, auch da bin ich froh, wenn ich aus dem engen Bereich | |
wieder draußen bin. | |
Sind das Bereiche, wo es mit den Zuständigkeiten hapert, Herr Gaebler? | |
Gaebler: In der Oranienstraße gibt es vor allem ein Überwachungsproblem – | |
das ist kein Thema der Verkehrsverwaltung. Polizei und Ordnungsamt streiten | |
sich darüber, wer für das illegale Parken in zweiter Spur zuständig ist: | |
Das Ordnungsamt ist für den ruhenden Verkehr zuständig, die Polizei für den | |
fließenden, und jetzt können Sie überlegen, worum es sich in diesem Fall | |
handelt. Da muss es eine bessere Abstimmung geben. Zur Leipziger Straße | |
muss ich sagen: Der enge Abschnitt zwischen Leipziger Platz und | |
Wilhelmstraße ist leider so schmal, wie er ist, das kann man nicht ändern. | |
Aber da habe ich ausreichend Parallelrouten, über die ich fahren kann. Und | |
im breiten Abschnitt haben Sie ja kein Problem mit dem Rad. | |
Strößenreuther: Auch da würde ein Vater oder eine Mutter ihr Kind nicht Rad | |
fahren lassen. | |
Gaebler: In einer Großstadt wie Berlin gibt es nun mal ein gewisses | |
Verkehrsaufkommen, und ich kann nicht auf jedem Straßenabschnitt einen | |
Zustand herstellen, wo jeder Ungeübte, ohne aufzupassen, schlafwandlerisch | |
durch die Gegend fahren kann. | |
Strößenreuther: Wenn ich Ihre Aussage auf den Punkt bringen darf: Sie | |
wollen gesamte Bevölkerungsteile aus dem Stadtverkehr wegdiskriminieren. | |
Kinder haben für Sie da nichts zu suchen. | |
Gaebler: Sie wissen, dass ich das nicht gesagt habe. Es gibt Punkte in der | |
Stadt, wo ich aufgrund des Gesamtverkehrsaufkommens noch nicht mal gern mit | |
dem Auto fahre. Aber es gibt nun mal ein Hauptverkehrsstraßennetz, das den | |
Verkehr bündelt. Wir wollen ja nicht, dass der Durchgangsverkehr durch die | |
Nebenstraßen fährt. Natürlich muss ich überlegen, wie ich diese Straßen | |
sicherer mache, aber eben auch, welche Alternativen ich anbiete. Damit ich | |
Radfahrern sagen kann: Wenn ihr euch an einer bestimmten Stelle unsicher | |
fühlt, gibt es eine Alternative mit wenig Umweg. Das ist ja auch das Ziel | |
von Fahrradstraßen. | |
Strößenreuther: Da sind wir direkt bei einem Punkt in unserem | |
Gesetzentwurf: 350 Kilometer Fahrradstraßen. Die wären eine solche | |
attraktive Alternative. An der Linienstraße sieht man das gut: Jeder | |
vernünftige Radfahrer fährt dort und nicht auf der Torstraße. | |
Gaebler: Also stimmen Sie mir schon zu, dass so eine Alternative Sinn | |
macht? | |
Strößenreuther: Sowohl als auch. Ihre Aussage war ja generell: Ungeübte | |
haben auf der Straße nichts zu suchen. | |
Gaebler: Ich glaube, wir haben genügend Punkte, über die wir uns sachlich | |
auseinandersetzen können; mir das Wort im Munde umdrehen hilft uns da nicht | |
weiter. | |
Strößenreuther: Dann machen wir es doch noch mal konkret: Sind wir uns | |
einig, dass eine Stadt so sichere Radwege bereitstellen muss, dass Mütter | |
und Väter ihre Kinder dort fahren lassen würden? | |
Gaebler: Ja. | |
Strößenreuther: Damit sind wir ja schon weit vorangekommen: Das ist doch | |
der Lackmustest. Nehmen wir einmal die Schlüterstraße, in der andauernd die | |
Radstreifen zugeparkt sind. Was tun Sie da, um die für diese | |
Bevölkerungsgruppe sicher zu machen? Oder ist auch das eine Straße, wo man | |
Ungeübte nicht fahren lassen sollte? | |
Was ist Ihre Priorität, Herr Gaebler: Radspuren auf den großen Straßen oder | |
Radstraßen mit möglichst wenig Autoverkehr? Der Senat wirkt da ein bisschen | |
unentschieden. | |
Gaebler: „Unentschieden“ würde ich das nicht nennen. Bei über 5.000 | |
Kilometern Straßennetz muss ich eben überlegen, wie ich das einteile. Ich | |
bin kein Freund der Separierung der Verkehrsarten, das wäre Verkehrspolitik | |
der 70er Jahre. Aber Vorrangrouten für den Radverkehr, die nicht zwingend | |
über alle Hauptverkehrsstraßen führen müssen, das ist doch eine gute Sache. | |
Denn selbst wenn ich einen Fahrradstreifen an der Hauptverkehrsstraße habe, | |
ist es dort immer noch unangenehmer als auf einer Nebenroute, wo ich | |
schneller vorankomme und weniger Stau und Abgase habe. Natürlich muss ich | |
jeden Punkt in der Stadt auch mit dem Fahrrad anfahren können. Aber wenn | |
ich in bestimmten Straßen den Autoverkehr zurückdrängen will, muss ich ihn | |
anderswo bis zu einem gewissen Grad akzeptieren. | |
Zurzeit gibt es übrigens 13 Fahrradstraßen in Berlin – sechs davon | |
innerhalb des S-Bahn-Rings. Am bekanntesten ist neben der Linienstraße in | |
Mitte der östliche Abschnitt der Kreuzberger Bergmannstraße. | |
Wo liegt Ihre Priorität, Herr Strößenreuther? | |
Strößenreuther: Unser Entwurf integriert alle Verkehrsarten miteinander und | |
ermöglicht vor allem ein besseres Berlin. Wir haben ein Sicherheitsproblem: | |
In den letzten fünf Jahren ist die Zahl der Leicht- und Schwerverletzten im | |
Verkehr um 20 bis 30 Prozent gestiegen. In diesem Jahr gab es den siebten | |
Radverkehrstoten schon im April, so viele waren es 2011 im gesamten Jahr | |
nicht. Wir haben aber auch ein Klimaschutzproblem: Der Senat hat per Gesetz | |
erlassen, dass die Stadt 60 Prozent der CO2-Emissionen bis 2030 reduzieren | |
muss – das geht vor allem mit dem Radverkehr. Und es ist ein schönes | |
Zeichen, dass wir schon 1.000 Leute sind, die für diesen Volksentscheid | |
arbeiten. | |
Der Senat wirft der Initiative vor, eine Verkehrsart gegen die andere | |
ausspielen. Aber ist nicht der motorisierte Verkehr jetzt stark | |
privilegiert? Geht es nicht um mehr Augenhöhe? | |
Gaebler: Als jemand, der integrierte Verkehrsplanung studiert hat, mache | |
ich ungern solche Vereinfachungen: Nicht der eine ist gut oder der andere – | |
in einer komplexen Stadt muss ich mir überlegen, wie ich Mobilität für die | |
verschiedenen Gruppen organisiere. Richtig ist, dass aktuell der | |
Pkw-Verkehr in einer Art und Weise privilegiert ist, die seinem | |
Verkehrsanteil nicht entspricht. Da haben wir keinen Dissens. Die Frage | |
ist, wie und wie schnell ich Verkehrsraum zugunsten des Radverkehrs | |
umverteile. Ich würde mir auch wünschen, dass das schneller und | |
konsequenter vorangeht, ich ärgere mich auch, wenn eine ausführende Firma | |
etwas auf die Straße malt, was so nicht geplant war, weil vorher keiner | |
noch mal richtig draufgeguckt hat. Aber das ist ein Steuerungs- und | |
Umsetzungsproblem, kein konzeptionelles Problem. Die Radverkehrsstrategie | |
des Senats wird ja von den Betreibern des Volksentscheids gar nicht infrage | |
gestellt. | |
Wer steuert denn falsch? | |
Gaebler: Wir haben in Berlin eine zweistufige Verwaltung mit einer sehr | |
komplexen Zuständigkeit, gerade was das öffentliche Straßenland angeht. An | |
dieser Stelle gehen leider zu viele Beschlüsse zu oft hin und her. | |
Das ist kein neues Problem. | |
Gaebler: Nein, und wir haben in den vergangenen Jahren Anstrengungen | |
unternommen, um Kommunikation und Abstimmung zu verbessern. In den letzten | |
vier Jahren haben wir doppelt so viel Geld ausgegeben wie in den zehn | |
Jahren davor, wir haben die Verfahren beschleunigt, sehen aber auch, dass | |
wir an Grenzen stoßen. Daher wäre es aus meiner Sicht gut, wenn eine | |
einzige Institution den Hut aufhat. Dass es eine Steuerung und ein | |
Vorantreiben aus einer Hand gibt, die die anderen zum Handeln zwingt, damit | |
ich kein jahrelanges Pingpong habe. | |
Strößenreuther: Das ist schön. Da stimmen Sie ja unseren Paragrafen 16 bis | |
18 zu, in denen steht, dass in den Bezirken Fachstellen und Stabsstellen | |
eingerichtet werden müssen. Die Mittel dafür müssen vom Senat kommen, und | |
wenn in den Bezirken Mittel für die Maßnahmen aus dem Radverkehrsgesetz | |
gebraucht werden, hat der Senat diese auch bereitzustellen. | |
Gaebler: Das nutzt aber leider nichts, Herr Strößenreuther. Dann haben Sie | |
zwar Geld und noch mehr Leute auf unterschiedlichen Ebenen, aber immer noch | |
keinen, der es vorantreibt. Das wird nicht funktionieren. Ein Gegenbeispiel | |
ist die Grün Berlin, die Grünanlagen zentral plant und betreibt. Die | |
stimmen das mit den Verwaltungen ab, machen aber die Planung und setzen es | |
am Ende auch um. | |
Wenn Sie einen Landesbetrieb etablieren wollen, wie ihn Senator Geisel | |
vorgeschlagen hat, kriegen Sie aber Ärger mit den Bezirken. | |
Gaebler: Es soll jemanden geben, den Land und Bezirke mit der Durchführung | |
beauftragen, also etwa mit Planung und Bau von Radspuren oder | |
Fahrradstraßen. Das kann eine bestehende Landesgesellschaft sein. Ich will | |
keinen Landesbetrieb Straßenwesen gründen: Das würde fünf Jahre dauern, bis | |
so ein Betrieb arbeitsfähig wäre. | |
Klingt doch ganz gut. | |
Strößenreuther: Klingt ganz gut, aber die Frage ist, was es materiell | |
abzuarbeiten gilt. Das ist ein Mengenthema. Daraus ergibt sich, wie viele | |
Leute gebraucht werden, um das zu tun – es zu steuern oder tatsächlich | |
abzuarbeiten. Unser Gesetz ist so aufgebaut, dass Sie auch eine | |
Fahrradbaugesellschaft gründen können, insofern sind wir schon recht nahe | |
beieinander. | |
Gaebler: Nur beschleunigt Ihr Gesetz an dieser Stelle nichts. Die Vorgaben | |
sind größtenteils Sollbestimmungen, von denen auch abgewichen werden kann. | |
Zudem setzt es neue Standards, die die Sachen auch nicht schneller und | |
einfacher machen. Wir müssen doch auf verschiedene Situationen reagieren | |
können. Da muss ich mich entscheiden: Mache ich den Radstreifen etwas | |
schmaler oder habe ich am Ende keinen? Busspuren nicht mehr für den | |
Radverkehr freizugeben, wie Sie es vorsehen, halte ich auch für einen | |
Fehler. Dann habe ich an einigen Stellen Bus- und Fahrspur, aber keinen | |
Platz für zusätzliche Fahrradinfrastruktur. | |
Strößenreuther: Wir haben das analysiert. Es gibt genau eine Straße, wo das | |
nicht klappt, sonst ist genug Platz in der Stadt. | |
Gaebler: Da kann ich Ihnen ja spontan zwei nennen, die Kolonnenstraße und | |
die Drakestraße. Und es gibt bestimmt noch 20 bis 30 andere Beispiele. | |
Strößenreuther: Auf dem Ku’damm geht es, in der Kantstraße geht es, in der | |
Oranienstraße geht es … | |
Gaebler: Ich sage doch nur, dass solche pauschalen Punkte im Gesetz nicht | |
funktionieren. Deshalb ist es klug, dass Sie etliche wieder aufgegeben | |
haben. | |
Wir sind beim Raumproblem. Senator Geisel hat kürzlich gesagt: „Nicht jeder | |
Parkplatz in Berlin ist überflüssig.“ Im Umkehrschluss heißt das, es gibt | |
überflüssige Parkplätze. Wie viele, Herr Gaebler? | |
Gaebler: Also, eine pauschale Aussage ist da schwierig. | |
Schauen Sie doch mal aus dem Fenster auf die Dutschkestraße, da ist eine | |
ganze Spur durch Parkplätze belegt. Braucht man die? Oder trauen Sie sich | |
nicht, welche wegzunehmen? | |
Gaebler: Wir machen das ja! Jede Woche fallen Parkplätze weg, weil wir | |
Fahrradinfrastruktur anlegen. Aber das kann keine pauschale Entscheidung | |
sein, nach dem Motto: Jetzt nehmen wir mal alle Parkplätze weg und schauen, | |
was wir mit dem Platz machen. Noch mal: Wir verteilen den Straßenraum | |
zugunsten des Fahrradverkehrs um. Aber mit Augenmaß. | |
Strößenreuther: Darüber gab es ja nie eine Diskussion. Die Frage ist die | |
nach der Geschwindigkeit. Wir haben heute eine Radverkehrsfläche von 3 | |
Prozent, die Autos haben 20 mal mehr. Und jedes Jahr kommen 17.000 neue in | |
die Stadt. Bei einer Stadt, die einmal vier Millionen Einwohner haben wird, | |
werden das 150.000 Fahrzeuge mehr sein. Die brauchen Parkfläche in der | |
Größe des Tempelhofer Feldes. Das können wir nicht mit Parkplätzen | |
zubetonieren, also werden die in den Nebenstraßen stehen. Bei 1,5 Millionen | |
Pkws im Bestand heißt das, jeder zehnte parkende Pkw bekommt einen in | |
zweiter Reihe daneben. Das ist das „Weiter so“ der Verkehrsverwaltung. Aber | |
wenn wir Berlin so schnell wie möglich sicher für Radfahrer machen und | |
dadurch viele Menschen aus dem Auto locken können, bekommen wir mehr | |
Sicherheit, mehr Klimaschutz, weniger Lärm und insgesamt ein lebenswerteres | |
Berlin. | |
Gaebler: Ich glaube, das funktioniert nicht so einfach. Erst einmal muss | |
man sagen, dass es schon in den letzten Jahren Bevölkerungszuwachs gab, | |
aber der Kfz-Anteil am Verkehr zurückgegangen ist. Viele Leute haben eben | |
ein Auto, benutzen es aber nicht oder bewegen es nur eine Stunde am Tag. | |
Die Frage, warum dafür öffentlicher Straßenraum belegt werden muss, ist | |
berechtigt. Aber die These, dass diese Leute ihr Auto abschaffen, wenn ich | |
ihnen noch bessere Fahrradinfrastruktur biete, die funktioniert so einfach | |
nicht. Im Übrigen haben wir jetzt 1,2 Millionen Autos, und die 3 Prozent | |
Fläche für den Radverkehr kann ich statistisch nicht nachvollziehen. | |
Strößenreuther: Sie haben ja auch keine besseren Zahlen, soweit ich weiß. | |
Apropos Parken: 2011 beschloss der frisch gebildete Senat eine „Strategie | |
Parken in Berlin“ – geplante Veröffentlichung: Sommer 2013. Inzwischen | |
heißt es, die Strategie werde „noch in dieser Legislaturperiode“ | |
beschlossen. | |
Herr Strößenreuther, Ihre Forderungen kosten viel Geld. Wie überzeugen Sie | |
die BerlinerInnen davon? | |
Strößenreuther: Berlin gibt für den Radverkehr pro Kopf und Jahr so viel | |
aus, wie ein Weizenbier kostet: 3,80 Euro. Gut, das ist nun ein bisschen | |
gestiegen, vielleicht sind es jetzt 5 Euro. Für den Kfz-Verkehr sind es 80 | |
Euro. | |
Gaebler: Das ist schon mal nicht richtig, weil von diesen 80 Euro 10 oder | |
15 Prozent für den Radverkehr benutzt werden. | |
Strößenreuther: Sagen wir 60 Euro, damit Sie zufrieden sind. Die Ausgaben | |
von Berlins Partnerstädten für den Radverkehr liegen im Schnitt bei 17 Euro | |
pro Kopf und Jahr. Selbst Kopenhagen, das schon eine sehr gute | |
Fahrradinfrastruktur hat, gibt dafür 21 Euro aus. Daran sollten wir uns | |
orientieren. Wir haben die Kosten für den Gesetzentwurf in der ersten | |
Version durchkalkuliert, es kamen rund 320 Millionen Euro heraus. Das | |
entspricht zwischen 12 und 13 Euro, das kann sich eine moderne Stadt | |
leisten. Das Geld ist doch da. Wenn allein die Summen in den Radverkehr | |
fließen würden, die dem Senat durch Planüberschreitungen bei Großprojekten | |
entstehen, hätten wir goldene Radwege. | |
„Das Geld ist ja da“ – mit dem Argument könnte der ADAC ein Volksbegehren | |
für sechsspurige Stadtstraßen starten. | |
Strößenreuther: Wir glauben, dass die Mehrheit der Berliner, die ja im | |
Innenstadtbereich zu über 80 Prozent nicht im Auto sitzen, ein Interesse | |
daran hat, mehr Platz für ihren Verkehr zu bekommen: zu Fuß, per Rad, in | |
Bus und Bahn. Da kann der ADAC gerne probieren, andere Volksentscheide | |
anzuschieben – ich glaube nicht, dass es Mehrheiten dafür gibt. | |
Herr Gaebler, das Volksbegehren läuft demnächst an. Wann genau sind Sie | |
eigentlich nervös geworden? | |
Gaebler: Nervös macht mich das nicht, ich finde ja erst mal gut, wenn | |
Stimmung für mehr Radverkehr gemacht wird und der Druck auf die politischen | |
Kräfte ein wenig steigt. Nicht nervös, aber nachdenklich macht mich, ob | |
dieses Gesetz erreicht, was die Initiatoren propagieren. Ich glaube, es | |
hält an vielen Stellen nicht, was es verspricht, und schafft eher neue | |
Probleme. Und dass es angeblich allen Verkehrsteilnehmern zugutekommt – tut | |
mir leid: Für den Fußverkehr steht kaum mehr drin, als dass Gehwege | |
mindestens 3 Meter breit sein müssen, bevor ich etwas für den Radverkehr | |
abzwacke. Und für den ÖPNV auch nicht, außer dass er bei einer grünen Welle | |
für Radfahrer grundsätzlich ein Vorrecht erhält und dass Busspuren vom | |
Radverkehr freigehalten werden sollen. | |
Aber geht es Ihnen um einzelne Inhalte oder das Gesetz generell? Sie sagen, | |
es ist gut, wenn Sie als Senat etwas Druck kriegen … | |
Gaebler: … das sage ich natürlich nicht als Senat, sondern als | |
Verkehrsstaatssekretär und als Radfahrer. Und ich glaube tatsächlich, dass | |
ein Gesetz an dieser Stelle nicht das richtige Mittel ist. Es geht hier | |
größtenteils um bundesrechtliche Regelungen, deswegen wird ja an vielen | |
Stellen nur mit Sollbestimmungen gearbeitet. Es funktioniert nicht, durch | |
ein Landesgesetz die Abwägungsregelung der StVO außer Kraft zu setzen. | |
Deswegen wird es am Ende eine große Enttäuschung geben, wenn das Gesetz so | |
beschlossen wird und alle feststellen: Da verbessert sich ja gar nichts. | |
Der Haushaltsgesetzgeber ist nicht daran gebunden, aufgrund von | |
Sollbestimmungen in einem Landesgesetz die Gelder auch bereitzustellen. Die | |
Leute, die nicht selbst hinter diesen Zielen stehen, schauen dann genau, | |
was sie davon verbindlich machen müssen und was nicht. Aus meiner Sicht | |
wäre es besser gewesen zu sagen: Ich habe ein bestimmtes Zielpaket für die | |
nächsten fünf oder zehn Jahre, dazu soll sich die Politik vor dem | |
Hintergrund eines drohenden Volksvotums mal erklären. | |
Also eigentlich ist das Gesetz nicht radikal genug? | |
Gaebler: Das Gesetz kann gar nicht radikaler sein, weil die | |
Straßenverkehrsordnung Bundesrecht ist. Deswegen wäre es sinnvoller, eine | |
politische und keine rechtsförmliche Diskussion loszutreten. Im Rahmen | |
eines Volksentscheids über ein Fahrradförderungspaket abzustimmen oder im | |
Rahmen von Gesprächen ein Commitment von der politischen Seite zu | |
erreichen, das hätte einen ganz anderen Wert. | |
Strößenreuther: Jetzt haben Sie sich ganz klar ein paar Hausaufgaben | |
definiert, Herr Gaebler. Wenn Sie sagen, dass die Politik Aussagen machen | |
muss, dann tun Sie das doch. Gehen Sie ins Abgeordnetenhaus und lassen ein | |
entsprechendes Maßnahmenpaket beschließen, dann können wir uns entscheiden, | |
ob wir weitermachen oder nicht. Das wäre tatsächlich mal ein | |
Gegenvorschlag. | |
Gaebler: Ich mache aber hier via Zeitungsinterview keine Gegenvorschläge. | |
Wenn, dann setzen wir uns an anderer Stelle zusammen und reden darüber. Das | |
haben wir beim Mietenvolksentscheid auch gemacht. Die | |
Trial-and-Error-Methode – wir beschließen etwas, und dann sagen Sie, ob | |
Ihnen das passt oder nicht –, das bringt ja nichts. Da müssen Sie sich | |
jetzt auch mal committen, ob Sie überhaupt bereit sind, sich | |
zusammenzusetzen und über ein Maßnahmen- und Umsetzungspaket zu reden. | |
Zur Erinnerung: Anfang 2015 sammelte das Bündnis für einen | |
Mietenvolksentscheid in acht Wochen 30.000 Unterschriften für den Antrag | |
auf ein Volksbegehren. Nötig waren 20.000 in sechs Monaten. Der Senat bekam | |
kalte Füße, die SPD-Fraktion verhandelte mit den Initiatoren. Daraus wurde | |
das „Wohnraumversorgungsgesetz“. | |
Committen Sie sich, Herr Strößenreuther? | |
Strößenreuther: Wir haben ein sehr klares Gesetz vorgelegt, im Prinzip die | |
Radverkehrsstrategie, aber mit konkreten Zeitpunkten und Zielzahlen. Was | |
wir sehen wollen, bevor wir uns an den Verhandlungstisch setzen, ist Ihr | |
Vorschlag, was genau Sie in den nächsten sieben Jahren machen wollen – und | |
dass Sie es ernst meinen. Das würden wir gern an einigen Punkten konkret | |
machen. Dass Sie ein paar rechtsfreie Räume für drei Wochen wieder in den | |
Griff kriegen, beispielsweise das Falschparken in der Oranienstraße | |
verhindern. Und wenn Sie sagen, die Politik solle sich committen, auch da | |
haben wir einen Vorschlag: Lassen Sie den Rat der Bürgermeister sagen, dass | |
er mehr für den Radverkehr tun will als bisher. Der dritte Punkt wäre, | |
konkret zu sagen: Was wollen Sie bis 2025 erreicht haben: 350 Kilometer | |
Fahrradstraßen oder 35? Wie viele neue Abstellplätze? Werden Sie konkret, | |
dann haben wir etwas, worüber wir verhandeln können. | |
Gaebler: Ich wundere mich über diese Kriterien. Der Rat der Bürgermeister | |
kann Ihnen viel versprechen, er ist nicht zuständig. Die | |
Bezirksbürgermeister haben kein Weisungsrecht gegenüber ihren | |
Fachdezernenten, die machen ihr Ding, je nach Überzeugung und je nachdem, | |
was die BVV ihnen an Mitteln gibt. Die Tiefbauämter kriegen in der Regel | |
kein Personal, weil alles in den Kita- und Bildungsbereich geht. Sprich: | |
Ihr Gesetz ignoriert die Verwaltungsrealität. Im Übrigen wollten wir ja | |
zwei Stellen mehr für jeden Bezirk: Das hat aber der Hauptausschuss des | |
Abgeordnetenhauses nicht bewilligt. Und wenn Sie sich über die CDU | |
Steglitz-Zehlendorf freuen, weil die einen Radschnellweg entlang der | |
Stammbahntrasse toll findet, dann schauen Sie mal, was die Vertreter dieser | |
Partei im Hauptausschuss gemacht haben: Sie haben alle Radverkehrsanlagen | |
ein halbes Jahr lang verzögert. | |
Strößenreuther: Das Radverkehrsgesetz ist ein Auftrag an die Exekutive. Wie | |
Sie das umsetzen, ist Ihre Aufgabe. Ich bin ein einfacher Bürger, ich zahle | |
gern meine Steuern. | |
Gaebler: Am Ende wird Ihr Gesetz aber nicht mehr bewirken als die bisherige | |
Radverkehrsstrategie. Es wird dann Schritt für Schritt umgesetzt, nach | |
Maßgabe der Ressourcen. Es steht ja nicht mal etwas Einklagbares drin. | |
Strößenreuther: Sie kündigen also schon an, dass Sie das Gesetz nicht | |
umsetzen wollen? | |
Gaebler: Das habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt, dass ich es nicht | |
umsetzen kann, wenn ich das Geld nicht habe, wenn die Freigaben der | |
Parlamentarier nicht erfolgen, wenn ich die Ressourcen in den Bezirken | |
nicht bekomme. | |
Dann senden Sie jetzt an die Wählerinnen und Wähler die Botschaft: Ob Sie | |
abstimmen, ist im Grunde egal. | |
Gaebler: Ich sende erst einmal an die Initiatoren des Volksentscheids das | |
Signal: Lasst uns überlegen, wie wir das, was ihr wollt, in eine Struktur | |
kriegen, die realistisch ist und die Umsetzung absichert. | |
Strößenreuther: Wir haben den Gesetzentwurf mit Juristen und | |
Verkehrsexperten diskutiert, wir haben auch jede Menge Insider-Gespräche | |
mit Experten aus Ihrem Hause und den Bezirken geführt. Die Ergebnisse sind | |
hier drin. Übrigens hätten Sie in den drei Monaten, in denen wir den ersten | |
Entwurf öffentlich gemacht haben, eine wunderbare Chance gehabt, Dinge so | |
zu korrigieren, dass es nachher gut klappt. Die haben Sie nicht | |
wahrgenommen. Insofern bin ich verwundert, dass Sie jetzt fordern, wir | |
sollten da noch mal drüber diskutieren. | |
Gaebler: Warum sollen wir Sie bei einer Maßnahme beraten, die wir für die | |
falsche halten? | |
Strößenreuther: Dann brauchen wir auch nicht zu verhandeln, oder? | |
Gaebler: Nein, jetzt haben Sie ja ein Gesetz vorgelegt, damit werden wir | |
uns auch beschäftigen. Wir werden sehen, was man daraus für ein | |
Alternativpaket nehmen kann, was dann auch mit Zeit- und Finanzplan | |
untersetzt ist – wie beim Mietenvolksbegehren. Was dessen Initiatoren | |
wollten, wäre übrigens auch ins Leere gelaufen. | |
Wie lange werden Sie für die ersten 20.000 Unterschriften brauchen? | |
Strößenreuther: Höchstens einen Monat. Und ich gehe davon aus, dass sich | |
die Mehrheit der Berliner im September 2017 für eine moderne | |
Verkehrspolitik entscheidet. | |
Glauben Sie das auch, Herr Gaebler? | |
Gaebler: Unter der Überschrift „Wir wollen was für Radler tun“ kriegt man | |
20.000 und auch 170.000 Unterschriften zusammen. Ob in der stadtweiten | |
Abstimmung eine Mehrheit dafür steht, kann ich nicht sagen. Da wird es wohl | |
zugespitzt auf „Autofahrer gegen Radfahrer“ – und da könnte man mit einem | |
Volksentscheid auch scheitern. Es wäre ja gleichzeitig Bundestagswahl, da | |
gehen auch die Menschen aus den Außenbezirken zur Wahl, die eher auf das | |
Auto angewiesen sind. | |
18 May 2016 | |
## AUTOREN | |
Claudius Prößer | |
Bert Schulz | |
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